Plötzlich trat jemand in ihr Gesichtsfeld. Es war Chiqy, der dicke Bärtige, den sie in Deans Schlafzimmer getroffen hatte. Sofort begann Sarahs Herz zu rasen. Jetzt hatte sie nicht mehr das Gefühl, dem Geschehen aus der Ferne zuzusehen. Panik machte sich in ihr breit.
Wo bin ich? Was ist das für ein schrecklicher Ort? Warum fühle ich mich so schwach?
Sie versuchte sich aufzusetzen, als Chiqy näher kam, doch ihre Arme gaben unter ihrem Gewicht nach und sie fiel wieder rückwärts auf die Matratze. Chiqy lachte leise.
„Lass es besser bleiben“, sagte er. „Die Drogen machen dich schwerfällig. Ich will nicht, dass du hinfällst und dir etwas brichst. Das wäre nicht gut fürs Geschäft. Der Kunde findet gebrochene Knochen nur dann gut, wenn er sie selbst brechen durfte.“
„Was hast du mir gegeben?“, fragte Sarah heiser und versuchte noch einmal, sich aufzurichten.
Anstatt zu antworten, schlug Chiqy ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Wieder fiel sie auf die Matratze. Auf ihrer Wange explodierte ein Schmerz, der sich bis zu ihrem Ohr ausbreitete. Sie schnappte nach Luft und versuchte, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Chiqy erschien über ihrem Gesicht.
„Du wirst schon lernen, dass du nur zu sprechen hast, wenn man dich fragt. Keine Frechheiten, außer der Kunde will es so. Keine Fragen. Chiqy kümmert sich schon um dich. Halte dich an die Regeln und alles ist gut. Tust du das nicht – nicht gut. Kapiert?“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sarah nickte benommen.
„Dann hör jetzt gut zu, denn ich sage dir die Regeln nur einmal: Erstens – du bist hier auf meinem Grund und Boden. Damit gehörst du mir. Ich kann dich verleihen, wie ich will, aber vergiss nicht, wem du gehörst. Kapiert?“
Sarahs Wange brannte noch immer. Sie nickte demütig. Auch wenn sie immer noch nicht verstand, wie sie in diese Situation gelangen konnte, wusste sie, dass sie Chiqy in ihrem momentanen Zustand besser nicht herausforderte.
„Zweitens – du wirst meinen Kunden alle Wünsche erfüllen. Es muss dir nicht gefallen, aber wer weiß, vielleicht ist es genau dein Ding. Mir egal. Du machst, was der Kunde sagt, egal was es ist. Wenn du nicht gehorchst, schlage ich dich, bis alles in dir blutet. Ich kenne mich damit bestens aus. Man wird es dir nicht ansehen, die Kunden werden dich trotzdem nehmen, aber in dir drinnen ist alles kaputt. Kapiert?“
Wieder nickte Sarah. Sie versuchte, sich auf die Ellbogen zu stützen und schloss die Augen unter dem grellen Lichtschein. Sie versuchte, die anderen Mädchen besser zu sehen. Keine von ihnen kam ihr bekannt vor. Ein eisiger Schauer schüttelte sie.
Wo ist Lanie?
„Kannst du mir sagen, was mit meiner Freundin passiert ist?“, fragte sie leise.
Doch bevor sie sich versehen konnte, hatte Chiqy wieder zugeschlagen, diesmal auf die andere Wange. Die Wucht schleuderte sie wieder auf die Matratze.
„Das war noch nicht alles“, hörte sie ihn trotz des lauten Klingelns in ihren Ohren. „Die letzte Regel lautet – Kein Wort, außer ich habe dich etwas gefragt. Wie schon gesagt, du wirst schnell lernen, dass wir hochnäsige Mädchen hier nicht mögen. Kapiert?“
Sarah nickte. Ihr Kopf tat weh.
„Aber diese eine Frage werde ich dir beantworten“, sagte Chiqy grinsend. Er deutete auf eine Matratze, ein paar Meter weiter.
Sarah blickte hinüber und sah einen Mann um die sechzig Jahre, der auf einem Mädchen lag. Ihr Kopf war weggedreht, doch der Mann hob ihr Kinn an, um sie zu küssen.
Sarah musste würgen. Dann erst wurde ihr klar, dass es wirklich Lanie war. Von der Hüfte abwärts hatte man sie ausgezogen und ihr schwarzes Tank-Top war ihr bis zum Hals hochgeschoben, sodass ihr BH zu sehen war. Als der Mann das Interesse an ihrem Gesicht verloren hatte, ließ er ihren Kopf los und er rollte wieder zur Seite, diesmal in Sarahs Richtung.
