Er sah, wie Barton schließlich sein Ziel erreichte – einen der Tennisplätze des Stützpunktes. Weitere Spieler begrüßten ihn, als er auf den Platz trat und seinen Tennisschläger auspackte.
Jetzt, da Barton in einem hell erleuchteten Bereich war, benötigte der Wolf das Nachtsichtvisier nicht mehr. Er tauschte es für sein übliches Visier aus. Dann zielte er genau auf Bartons Kopf. Das Bild war nicht mehr körnig, sondern glasklar und in voller Farbe.
Barton war jetzt etwa 300 Fuß entfernt.
Auf diese Entfernung konnte der Wolf auf eine zentimetergenaue Präzision seines Gewehrs vertrauen.
Es lag an ihm, den Schuss mit einer ebenso genauen Präzision durchzuführen.
Und er wusste, dass er es konnte.
Nur ein kleiner Druck auf den Abzug, dachte er.
Das war alles, was gerade nötig war.
Der Wolf genoss diesen mysteriösen, freischwebenden Moment.
Etwas fast Religiöses lag in diesen Sekunden bevor der Abzug betätigt wurde, wenn er darauf wartete sich selbst zu dem Schuss zu bringen, darauf wartete, dass er sich entschied den Finger zu krümmen. In diesem Moment schien Leben und Tod nicht in seiner Hand zu liegen. Im Bruchteil einer Sekunde würde ein unwiderrufliches Ereignis eintreten.
Es war seine Entscheidung – und doch nicht seine Entscheidung.
Wessen Entscheidung war es also?
Ihm gefiel der Gedanke, dass da ein Tier in ihm war, ein wahrer Wolf, eine reuelose Kreatur, die in diesem fatalen Moment seinen Körper übernahm.
Dieses Tier war sowohl sein Freund, als auch sein Feind. Und er liebte es mit einer seltsamen Liebe, die man nur für seinen Erzfeind empfinden konnte. Das innere Tier brachte das Beste in ihm zutage, hielt ihn auf den Füßen.
Der Wolf wartete darauf, dass das Tier in ihm zuschlug.
Aber das Tier tat es nicht.
Der Wolf betätigte nicht den Abzug.
Er fragte sich, warum nicht.
Etwas stimmt nicht, dachte er.
Ihm wurde sofort klar, was es war.
Der Blick auf den hell erleuchteten Tennisplatz durch sein übliches Visier war einfach zu klar.
Es würde keinerlei Anstrengung erfordern.
Es war keine Herausforderung.
Das war unter der Würde des Wolfes.
Außerdem war noch nicht genug Zeit seit dem letzten Schuss vergangen. Die anderen waren so platziert gewesen, dass sie ein Maximum an Nervosität und Unsicherheit unter den Männern auslöste, die er so verabscheute. Barton jetzt zu erschießen würde den psychologischen Einfluss seiner Arbeit stören.
Er lächelte, als ihm das klar wurde. Er stand auf und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Es fühlte sich richtig an, seine Beute vorerst ungestört zu lassen.
Niemand wusste, wann er das nächste Mal zuschlagen würde.
Nicht einmal er selbst.
KAPITEL SIEBEN
Es war noch dunkel, als Rileys Flugzeug abhob. Aber sie wusste, dass es durch die Zeitverschiebung bereits hell sein würde, wenn sie San Diego erreichte. Sie würde mehr als fünf Stunden in der Luft sein und sie war jetzt schon müde. Sie musste am nächsten Morgen fit sein, wenn sie sich Bill und Lucy bei den Ermittlungen anschloss. Sie hatten ernsthafte Arbeit vor sich und sie musste bereit dafür sein.
Ich sollte besser etwas schlafen, dachte Riley. Die Frau neben ihr schien bereits einzudösen.
Riley stellte ihre Lehne nach hinten und schloss die Augen. Aber anstatt einzuschlafen, erinnerte sie sich an Jillys Theaterstück.
Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie Jillys Persephone Hades einen über den Kopf gegeben hatte und der Unterwelt entflohen war.
Der Gedanke daran, wie sie Jilly gefunden hatte, gab Riley einen Stich. Es war nachts an einer Truckerraststätte in Phoenix gewesen. Jilly war vor ihrem gewalttätigen Vater weggelaufen und in die Kabine eines der geparkten Lastwagen geklettert. Sie hatte vorgehabt sich, bzw. ihren Körper dem Lastwagenfahrer anzubieten, sobald er zurückkam.
Riley schauderte.
Was wäre aus Jilly geworden, wenn sie ihr nicht zufällig in dieser Nacht über den Weg gelaufen wäre?
