Riley hörte, wie beide Mütter anfingen zu weinen. Sie hasste es, diese schrecklichen Erinnerungen wieder aufzuwühlen, aber sie hatte schlicht keine andere Wahl.
"Wir dürfen ihre Angst, ihr Entsetzen nicht vergessen", sagte Riley. "Und wir dürfen nicht vergessen, dass Mullins während der Verhandlungen kaum Emotionen und sicherlich kein Anzeichen für Reue gezeigt hat. Seine Reue kam sehr, sehr viel später – wenn sie überhaupt real ist."
Riley atmete tief durch.
"Wie viele Jahre hat er diesen Jungen genommen, wenn man sie zusammenzählt? Sehr viel mehr als hundert, wie es mir scheint. Er wurde zu dreißig Jahren verurteilt. Er hat nur fünfzehn davon abgebüßt. Das ist nicht genug. Er kann nicht lange genug leben, um all diese verlorenen Jahre zurückzuzahlen."
Rileys Stimme zitterte jetzt. Sie wusste, dass sie sich unter Kontrolle halten musste. Sie konnte nicht in Tränen ausbrechen oder vor Wut schreien.
"Ist es an der Zeit Larry Mullins zu vergeben? Das überlasse ich den Familien der Jungen. Es geht bei dieser Anhörung nicht um Vergebung. Das ist nicht der Punkt. Viel wichtiger ist, dass er immer noch eine Gefahr darstellt. Wir können nicht riskieren, dass mehr Kinder durch seine Hand sterben."
Riley bemerkte, wie einige Leute des Bewährungsausschusses auf ihre Uhren sahen. Sie geriet leicht in Panik. Der Ausschuss hatte bereits zwei andere Fälle an diesem Morgen angehört und würde vier weitere vor dem Mittagessen anhören müssen. Sie wurden ungeduldig. Riley musste die Sache sofort abschließen. Sie sah sie direkt an.
"Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie inständig dieser Bewährung nicht zuzustimmen."
Dann sagte sie, "Vielleicht möchte jemand anderes für den Gefangenen aussagen."
Riley setzte sich. Ihre letzten Worte waren zweischneidig. Sie wusste sehr gut, dass niemand hier war, um zu Mullins' Gunsten auszusagen. Trotz all seiner 'guten Führung' hatte er nicht einen Freund oder Verteidiger. Weder, dachte Riley, verdiente er einen.
"Möchte noch jemand eine Aussage machen?" fragte die leitende Beamtin.
"Ich möchte ein paar Worte hinzufügen", meldete sich eine Stimme von der Rückseite des Raumes.
Riley schnappte nach Luft. Sie kannte die Stimme gut.
Sie wirbelte in ihrem Sitz herum und sah den vertrauten Mann mit der breiten Brust, der hinten im Raum stand. Es war Jake Crivaro – die letzte Person, die sie heute hier erwartet hatte. Riley war erfreut und überrascht.
Jake kam nach vorne und nannte seinen Namen und Rang für die Mitglieder des Ausschusses, bevor er sagte, "Ich kann Ihnen sagen, dass dieser Mann ein meisterhafter Manipulator ist. Glauben Sie ihm nicht. Er lügt. Er hat keine Reue gezeigt, als wir ihn geschnappt haben. Was Sie hier sehen ist nur gespielt."
Jake ging direkt zu dem Tisch hinüber und lehnte sich zu Mullins.
"Ich wette du hast nicht erwartet, mich heute hier zu sehen", sagte er, seine Stimme voller Abscheu. "Das hätte ich um keinen Preis verpasst – du Kinder-mordendes kleines, schlüpfriges Arschloch."
Die Beamtin schlug mit ihrem Hammer auf den Tisch.
"Ordnung!" rief sie.
"Oh, es tut mir leid", sagte Jake ironisch. "Ich wollte unseren vorbildlichen Gefangenen nicht beleidigen. Schließlich ist er jetzt rehabilitiert. Er ist jetzt ein reumütiges Kinder-mordendes, kleines, schlüpfriges Arschloch."
Jake stand einfach da und sah auf Mullins hinunter. Riley beobachtete die Gesichtszüge des Gefangenen. Sie wusste, dass Jake sein Bestes tat, um einen Ausbruch von Mullins zu provozieren. Aber das Gesicht des Gefangenen blieb steinern und ruhig.
"Herr Crivaro, bitte setzen Sie sich hin", befahl die Beamtin. "Der Ausschuss trifft jetzt seine Entscheidung."