Sie sah, dass ihre Freundin bei Bewusstsein war, wenn auch nicht ganz. Ihre Augen waren schmale Schlitze und sie schien nicht viel von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Ihr Körper lag schlapp auf der Matratze. Sie wehrte sich nicht gegen das, was ihr gerade angetan wurde.
Sarah sah sich alles an, aber es kam ihr vor, als würde sich dieses unsagbare Schreckensszenario auf einem fernen Planeten abspielen. Vielleicht lag es an den Drogen. Vielleicht lag es daran, dass sie gerade ins Gesicht geschlagen worden war. Sie fühlte sich betäubt.
Vielleicht sollte ich dafür dankbar sein.
„Sie hat sich ziemlich angestellt, also mussten wir ihr die doppelte Dosis geben“, sagte Chiqy. „So könnte es dir auch ergehen. Wenn du brav bist, müssen wir dich nicht ruhigstellen. Ganz wie du willst.“
Sarah sah ihn an. Gerade als sie antworten wollte, fiel ihr wieder die letzte Regel ein und sie biss sich auf die Zunge. Chiqy sah es und grinste.
„Gut, du kapierst schnell“, sagte er. „Jetzt darfst du antworten.“
„Bitte nicht ruhigstellen“, flehte sie.
„Okay, wir versuchen es ohne. Aber wenn du dich wehrst, bekommst du die Nadel. Klar?“
Sarah nickte. Chiqy grinste zufrieden und nickte, bevor er ein paar Schritte zurück ging und den Vorhang zuzog.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb, also sah sich Sarah verzweifelt um. Sie musste nachdenken. Sarah trug noch immer ihre Jeans und das hellblaue Oberteil, deshalb ging sie davon aus, dass man ihr noch nichts angetan hatte. Schnell tastete sie ihre Taschen ab. Handy, Geldbeutel und Ausweis hatte man ihr abgenommen. Das war keine Überraschung.
Irgendwo begann ein Mädchen laut zu schreien. Als sie hörte, dass jemand näher kam, stieg ihr wieder die Panik in den Hals. Andererseits hatte sie den Eindruck, dass das Adrenalin ihren Verstand schärfte und ihr wieder ein wenig Kontrolle über ihre Gliedmaßen gab.
Denk nach, so lange du noch kannst! Du bist schon lange weg, wahrscheinlich suchen sie nach dir. Mum und Dad haben sicher schon die Polizei alarmiert. Du musst eine Spur hinterlassen, falls etwas passiert.
Sie sah auf ihr Top. Ihre Mutter hatte sie beim Frühstück gesehen, sie würde sich bestimmt daran erinnern, was sie heute trug. Schließlich hatte sie ihr das Outfit beim Cabazon-Outlet selbst gekauft.
Schnell riss sie einen kleinen Streifen aus dem Hüftbereich. Noch während sie überlegte, wo sie ihn verstecken sollte, hörte sie die Männerstimmen. Als der Vorhang zur Seite gezogen wurde, steckte sie den Stofffetzen schnell unter die Matratze. Nur noch eine kleine Ecke schaute heraus.
Sarah blickte zu den Männern auf. Neben Chiqy stand ein Typ um die vierzig in Anzug und Krawatte. Er nahm gerade seine Brille ab und legte sie in einen seiner Schuhe, die er bereits abgestreift und neben den Vorhang gestellt hatte.
„Wie alt ist sie?“, fragte er.
„Sechzehn“, antwortete Chiqy.
„Etwas überreif für meinen Geschmack, aber von mir aus“, sagte er und näherte sich der Matratze.
„Denk an die Regeln“, sagte Chiqy mit erhobenem Finger zu Sarah.
Sie nickte. Zufrieden drehte er sich um, als der andere Mann etwas Privatsphäre verlangte.“
Langsam zog Chiqy den Vorhang hinter sich zu. Der Mann stand über ihr und starrte ihren Körper an. Sarah wurde schlecht.
Er begann sich auszuziehen und Sarah überlegte krampfhaft, was sie tun sollte. Sie würde es nicht einfach geschehen lassen, so viel stand fest. Und wenn sie sie dafür umbringen würden. Niemals würde sie sich damit abfinden, als Sexsklavin verkauft zu werden. Sie musste die erstbeste Gelegenheit nutzen.
Diese ließ nicht lange auf sich warten.
Der Mann hatte inzwischen seine Hose und Boxer Shorts ausgezogen und kroch jetzt langsam zu ihr. An seinem Blinzeln erkannte sie, dass er ohne seine Brille unsicher war. Kurz darauf war er auf Händen und Knien direkt über ihr.
Jetzt oder nie.
