Sie streckte ihre Hand aus und berührte leicht Blaines. Er nahm ihre Hand und drückte sie. Riley spürte eine angenehme Spannung zwischen ihnen. Für einen Moment dachte sie, dass sie vielleicht eine Weile hier bei Blaine bleiben könnte, jetzt, wo ihre beiden Kinder anderweitig beschäftigt waren. Vielleicht könnte sie ...
Aber noch bevor der Gedanke Form annehmen konnte, spürte sie, wie sie sich von ihm zurückzog. Sie war noch nicht bereit, sich auf diese frischen, neuen Gefühle einzulassen.
Sie zog sanft ihre Hand zurück.
"Danke", sagte sie. "Ich sollte besser nach Hause gehen. Vielleicht ist April sogar schon wieder da."
Sie verabschiedete sich von Blaine. Sobald sie aus der Tür trat, vibrierte ihr Telefon. Es war eine Nachricht von April.
Hab' gerade erst deine Nachricht bekommen. Sorry, dass ich mich so verhalten habe. Bin im Café. Bin bald wieder zurück.
Riley seufzte. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Es schien ihr die beste Lösung zu sein, gar nicht zu antworten. Sie und April würden sich nachher ernsthaft unterhalten müssen.
Riley hatte die Haustür noch nicht ganz hinter sich geschlossen, als ihr Telefon wieder vibrierte. Es war ein Anruf von Ryan. Ihr Ex war der Letzte, mit dem sie gerade reden wollte. Aber sie wusste, dass er nur weiter Nachrichten hinterlassen würde, wenn sie nicht mit ihm sprach. Sie nahm ab.
"Was willst du, Ryan?" fragte sie kurz angebunden.
"Ist das gerade ein schlechter Zeitpunkt?"
Riley wollte sagen, dass es immer ein schlechter Zeitpunkt war, soweit es ihn betraf. Aber sie behielt den Gedanken für sich.
"Nein, ist schon okay", sagte sie.
"Ich habe darüber nachgedacht vorbeizukommen, um dich und April zu sehen", sagte er. "Ich möchte mit euch beiden reden."
Riley unterdrückte ein Stöhnen. "Das passt mir gerade nicht wirklich."
"Ich dachte du hast gesagt, dass es kein schlechter Zeitpunkt ist."
Riley antwortete nicht. Das sah Ryan ähnlich, ihr die Worte im Mund umzudrehen, um sie zu manipulieren.
"Wie geht es April?" fragte Ryan, als sie nicht antwortete.
Sie konnte gerade noch ein Lachen unterdrücken. Sie wusste, dass er nur versuchte, ein Gespräch in Gang zu bekommen.
"Nett, dass du fragst", erwiderte sie sarkastisch. "Es geht ihr gut."
Das war natürlich eine Lüge. Aber Ryan in die Probleme zu ziehen, würde die Sache nur noch schlimmer machen.
"Hör zu, Riley ...", Ryans Stimme verlor sich. "Ich habe viele Fehler gemacht."
Ach was, dachte Riley. Sie schwieg.
Nach einem kurzen Augenblick sagte Ryan, "In letzter Zeit läuft es nicht so gut für mich."
Riley sagte immer noch nichts.
"Na ja, ich wollte nur sichergehen, dass es dir und April gut geht."
Riley konnte seine Dreistigkeit kaum fassen.
"Es geht uns gut. Warum fragst du? Hat dich eine deiner neuen Freundinnen verlassen, Ryan? Oder läuft es nicht so wie du willst im Büro?"
"Du bist zu hart zu mir, Riley."
So wie sie das sah, war sie so freundlich, wie sie nur sein konnte. Sie verstand die Situation. Ryan war wahrscheinlich gerade einsam. Die Society-Frau, die bei ihm nach der Scheidung eingezogen war, hatte ihn vermutlich verlassen, oder eine neuere Affäre war schief gegangen.
Sie wusste, dass Ryan es nicht aushalten konnte, alleine zu sein. Er würde sich immer als letzten Ausweg an Riley und April wenden. Wenn sie ihn zurückkommen lassen würde, konnte das nur anhalten, bis ihm die nächste Frau ins Auge fiel.
Riley sagte, "Ich denke, dass du die Sache mit deiner letzten Freundin wieder in Ordnung bringen solltest. Oder der davor. Ich weiß nicht einmal, wie viele du seit unserer Scheidung durch hast. Wie viele, Ryan?"
Sie hörte ein leichtes Nach-Luft-schnappen am anderen Ende. Riley hatte einen Nerv getroffen.
"Ryan, um ehrlich zu sein, das ist gerade tatsächlich kein guter Zeitpunkt."