Die Mitglieder steckten die Köpfe zusammen und teilten ihre Notizen und Gedanken. Das Flüstern war lebhaft und angespannt. Währenddessen konnte Riley nichts anderes tun, als zu warten.
Donald und Melanie Betts weinten. Darla Harter schluchzte, und ihr Mann, Ross, hielt ihre Hand. Er starrte Riley durchdringend an. Sein Blick schnitt durch sie wie ein Messer. Was dachte er über die Aussage, die sie gerade gemacht hatte? Dachte er, dass es ihre Verfehlungen all diese Jahre zurück wieder gutmachte?
Der Raum war zu warm und sie fühlte, wie ihr Schweiß ausbrach. Ihr Herz schlug ängstlich.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Gruppe sich wieder trennte. Eines der Mitglieder flüsterte der Beamtin etwas zu. Sie drehte sich zurück und wandte sich wieder an die versammelten Menschen.
"Bewährung ist abgelehnt", sagte sie. "Lassen Sie uns mit dem nächsten Fall fortfahren."
Riley keuchte bei der Direktheit der Frau unwillkürlich auf, als wäre der Fall nichts anderes als ein Strafzettel für Falschparken. Aber sie ermahnte sich, dass der Ausschuss nur in Eile war, mit den restlichen Fällen des Morgens fortzufahren.
Riley stand auf und beide Pärchen kamen auf sie zugeeilt. Melanie Betts warf sich in Rileys Arme.
"Oh, danke, danke, danke, ..." sagte sie immer wieder.
Die anderen drei Eltern reihten sich um sie, lächelten durch ihre Tränen und sagten immer wieder 'Danke.'
Sie sah, dass Jake vor dem Saal im Flur stand. Sobald sie konnte, ließ sie die Eltern stehen und rannte auf ihn zu.
"Jake!" rief sie, während sie ihm eine Umarmung gab. "Wie lange ist es her?"
"Zu lange", sagte Jake mit seinem schiefen Lächeln. "Ihr Kinder schreibt nie und ruft nie an."
Riley seufzte. Jake hatte sie immer wie eine Tochter behandelt. Und er hatte Recht, dass sie hätte in Kontakt bleiben sollen.
"Also, wie geht es dir?" fragte sie.
"Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt", erwiderte er. "Beide Knie und eine Hüfte wurden ausgetauscht. Meine Augen sind hinüber. Ich habe ein Hörgerät und einen Schrittmacher. Alle meine Freunde, außer dir, sind draufgegangen. Wie denkst du, dass es mir geht?"
Riley lächelte. Er war stark gealtert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Trotzdem sah er bei weitem nicht so gebrechlich aus, wie er sich selber darstellte. Sie war sich sicher, dass er immer noch seinen Job machen könnte, wenn er gebraucht würde.
"Nun, ich bin froh, dass du sie überreden konntest dich hier hereinzulassen", sagte sie.
"Das sollte dich nicht überraschen", sagte Jake. "Ich bin ein mindestens so guter Redner wie dieser Bastard Mullins."
"Deine Aussage hat wirklich geholfen", sagte Riley.
Jake zuckte mit den Achseln. "Ich wünschte, ich hätte ihn zu einem Ausbruch bewegen können. Es wäre schön gewesen zu sehen, wie er vor dem Ausschuss die Beherrschung verliert. Aber er ist kälter und klüger, als ich ihn in Erinnerung habe. Vielleicht hat der Knast ihm das beigebracht. Wie auch immer, wir haben auch so eine gute Entscheidung bekommen. Vielleicht bleibt er jetzt endgültig hinter Gittern."
Riley schwieg einen Moment. Jake warf ihr einen neugierigen Blick zu.
"Gibt es etwas, das du mir nicht sagst?" fragte er.
"Ich fürchte, es ist nicht so einfach", seufzte Riley. "Wenn Mullins weiter Punkte für gutes Verhalten sammelt, dann wird seine vorzeitig Entlassung im nächsten Jahr wahrscheinlich unumgänglich. Es gibt nichts, was du oder ich oder sonst irgendjemand dagegen tun kann."
"Verdammt", sagte Jake und sah dabei genauso bitter und wütend aus, wie vor all den Jahren zuvor.
Riley wusste, wie er sich fühlte. Es brach ihr das Herz sich vorzustellen, dass Mullins freigelassen wird. Der heutige Sieg schien sehr viel bitterer als süß.
"Nun, ich muss los", sagte Jake. "Es war schön, dich zu sehen."
Riley sah traurig zu, wie ihr alter Partner ging. Sie verstand, warum er nicht bleiben und die negativen Gefühle weiter vertiefen wollte. Das war nicht seine Art. Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, ihn bald wieder anzurufen.