Schnell zog Sarah ihr Bein hoch und trat mit ihrem Schuh so fest in seine Weichteile, wie sie nur konnte. Er japste und brach auf ihr zusammen.
Sarah hatte damit gerechnet und rollte sich zur Seite. Dann rappelte sie sich auf und eilte zum Vorhang. Der Mann hinter ihr wimmerte leise. Schnell steckte sie ihren Kopf heraus und sah sich um.
Der Ausgang aus dieser Hölle war einige Meter entfernt. Zwischen ihr und der Freiheit lagen jedoch zahlreiche Matratzen, auf denen nicht nur mehr oder weniger betäubte Mädchen, sondern auch mindestens eine Handvoll Männer lagen und umhergingen. Sie würde es nie nach draußen schaffen.
Vielleicht konnte sie aber einen Nebenausgang in den Schatten an der Wand finden. Gerade als sie aus dem Vorhang treten wollte, hörte sie hinter sich ein schmerzverzerrtes, aber deutliches „Hilfe!“
Jetzt musste sie sich beeilen. Sie sprang nach links und suchte nach einer Tür, doch schon erschien ein weiterer Mann vor ihr. Sie wirbelte herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung, direkt in Chiqys Arme. Er hielt sie so fest, dass sie sich kaum mehr bewegen konnte.
Weiter weg sah sie den Mann im Anzug. Noch immer war er unten ohne und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Sarah.
„Jetzt will ich sie zum halben Preis!“
Sarah sah, dass Chiqy etwas aus seiner Tasche zog – eine Spritze! Sie versuchte, sich loszureißen, aber es war vergeblich. Sie spürte einen Stich in ihrem Oberarm.
„Ich habe dich gewarnt“, flüsterte er. Es klang fast wie eine Entschuldigung.
Als sich sein Griff lockerte, hatte sie schon keine Kontrolle mehr über ihre Muskeln. Chiqy ließ sie los. Als sie auf dem Boden aufschlug, hatte sie bereits das Bewusstsein verloren.
KAPITEL FÜNF
Unruhig saß Keri im Wartezimmer des Sicherheitsbüros in der Fox Hills Mall. Sie hatte nur einen Gedanken: Das dauert viel zu lange!
Einer der Angestellten suchte nach Aufnahmen im Gastronomiebereich um 14 Uhr, als Lanie das Foto auf Instagram gepostet hatte. Dass es so lange dauerte, konnte nur daran liegen, dass entweder das System sehr alt, oder der Mitarbeiter inkompetent war.
Auf dem Stuhl neben ihr schmatzte Ray an einem Wrap herum, den er sich auf dem Weg durch das Shopping Center gekauft hatte. Keri hatte ihren Wrap kaum angefasst.
Obwohl die Mädchen erst seit etwas länger als vier Stunden unerreichbar waren, hatte Keri das starke Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Sie konnte es nur noch nicht beweisen.
„Willst du das Ding nicht einfach im Ganzen Verschlingen?“, fragte sie Ray genervt.
Er hörte sofort auf zu kauen und sah sie fragend an. „Was frisst dich denn?“, fragte er mit vollem Mund.
„Tut mir leid, ich sollte meinen Frust nicht an dir auslassen. Was dauert das denn so lange? Wenn diese Mädchen wirklich entführt wurde, vergeuden wir hier wertvolle Zeit.“
„Wir geben ihnen noch zwei Minuten. Wenn sie bis dahin nichts gefunden haben, treten wir ihnen auf die Füße. Fair?“
„Fair“, antwortete Keri und nahm einen kleinen Biss von ihrem Wrap.
„Ich weiß, dass du nicht besonders geduldig bist, aber da ist doch noch etwas anderes los mit dir. Das habe ich vorhin auf dem Revier schon bemerkt. Wir haben noch zwei Minuten, also raus mit der Sprache.“
Keri sah ihn an. Ein Stück Salat klemmte zwischen zwei Zähnen. Sie hätte gelacht, wenn die Situation nicht so ernst wäre.
Dieser Mann steht dir näher als irgendjemand sonst auf dieser Welt. Sag es ihm, er hat es verdient.
„Okay“, begann sie. „Gleich.“
Sie holte einen Überwachungsdetektor aus der Handtasche, den sie seit einer Weile mit sich führte und gab Ray ein Zeichen, ihr in den Gang zu folgen.
Das Gerät war ihr von einem Sicherheitsexperten empfohlen worden, dem sie bei einem Fall geholfen hatte. Er schien Recht zu behalten, das Gerät war handlich, zuverlässig und preiswert.