Das war die Wahrheit. Sie hatte einen angenehmen Besuch gehabt, bei einem Mann, den sie mochte. Warum das jetzt verderben?
"Wann ist dann eine gute Zeit?" fragte Ryan.
"Ich weiß es nicht", sagte Riley. "Ich sage dir Bescheid. Tschüss."
Sie beendete den Anruf. Während des Gesprächs war sie auf und ab gelaufen. Sie setzte sich hin und atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen.
Dann schickte sie April eine Nachricht.
Du solltest besser gleich nach Hause kommen.
Es dauerte nur Sekunden, bis eine Antwort kam.
OK. Ich bin auf dem Weg. Es tut mir leid, Mom.
Riley seufzte. April klang wieder normal. Sie würde vermutlich eine Weile so bleiben. Aber etwas stimmte nicht.
Was war nur mit ihr los?
KAPITEL FÜNF
In seinem spärlich beleuchteten Versteck raste Scratch zwischen den hunderten Uhren hin und her, in seinem Versuch alles vorzubereiten. Es war kurz vor Mitternacht.
"Die mit dem Pferd drauf!" rief Großvater. "Die ist eine ganze Minute hinter den anderen!"
"Mache ich gleich", erwiderte Scratch.
Scratch wusste, dass er so oder so bestraft werden würde, aber es würde besonders schlimm sein, wenn er nicht alles rechtzeitig vorbereiten konnte. Jetzt gerade hatte er mit den Uhren alle Hände voll zu tun.
Er stellte die Uhr mit den verschnörkelten Blumen aus Metall, die ganze fünf Minuten nachging. Dann öffnete er eine Standuhr und bewegte den Minutenzeiger nur ein klein wenig nach rechts.
Er überprüfte die große Uhr mit dem Hirschgeweih. Sie ging oft nach, aber jetzt schien alles in Ordnung zu sein. Schließlich kam er dazu, die Uhr mit dem steigenden Pferd einzustellen. Das war auch gut so. Sie ging ganze sieben Minuten nach.
"Das muss reichen", grummelte Großvater. "Du weißt, was du als Nächstes zu tun hast."
Scratch ging gehorsam zum Tisch und hob die Peitsche auf. Es war eine neunschwänzige Katze, die gleiche, mit der Großvater ihn geschlagen hatte – länger als er denken konnte.
Er ging zum Ende des Verstecks, das durch einen Maschendrahtzaun abgetrennt war. Hinter dem Zaun waren die vier weiblichen Gefangenen, ohne jeglichen Möbel, außer den hölzernen Feldbetten ohne Matratze. Hinter ihnen war eine Besenkammer, in der sie sich erleichterten. Der Gestank hatte schon vor einer Weile aufgehört, ihn zu stören.
Die irische Frau, die er vor einigen Nächten geschnappt hatte, beobachtete ihn vorsichtig. Nach ihrer langen Diät von Wasser und Brotkrumen, waren die anderen ausgemergelt und lethargisch. Zwei von ihnen taten nicht mehr als weinen und stöhnen. Die vierte saß einfach auf dem Boden, in der Nähe der Exkremente, eingesunken und skelettartig. Sie gab keinen Laut von sich. Sie sah kaum noch lebendig aus.
Scratch öffnete die Tür zu dem Käfig. Die irische Frau sprang nach vorne und versuchte zu entkommen. Scratch schlug ihr hart mit der Peitsche ins Gesicht. Sie zuckte zusammen und drehte sich weg. Er schlug ihr immer wieder auf den Rücken. Er wusste aus Erfahrung, dass es auch durch ihre zerrissene Bluse ausreichend schmerzen würde, vor allem auf ihren Schwellungen und Schnitten, die er ihr bereits zugefügt hatte.
Dann erfüllte ein lautes Tosen die Luft, als all die Uhren gleichzeitig anfingen zu schlagen und Mitternacht anzeigten. Scratch wusste, was er jetzt tun musste.
Während der Lärm weiterging, eilte er zu der schwächsten und dünnsten Frau, die eine, die kaum noch lebendig erschien. Sie sah ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Sie war die einzige, die schon lange genug hier war, um zu wissen, was er als Nächstes tun würde. Sie sah fast so aus, als wäre sie dafür bereit, als würde sie es sogar willkommen heißen.
Scratch hatte keine Wahl.
Er hockte sich neben sie und brach ihr das Genick.