Sie versuchte auch eine positive Seite an dem gerade Geschehen zu finden. Nach fünfzehn langen Jahren hatten die Bettses und Harters ihr endlich vergeben. Aber Riley hatte nicht das Gefühl, ihre Vergebung mehr zu verdienen als Larry Mullins.
In dem Moment wurde Larry Mullins in Handschellen aus dem Saal geführt.
Er drehte sich zu ihr, lächelte breit und formte seine bösen Worte lautlos.
"Bis nächstes Jahr."
KAPITEL SIEBEN
Riley saß in ihrem Auto auf dem Weg zurück nach Hause, als sie den Anruf von Bill bekam. Sie stellte ihr Telefon auf Lautsprecher.
"Was gibt's?" fragte sie.
"Wir haben eine weitere Leiche gefunden", sagte er. "In Delaware."
"War es Meara Keagan?" fragte Riley.
"Nein. Wir haben das Opfer noch nicht identifiziert. Sie sieht aus wie die anderen beiden, nur schlimmer."
Riley ließ diese Fakten auf sich wirken. Meara Keagan wurde noch immer gefangen gehalten. Der Mörder könnte auch noch andere Frauen festhalten. Es war so gut wie sicher, dass die Morde nicht aufhören würden. Niemand wusste, wie viele es noch geben würde.
Bills Stimme war aufgebracht.
"Riley, ich drehe hier durch", sagte er. "Ich weiß, dass ich nicht klar denken kann. Lucy ist eine große Hilfe, aber sie ist immer noch ein Frischling."
Riley verstand gut, wie er sich fühlte. Die Ironie war fast spürbar. Hier war sie und machte sich Vorwürfe wegen dem Larry Mullins Fall. Währenddessen war Bill in Delaware und hatte das Gefühl, als hätten seine vergangenen Verfehlungen das Leben einer dritten Frau gekostet.
Riley dachte an die Fahrt zu Bill, wo auch immer er gerade war. Es würde vermutlich knapp drei Stunden dauern, dort hinzukommen.
"Bist du fertig bei dir?" fragte Bill.
Riley hatte sowohl Bill, als auch Brent Meredith informiert, dass sie für die Anhörung in Maryland sein würde.
"Ja", sagte sie.
"Gut", erwiderte Bill. "Ich schicke einen Helikopter, um dich abzuholen."
"Bitte was?" fragte Riley mit einem Luftschnappen.
"In deiner Nähe ist ein privater Flugplatz. Ich texte dir die Adresse. Der Helikopter ist wahrscheinlich schon da. Ein Kadett ist an Bord, der dein Auto zurückfahren wird."
Ohne ein weiteres Wort beendete Bill seinen Anruf.
Riley fuhr schweigend weiter. Sie war erleichtert gewesen, nachdem die Anhörung am Morgen geendet hatte. Sie wollte zu Hause sein, wenn ihre Tochter aus der Schule kam. Gestern hatte es keine weiteren Streits gegeben, aber April hatte auch nicht viel gesagt. Heute Morgen war Riley losgefahren, bevor April aufgewacht war.
Aber die Entscheidung war offenbar für sie getroffen worden. Bereit oder nicht, sie würde an dem neuen Fall arbeiten. Das Gespräch mit April würde bis später warten müssen.
Aber sie musste nicht lange nachdenken, bevor es ihr richtig erschien. Sie drehte um und folgte den Anweisungen, die Bill ihr geschickt hatte. Die beste Heilung für ihr Gefühl des Versagens war es, einen anderen Mörder zur Strecke zu bringen.
Es war an der Zeit.
*
Riley starrte auf das tote Mädchen, das auf dem hölzernen Pavillonboden lag. Es war ein heller, kühler Morgen. Der Pavillon stand in der Mitte des Marktplatzes der Stadt, umgeben von ordentlich gepflegtem Rasen und Bäumen.
Das Opfer sah den Mädchen auf den anderen Fotos erschreckend ähnlich, die Riley von den ersten beiden Opfern gesehen hatte. Sie lag mit dem Gesicht nach oben und war so ausgemergelt, dass sie geradezu mumifiziert wirkte. Ihre dreckigen, zerrissenen Kleider hatten ihr vielleicht einmal gepasst, aber schienen nun auf groteske Weise zu groß zu sein. Sie hatte alte Narben und noch mehr neue Wunden, von etwas, das nach Peitschenschlägen aussah.
Riley nahm an, dass es sie etwa siebzehn Jahre alt war, das gleiche Alter der anderen beiden Opfer.