Seit dieser Anwalt Jackson Cave ihr gedroht hatte, dass er sie nicht mehr aus dem Augen lassen wollte, hatte sie mehrere Abhörgeräte entdeckt. Eine Wanze hatte sie in ihrer Schreibtischlampe auf dem Revier gefunden. Wie es dort hinkam, wusste sie nicht genau. Vielleicht hatte er ein Mitglied des Reinigungspersonals bestochen.
Außerdem hatte sie eine Kamera und eine Wanze in ihrer neuen Wohnung gefunden – im Wohnzimmer und im Schlafzimmer, sowie im Steuerrad ihres Dienstwagens und hinter der Sonnenblende in Rays Auto.
Edgerton hatte sich darum gekümmert, dass ihr Computer vor jeglichen Cyberangriffen geschützt war. Bisher sah es so aus, als wäre nichts versucht worden, aber sicherheitshalber benutzte sie den Computer nur noch für offizielle Angelegenheiten.
Ihr Handy war bisher clean geblieben, wahrscheinlich weil sie es immer bei sich trug. Es war das einzige Gerät, das sie für die Kommunikation mit dem Sammler benutzt hatte, deswegen wollte sie es nie unbeobachtet lassen.
Als sie nun mit Ray im Gang stand, überprüfte sie zuerst sich selbst, dann Ray und schließlich sein Handy nach Überwachungsgeräten.
Ray hatte sich in den vergangenen Wochen an diese Prozedur gewöhnt. Anfangs hatte er sich dagegen gesträubt, aber nachdem Keri auch in seinem Auto eine Wanze gefunden hatte, wehrte er sich nicht mehr dagegen. Im Gegenteil, er war ebenso aufgebracht darüber und wollte sicher sein, dass man ihn nicht abhörte. Am liebsten hätte er sie sofort herausgerissen, aber Keri hatte ihn überzeugt, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn Cave mitbekam, dass sie ihm auf die Schliche gekommen waren, würde er vielleicht den Sammler warnen.
Cave hatte bereits den Verdacht, dass Keri seine Daten gestohlen hatte, aber er hatte keine Beweise dafür. Und er konnte nicht wissen, ob Keri seine Sicherheitsbarrieren überwunden hatte und jetzt vielleicht ihn überwachte. Daher vermutete sie, dass er sich nur an den Sammler wenden würde, wenn es absolut nötig wäre.
Er dachte, dass sie in einer Art Pattsituation steckten und da er weit mehr Informationen hatte als sie, wollte sie ihn in dem Glauben lassen.
Sie musste Ray jedoch versprechen, dass sie die Wanzen sofort entfernen würde, wenn sich daraus ein Nachteil ergab. Sie hatten sich sogar ein geheimes Codewort überlegt, wenn es soweit kommen sollte. „Bondi Beach“, ein berühmter Strand im australischen Sydney, den Keri eines Tages besuchen wollte. Wenn sie eines Tages diese beiden Worte sagte, könnte er endlich jegliche Überwachungsgeräte herausreißen.
„Zufrieden?“, fragte er, als sie ihren Sicherheitscheck abgeschlossen hatte.
„Ja. Sorry. Also, ich habe heute früh eine E-Mail von unserem Freund bekommen“, sagte sie und vermied damit, etwas auszuplaudern, das niemand hören sollte. „Er hat angedeutet, dass er sich bald wieder treffen will. Vielleicht bin ich deswegen etwas reizbar. Immer wenn sich etwas auf meinem Handy regt, denke ich, dass er es ist.“
„Hat er angedeutet, wann es soweit ist?“, fragte Ray.
„Nein. Er hat nur gesagt, dass er sich bald meldet; sonst nichts.“
„Kein Wunder, dass du so geladen bist. Ich dachte, dass du wegen des Mädchens überreagierst.“
Keri spürte, wie in ihr die Hitze aufkochte. Sie starrte ihren Partner wütend an. Auch Ray merkte, dass er mit seinem Kommentar zu weit gegangen war. Gerade als er etwas sagen wollte, winkte der Sicherheitsangestellte sie in den Computerraum.
„Ich habe etwas gefunden“, rief er.
„Dein Glück“, knurrte Keri und stürmte voran. Ray folgte mit etwas Abstand.
Als sie den Computerraum betraten, zeigte das Video 2 Uhr 5. Sarah und Lanie saßen gut sichtbar an einem kleinen Tisch. Lanie machte ein Foto mit ihrem Handy. Höchstwahrscheinlich das Bild, das Edgerton bei Instagram gefunden hatte. Keine zwei Minuten später näherte sich ihnen ein großer, dunkelhaariger, tätowierter Typ. Er küsste Lanie und nach ein paar Minuten standen sie zusammen auf und gingen.