Freunde und Kollegen hatten Riley oft gesagt, dass sie etwas Gutes tat, indem sie Jilly in ihr Leben brachte.
Also warum fühlte sie sich nicht besser deswegen? Stattdessen spürte sie Verzweiflung.
Schließlich gab es unzählige Jillys in der Welt und sehr wenige wurden aus ihren schrecklichen Leben gerettet.
Riley konnte nicht allen helfen, genauso wenig, wie sie alle Mörder dieser Welt einfangen konnte.
Es ist alles so sinnlos, dachte sie. Alles, was ich tue.
Sie öffnete die Augen und sah aus dem Fenster. Das Flugzeug hatte die Lichter von DC hinter sich gelassen und sie blickte in undurchdringliche Dunkelheit.
Während sie in die schwarze Nacht sah, dachte sie an ihr Treffen mit Bill, Lucy und Meredith und wie wenig sie über den anstehenden Fall wusste. Meredith hatte gesagt, dass drei Opfer über eine lange Distanz erschossen worden waren.
Was sagte ihr das über den Mörder?
War das Töten ein Sport für ihn?
Oder hatte er eine Art Mission, die nur er kannte?
Eines erschien ihr sicher – der Mörder wusste, was er tat und er war gut darin.
Der Fall würde sicherlich eine Herausforderung sein.
Langsam wurden Rileys Lider schwer.
Vielleicht kann ich doch ein wenig schlafen, dachte sie. Wieder lehnte sie den Kopf zurück und schloss die Augen.
*
Riley starrte auf Etwas, das aussah wie tausende Rileys, alle von ihnen in seltsamen Winkeln zueinander stehend, immer kleiner werdend, bis sie schließlich in der Ferne nicht mehr auszumachen waren.
Sie drehte sich ein wenig und alle anderen Rileys taten es ihr gleich.
Sie hob ihren Arm, die anderen folgten ihrem Beispiel.
Dann streckte sie ihre Hand aus und stieß auf eine Glasoberfläche.
Ich bin in einem Spiegelkabinett, wurde Riley klar.
Aber wie war sie hierhergekommen? Und wie sollte sie wieder herauskommen?
Sie hörte eine Stimme rufen …
"Riley!"
Es war eine Frauenstimme und sie kam Riley vertraut vor.
"Ich bin hier!", rief Riley zurück. "Wo bist du?"
"Ich bin auch hier."
Plötzlich sah Riley sie.
Sie stand direkt vor ihr, zwischen der Vielzahl von Spiegelbildern.
Sie war eine schlanke, attraktive junge Frau, die ein Kleid trug, das schon seit Jahrzehnten aus der Mode war.
Riley wusste sofort, wer sie war.
"Mommy", flüsterte sie.
Sie war überrascht, als sie hörte, dass ihre eigene Stimme die eines kleines Mädchens war.
"Was machst du hier?", fragte Riley.
"Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden", sagte Mommy mit einem Lächeln.
Mommy war direkt vor ihren Augen in einem Süßwarenladen erschossen worden.
Aber hier stand Mommy und sah genau so aus, wie Riley sich an sie erinnerte.
"Wo gehst du hin, Mommy?", fragte Riley. "Warum musst du gehen?"
Mommy lächelte und berührte das Glas, das zwischen ihnen stand.
"Ich habe dank dir endlich Frieden gefunden. Ich kann jetzt weiterziehen."
Langsam fing Riley an zu verstehen.
Sie hatte vor kurzem den Mörder ihrer Mutter gefunden.
Er war jetzt ein bemitleidenswerter alter Obdachloser, der unter einer Brücke lebte.
Riley hatte ihn dort zurückgelassen, nachdem ihr klar geworden war, dass sein Leben schon Strafe genug gewesen war.
Riley berührte das Glas, das ihre Hand von Mommys Hand trennte.
"Aber du kannst nicht einfach gehen, Mommy", sagte sie. "Ich bin nur ein kleines Mädchen."
"Oh nein, das bist du nicht", sagte Mommy, ihr Gesicht strahlend und glücklich. "Sieh dich einfach an."
Riley sah ihr eigenes Spiegelbild neben ihrer Mommy stehen.
Es stimmte.
Riley war jetzt eine erwachsene Frau.
Es kam ihr seltsam vor, dass sie jetzt so viel älter war, als ihre Mutter zum Zeitpunkt ihres Todes.
Aber Riley sah im Vergleich zu ihrer jugendlichen Mutter auch müde und traurig aus.
Sie wird nie älter werden, dachte Riley.
Das stimmte nicht für Riley.
Und sie wusste, dass ihre Welt voller Herausforderungen und Proben war, die ihr noch bevorstanden.