Oder vielleicht auch nicht, dachte sie.
Schließlich war Meara Keagan vierundzwanzig. Der Mörder könnte seine MO ändern. Das Mädchen war zu eingefallen, um das Alter mit Bestimmtheit sagen zu können.
Riley stand zwischen Bill und Lucy.
"Sie sieht aus, als wäre sie länger ausgehungert worden als die anderen beiden", bemerkte Bill. "Er muss sie deutlich länger behalten haben."
Riley hörte eine Welt von Selbstvorwürfen in Bills Worten. Sie sah ihren Partner an. Die Verbitterung zeigte sich auf seinem Gesicht. Riley wusste, was Bill dachte. Das Mädchen musste noch am Leben und gefangen gewesen sein, als er den Fall untersucht und keine Spuren hatte finden können. Er gab sich für ihren Tod die Schuld.
Riley wusste, dass er sich nicht die Schuld geben sollte. Gleichzeitig fiel ihr aber auch nichts ein, was sie sagen konnte, damit er sich besser fühlte. Ihre eigenen Vorwürfe wegen des Larry Mullins Falles hinterließen einen bitteren Nachgeschmack.
Riley drehte sich um und nahm ihre Umgebung in sich auf. Von hier aus war das einzige vollständig sichtbare Gebäude das Gerichtsgebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite – ein großes Backsteingebäude mit einem Uhrenturm. Redditch war eine charmante kleine Kolonialstadt. Riley war nicht überrascht, dass die Leiche mitten in der Nacht hergebracht werden konnte, ohne dass es jemand bemerkte. Die ganze Stadt hatte tief und fest geschlafen. Der Platz war von Bürgersteigen umgeben, also hatte der Mörder keine Fußspuren hinterlassen.
Die örtliche Polizei hatte den Platz abgesperrt und hielt Zuschauer ab. Aber Riley konnte sehen, dass sich an den Absperrbändern einige Reporter versammelt hatten.
Sie war besorgt. Bis jetzt hatte die Presse die ersten beiden Morde noch nicht mit Meara Keagans Verschwinden in Verbindung gebracht. Aber mit diesem neuen Mord konnte es nicht lange dauern, bis jemand eins und eins zusammenzählte. Die Öffentlichkeit würde es früher oder später erfahren. Das würde die Ermittlungen deutlich erschweren.
Neben ihnen stand der Polizeichef von Redditch, Aaron Pomeroy.
"Wie und wann wurde die Leiche gefunden?" fragte Riley ihn.
"Wir haben einen Straßenkehrer, der bei Tagesanbruch seine Arbeit beginnt. Er hat sie gefunden."
Pomeroy sah erschüttert aus. Er war ein übergewichtiger, alternder Mann. Riley war sich sicher, dass selbst in einer so kleinen Stadt, ein Polizist in seinem Alter ein bis zwei Morde in seiner Laufbahn hatte aufklären müssen. Aber er hatte vermutlich niemals mit etwas so Verstörendem zu tun gehabt.
Agentin Lucy Vargas hockte neben der Leiche und betrachtete sie aufmerksam.
"Unser Mörder ist erstaunlich selbstbewusst", sagte Lucy.
"Wieso meinst du das?" fragte Riley.
"Nun ja, er stellt die Leichen für alle zur Schau", sagte sie. "Metta Lunoe wurde in einem offenen Feld gefunden, Valerie Bruner neben einer Straße. Nur etwa die Hälfte aller Serienmörder bringt die Opfer weg vom Tatort. Von denen wiederum nur etwa die Hälfte sie versteckt. Und die meisten Leichen, die leicht auffindbar sind, wurden einfach entsorgt. Diese Art von Zurschaustellung legt nahe, dass er ziemlich eingebildet ist."
Riley war zufrieden, dass Lucy so gut aufgepasst hatte. Aber etwas sagte ihr, dass Arroganz zeigen nicht die Absicht des Mörders war. Er versuchte nicht anzugeben oder die Behörden zu verspotten. Er hatte etwas anderes vor. Riley wusste nur nicht genau, was.
Aber sie war sich sehr sicher, dass es etwas damit zu tun hatte, wie die Leichen drapiert wurden. Es wirkte sowohl unbeholfen, als auch absichtlich. Der linke Arm des Mädchens war gerade über ihrem Kopf ausgestreckt. Ihr rechter Arm war ebenfalls gerade, aber leicht zu einer Seite ihres Körpers geneigt. Selbst der Kopf, mit seinem gebrochenen Genick, war gerade gerückt worden, um so gut wie möglich auf einer Linie mit dem Körper zu sein.