Während das Leben ihren Körper verließ, starrte er auf die verzierte, antike Uhr, die gleich auf der anderen Seite des Gitters stand. Ein handgeschnitzter Tod ging auf der Vorderseite hin und her, gekleidet in eine schwarze Robe, sein grinsendes Schädelgesicht unter seiner Kapuze hervorblickend. Er beendete das Leben von Rittern und Königen und Königinnen und Bauern ohne Unterschied. Es war Scratchs' Lieblingsuhr.
Der Lärm erstarb langsam. Bald waren nur noch der Chor der tickenden Uhren und das Wimmern der noch lebenden Frauen zu hören.
Scratch warf sich die tote Frau über die Schulter. Sie war so federleicht, dass es ihn keinerlei Anstrengung kostete. Er öffnete den Käfig, trat nach draußen, und schloss hinter sich wieder ab.
Die Zeit, so wusste er, war gekommen.
KAPITEL SECHS
Eine ziemlich gute Vorstellung, dachte Riley.
Larry Mullins' Stimme zitterte ein wenig. Während er seine vorbereitete Rede vor dem Bewährungsausschuss und den Familien seiner Opfer beendete, klang er, als stünde er kurz vor den Tränen.
"Ich hatte fünfzehn Jahre, um zurückzublicken", sagte Mullins. "Kein Tag vergeht, an dem ich nicht mit Reue erfüllt bin. Ich kann nicht zurückgehen und ändern, was passiert ist. Ich kann Nathan Betts und Ian Harter nicht wieder zum Leben erwecken. Aber ich habe immer noch Jahre vor mir, in denen ich einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann. Bitte geben Sie mir die Möglichkeit, das zu tun."
Mullins setzte sich. Sein Anwalt reichte ihm ein Taschentuch, und er wischte sich die Augen – auch wenn Riley keine tatsächlichen Tränen sehen konnte.
Die Beamtin, die die Anhörung leitete und der Sachbearbeiter unterhielten sich flüsternd. Ebenso taten es die Mitglieder des Bewährungsausschusses.
Riley wusste, dass sie bald an der Reihe war auszusagen. Währenddessen studierte sie aufmerksam Mullins' Gesicht.
Sie erinnerte sich gut an ihn und dachte, dass er sich nicht sehr verändert hatte. Selbst damals war er gut gepflegt gewesen und hatte gewusst, sich mit einem Gefühl ernsthafter Unschuld zu artikulieren. Wenn er jetzt abgehärteter war, dann versteckte er es hinter einem Ausdruck demütigen Bedauerns. Damals hatte er als männliches Kindermädchen gearbeitet.
Was Riley am meisten überraschte, war wie wenig er gealtert zu sein schien. Als er ins Gefängnis kam, war er fünfundzwanzig gewesen. Er hatte noch immer den gleichen, freundlichen, jungenhaften Ausdruck, wie schon damals.
Das gleiche konnte man nicht von den Eltern der Opfer sagen. Die beiden Paare sahen aus, als wären sie vorzeitig gealtert und ihr Geist gebrochen. Rileys Herz flog ihnen entgegen, für all die Jahre der Trauer und des Schmerzes.
Sie wünschte sich, sie hätte ihnen von Anfang an Gerechtigkeit widerfahren lassen können. Das hatte sich auch ihr erster FBI Partner, Jake Crivaro, gewünscht. Es war einer von Rileys ersten Fällen als Agent gewesen und Jake war ein herausragender Mentor.
Larry Mullins war für den Tod eines Kindes auf einem Spielplatz verhaftet worden. Während ihrer Untersuchungen hatten Riley und Jake herausgefunden, dass noch ein weiteres Kind, in einer anderen Stadt, unter fast identischen Umständen gestorben war, während es sich unter Mullins' Aufsicht befand. Beide Kinder waren erstickt worden.
Als Riley ihn gestellt, ihm seine Rechte vorgelesen, und ihm Handschellen angelegt hatte, bezeugten sein Grinsen und seine Schadenfreude ihr seine Schuld.
"Viel Glück", hatte er sarkastisch zu ihr gesagt.
Tatsächlich hatte sich das Glück gegen Riley und Jake gewandt, sobald Mullins verhaftet war. Er hatte immer wieder bestritten die Morde begangen zu haben. Und trotz Rileys und Jakes größtem Bemühen, blieben die Beweise gegen ihn gefährlich dünn. Es war unmöglich gewesen, mit Sicherheit festzustellen, wie die Jungen erstickt worden waren und es konnte keine Mordwaffe sichergestellt werden. Mullins selbst gab nur zu, dass er sie aus den Augen gelassen hatte. Er bestritt, sie ermordet zu haben.
Riley erinnerte sich an etwas, das der Staatsanwalt zu ihr und Jake gesagt hatte.