Würde sie jemals eine Auszeit bekommen? Würde sie jemals Frieden finden?
Sie spürte Neid bei dem Gedanken, dass ihre Mutter ewigen Frieden gefunden hatte.
Dann drehte ihre Mutter sich um und ging davon, verschwand zwischen den unzähligen Spiegelbildern von Riley.
Plötzlich hörte sie ein fürchterliches Krachen und die Spiegel zerbrachen.
Riley stand in vollkommener Dunkelheit, bis zu ihren Knöcheln in zerbrochenem Glas.
Sie zog vorsichtig ihre Füße heraus und versuchte dann, über die Scherben zu laufen.
"Pass auf, wo du hintrittst", sagte eine weitere vertraute Stimme.
Riley drehte sich um und sah einen alten Mann mit einem harten, wettergegerbten Gesicht.
Riley keuchte.
"Daddy!", sagte sie.
Ihr Vater grinste bei ihrem überraschten Gesichtsausdruck.
"Du hast gehofft, ich wäre tot, was?", sagte er. "Tut mir leid, dich zu enttäuschen."
Riley öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen.
Aber dann wurde ihr klar, dass er recht hatte. Sie hatte nach seinem Tod im letzten Oktober nicht getrauert.
Und sie wollte ihn definitiv nicht wieder in ihrem Leben haben.
Schließlich hatte er in seinem ganzen Leben kaum ein nettes Wort für sie gehabt.
"Wo bist du gewesen?", fragte Riley.
"Wo ich immer gewesen bin", sagte ihr Vater.
Die Szenerie veränderte sich von dem Meer aus zerbrochenem Glas, bis sie vor der Hütte ihres Vaters standen.
Er stand jetzt auf den Stufen zur Veranda.
"Du könntest meine Hilfe bei diesem Fall brauchen", sagte er. "Es klingt, als wäre dein Mörder ein Soldat. Ich weiß eine Menge über Soldaten. Und ich weiß eine Menge über das Töten."
Es stimmte. Ihr Vater war im Vietnamkrieg gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Menschen er während des Krieges getötet hatte.
Aber das letzte was sie wollte, war seine Hilfe.
"Es ist Zeit für dich zu gehen", sagte Riley.
Das Grinsen ihres Vaters wurde spöttisch.
"Oh, nein", sagte er. "Ich mache es mir gerade erst gemütlich."
Sein Gesicht und Körper veränderten sich. Innerhalb von Sekunden war er jünger, stärker, dunkelhäutig und noch bedrohlicher als zuvor.
Er war jetzt Shane Hatcher.
Seine Verwandlung löste Angst in Riley aus.
Ihr Vater war immer eine grausame Gegenwart in ihrem Leben gewesen.
Aber sie fürchtete Hatcher noch mehr.
Hatchers manipulative Macht über sie schien noch größer zu sein als die, die ihr Vater gehabt hatte.
Er konnte sie dazu bringen Dinge zu tun, die sie sich niemals erträumt hätte.
"Gehen Sie weg", sagte Riley.
"Nein", sagte Hatcher. "Wir haben eine Abmachung."
Riley schauderte.
Es stimmt, wir haben eine Abmachung, dachte sie.
Hatcher hatte ihr geholfen, den Mörder ihrer Mutter zu finden. Dafür hatte sie ihm erlaubt, in der Hütte ihres Vaters zu wohnen.
Außerdem wusste sie, dass sie ihm etwas schuldete. Er hatte ihr geholfen Fälle zu lösen – aber er hatte mehr als das getan.
Er hatte sogar das Leben ihrer Tochter gerettet und auch das ihres Exmannes.
Riley öffnete den Mund, um zu sprechen, um zu protestieren.
Aber es kamen keine Worte heraus.
Stattdessen sprach Hatcher.
"Wir sind in unserem Verstand verbunden, Riley Paige."
Riley wurde durch einen scharfen Ruck geweckt.
Ihr Flugzeug landete auf dem San Diego International Airport.
Die Morgensonne ging hinter der Landebahn auf.
Der Pilot sprach über die Lautsprecheranlage, kündigte ihre Ankunft an und entschuldigte sich für die holprige Landung.
Die anderen Passagiere nahmen ihr Gepäck und machten sich bereit, das Flugzeug zu verlassen.
Als Riley benommen aufstand und ihre Tasche aus dem Gepäckfach nahm, erinnerte sie sich an ihren verstörenden Traum.
Riley war nicht abergläubig – aber sie konnte nicht verhindern, dass sie sich fragte:
Waren der Traum und die raue Landung ein Vorzeichen für die Dinge, die folgen würden?