"Wir müssen vorsichtig sein, sonst kommt der Bastard davon. Wenn wir versuchen ihn in allen Fällen anzuklagen, verlieren wir den ganzen Fall. Wir können nicht beweisen, dass Mullins die einzige Person ist, die Zugang zu den Kindern hatte, als sie ermordet wurden."
Dann kam die Vergleichsverhandlung. Riley hasste diesen Teil. Ihr Hass hatte mit diesem Fall begonnen. Mullins Anwalt hatte einen Deal angeboten. Mullins würde sich für beide Morde schuldig bekennen, aber nicht als vorsätzliche Morde, und seine Strafe würde gleichzeitig abgesessen werden.
Es war ein lausiger Deal. Es ergab nicht einmal Sinn. Wenn Mullins die Kinder wirklich getötet hatte, wie konnte er dann gleichzeitig nur fahrlässig gewesen sein? Die beiden Folgerungen schlossen sich aus. Aber der Staatsanwalt sah keine andere Wahl und akzeptierte den Deal. Mullins wurde schließlich zu dreißig Jahren Haft verurteilt, mit der Möglichkeit auf Bewährung oder vorzeitige Entlassung bei guter Führung.
Die Familien waren am Boden zerstört gewesen. Sie gaben Riley und Jake die Schuld dafür. Jake war kurz nach diesem Fall in den Ruhestand gegangen, als ein verbitterter und wütender Mann.
Riley hatte den Familien der Jungen versprochen, alles zu tun, damit Mullins hinter Gittern blieb. Vor ein paar Tagen hatten Nathan Betts' Eltern angerufen, um sie über die Bewährungsanhörung zu informieren. Die Zeit war gekommen, dass sie ihr Versprechen hielt.
Das allgemeine Flüstern erstarb. Die leitende Beamtin Julie Simmons sah zu Riley.
"Spezialagentin Riley Paige möchte eine Aussage machen", sagte Simmons.
Riley schluckte hart. Der Moment, auf den sie sich fünfzehn Jahre vorbereitet hatte, war gekommen. Sie wusste, dass der Bewährungsausschuss die Beweise kannte, so unvollständig sie auch sein mochten. Es hatte keinen Sinn, sie zu wiederholen. Sie musste einen persönlicheren Appell an sie richten.
Riley stand auf und sprach.
"So wie ich es verstehe, wird Larry Mullins die Möglichkeit auf vorzeitige Haftentlassung gegeben, weil er ein 'vorbildlicher Häftling' ist." Mit einer Spur von Ironie fügte sie hinzu, "Herr Mullins, ich gratuliere Ihnen zu dieser Leistung."
Mullins nickte, sein Gesicht zeigte keine Regung. Riley fuhr fort.
"'Vorbildliche Führung' – was genau heißt das eigentlich? Es scheint mir, dass es weniger mit dem zu tun hat, was er getan hat, als mit dem, was er nicht getan hat. Er hat keine Gefängnisregeln gebrochen. Er hat sich benommen. Das ist alles."
Riley bemühte sich ihre Stimme gleichmäßig zu halten.
"Um ehrlich zu sein, bin ich nicht überrascht. Im Gefängnis gibt es keine Kinder, die er töten könnte."
Im Saal wurde nach Luft geschnappt und ein Murmeln erhob sich. Mullins' Lächeln verwandelte sich in ein Starren.
"Verzeihen Sie", sagte Riley. "Mir ist bewusst, dass Mullins sich nie zu vorsätzlichem Mord bekannt hat, und dass die Staatsanwaltschaft dieses Urteil nie verfolgt hat. Aber er hat sich trotzdem schuldig bekannt. Er hat zwei Kinder getötet. Es ist ausgeschlossen, dass er das mit guten Absichten getan haben kann."
Sie hielt einen Moment inne und wählte ihre nächsten Worte sorgfältig. Sie wollte Mullins dazu bringen seine Wut, sein wahres Gesicht zu zeigen. Aber natürlich wusste der Mann, dass er, falls er das tat, seine 'vorbildliche Führung' gefährden und nicht entlassen werden würde. Ihre beste Strategie war es, den Mitgliedern des Bewährungsausschusses klar zu machen, was er getan hatte.
"Ich habe Ian Harters leblosen vierjährigen Körper an dem Tag gesehen, an dem er getötet wurde. Er sah aus, als würde er mit offenen Augen schlafen. Der Tod hatte seine Gesichtszüge genommen und es war schlaff und friedlich. Trotzdem konnte man immer noch die Angst in seinen leblosen Augen sehen. Seine letzten Momente auf dieser Erde waren mit Entsetzen gefüllt. Ich wette, dass es für den kleinen Nathan Betts das Gleiche war."