KAPITEL ACHT
Es war ein heller, klarer Morgen, als Riley in ihr Mietauto stieg und den Flughafen verließ. Das Wetter war wundervoll und angenehm sonnig. Ihr wurde klar, dass die meisten Menschen an Tagen wie diesem es genießen würden, an einem Pool zu liegen oder an den Strand zu gehen.
Aber Riley spürte eine dunkle Vorahnung.
Sie fragte sich wehmütig, ob sie jemals nach Kalifornien kommen würde, um einfach nur das Wetter zu genießen – oder an irgendeinen Ort gehen würde, nur um sich zu entspannen.
Es schien ihr, als würde das Böse auf sie warten, wohin sie auch ging.
Die Geschichte meines Lebens, dachte sie.
Sie wusste, dass sie es sich und ihrer Familie schuldig war, dieses Muster zu durchbrechen – sich Zeit zu nehmen und mit den Mädchen irgendwo hinzufahren, einfach nur, weil es Spaß machte.
Aber wann sollte das jemals passieren?
Ihr entfuhr ein trauriges, müdes Seufzen.
Vielleicht niemals, dachte sie.
Sie hatte im Flugzeug nicht viel Schlaf bekommen und sie fühlte den Jetlag von dem Zeitunterschied zwischen Virginia und Kalifornien.
Trotzdem war sie motiviert, mit diesem neuen Fall anzufangen.
Auf ihrem Weg zum San Diego Freeway kam sie an modernen Gebäuden vorbei, die umgeben waren von Palmen. Bald war sie aus der Stadt, aber der Verkehr auf dem mehrspurigen Freeway nahm nicht ab. Die sich schnell vorwärts bewegende Schlange von dicht an dicht gereihten Wagen, fuhr über raue Hügel, auf denen das frühe Sonnenlicht eine steile Buschlandschaft enthüllte.
Trotz der Landschaft hatte Riley das Gefühl, dass Südkalifornien weniger entspannt war, als sie erwartet hatte. Wie sie, schienen auch die anderen in Eile zu sein.
Sie nahm die Ausfahrt "Fort Nash Mowat." Nach einigen Minuten hielt sie vor einem Tor, zeigte ihre Marke und erhielt die Erlaubnis das Gelände zu betreten.
Sie hatte Bill und Lucy geschrieben und sie wissen lassen, dass sie auf dem Weg war. Die beiden warteten bei ihrem Wagen und Bill stellte die uniformierte Frau neben ihnen als Colonel Dana Larson vor, Kommandantin des Fort Mowat CID Büros.
Riley war sofort von Larson beeindruckt. Sie war eine kräftige, stämmige Frau mit eindringlichen dunklen Augen. Ihr Handschlag vermittelte Riley ein Gefühl von Selbstsicherheit und Professionalität.
"Es freut mich, Sie kennenzulernen, Agentin Paige", sagte Colonel Larson mit klarer, kräftiger Stimme. "Ihr Ruf eilt Ihnen voraus."
Rileys Augen weiteten sich leicht.
"Ich bin überrascht", sagte sie.
Larson lachte leise.
"Nicht nötig", sagte sie. "Ich bin ebenfalls in der Strafverfolgung und halte mich informiert über alles, was das BAU tut. Wir sind geehrt, Sie hier im Fort Mowat zu haben."
Riley spürte leichte Röte in ihre Wangen steigen, als sie sich bei Colonel Larson bedankte.
Larson rief einen in der Nähe stehenden Soldaten, der mit schnellem Schritt auf sie zutrat und salutierte.
Sie sagte, "Korporal Salerno, ich möchte, dass sie Agentin Paiges Wagen zurück zu der Mietwagenstation am Flughafen bringen. Sie wird es hier nicht benötigen."
"Jawohl, Ma'am", sagte der Korporal, "wird erledigt." Er stieg in Rileys Wagen und verließ den Stützpunkt.
Riley, Bill und Lucy stiegen in das andere Auto.
Während Colonel Larson fuhr, fragte Riley, "Was habe ich bisher verpasst?"
"Nicht viel", sagte Bill. "Colonel Larson hat uns gestern Abend hier getroffen und uns unsere Unterkunft gezeigt."
"Wir haben noch nicht den Stützpunktkommandanten getroffen", fügte Lucy hinzu.
Colonel Larson sagte, "Wir sind jetzt gerade auf dem Weg zu Kommandant Dutch Adams."
Dann, mit einem leisen Lachen, fügte sie hinzu, "Erwarten Sie kein herzliches Willkommen. Agenten Paige und Vargas, damit meine ich insbesondere Sie."