Er sagte es, als wenn das nichts wäre und Angelica wusste in dem Moment, dass sie sterben würde.
Was immer sie sagte, was immer sie versuchte, dieser Mann würde sie töten. So wie es aussah, genoss er es auch noch.
Er schob Angelica in Richtung Kante und sie wusste, es würde nur noch Sekunden dauern, ehe sie fiel. Unerklärlicherweise dachte sie an Sebastian und die Gedanken waren nicht die hasserfüllten, die sie hätte haben sollen, wenn man bedachte, wie er sie verlassen hatte. Angelica konnte nicht verstehen, warum das so war, wenn er doch nichts weiter als der Mann war, den sie als Ehemann auserspäht hatte, um ihre Position zu erweitern, ein Mann für den sie bereit war ihn mit Schlafpulver ins Bett zu locken…
Ein Gedanke kam ihr. Es war ein verzweifelter, aber in dem Moment war alles verzweifelt.
„Ich könnte Ihnen was Wertvolleres als Geld anbieten“, versuchte Angelica es erneut. „Etwas Besseres.“
Der Wachmann lachte, hielt aber dennoch inne. „Was?“
Angelica griff nach ihrem Gürtel und zog eine kleine Schnupftabakschachtel mit Beruhigungsmittel heraus, hob sie hoch, als wenn sie das kostbarste auf der Welt wäre. Der Wachmann ließ sie in Ruhe und schaute schon fast wie in Trance, während er versuchte herauszufinden, was es war. Vorsichtig öffnete Angelica die Schachtel.
“Was ist das?”, wollte der Wachmann wissen. „Es sieht aus wie –“
Angelica blies kräftig und das Puder verteilte sich in seinem Gesicht, während er nach Atem rang. Sie warf sich nach links, als er nach ihr griff und hoffte, dass sie ihm ausweichen konnte, während er immer noch mit dem Puder in seinen Augen kämpfte. Eine fleischige Hand legte sich um ihren Arm und beide drückten sich in Richtung Kante des Palastdaches.
Angelica wusste nicht, welche Wirkung das Beruhigungsmittel haben würde. Es hatte immer schnell funktioniert, wenn sie es genutzt hatte, aber es war normalerweise nur eine kleine Dosis mit wenig Auswirkung. Was würde eine größere Dosis bei einem Mann mit dieser Größe auslösen und würde sie genug Zeit haben, ehe etwas passierte?
Angelica fühlte bereits die Kante des Daches an ihrem Rücken, der Himmel war sichtbar, als der große Mann an ihr zog.
„Ich werde dich töten!“, rief der Wachmann und das Beste was Angelica darüber sagen konnte, war, dass die Worte eher undeutlich aus seinem Mund kamen. Wurde sein Griff schwächer? War der Druck gegen sie geringer?
Sie wurde jetzt so weit zurückgedrängt, dass sie schon den Boden unter sich sehen konnte und die dort herumlaufenden Diener und Adligen. Eine weitere Sekunde und sie würde auf das Kopfsteinpflaster des Hofes fallen und aufschlagen und so sicher wie ein fallen gelassener Pokal zerschellen.
In dieser Sekunde fühlte Angelica, wie der Griff des Wachmannes schwächer wurde. Nicht viel, aber genug, um sich in seinem Griff zu winden und herauszugleiten und ihn mit dem Rücken in den leeren Himmel zu stellen.
“Du hättest das Geld nehmen sollen”, sagte sie und drängte ihn nach vorne, sie schob mit all ihrer Kraft. Der Wachmann taumelte für eine Sekunde am Rand des Geländers, dann stürzte er nach hinten, seine Arme schlugen in der Luft.
Nicht nur in der Luft. Einer schaffte es nach ihr zu greifen und Angelica wurde nach vorne an den Rand und darüber gezogen. Sie schrie und griff nach dem Nächstbesten was sie finden konnte. Ihre Finger fanden ein Stück Mauerwerk, verloren den Halt und fanden ihn wieder, während der Wachmann weiter unter ihr taumelte. Angelica schaute gerade lange genug herunter, um seinem Fall zuzusehen. Sie fühlte einen kurzen Moment der Befriedigung, als er aufschlug, der aber schnell von der Angst ersetzt wurde, an der Seite der Burg zu hängen.
Angelica suchte nach einem festen Griff, sie versuchte etwas zu finden, an dem sie sich festhalten konnte. Ihre Füße hingen einen Moment in der Luft, dann schaffte sie es, Halt auf der rauen Seite eines Wappenschilds aus Steins zu finden. Angelica bemerkte mit schwacher Belustigung, dass es kein königliches Wappen war, aber sie fühlte auch Erleichterung von der Tatsache, dass es überhaupt da war. Ohne das Wappen würde sie jetzt zweifellos so tot sein, wie die Witwe es sich für sie wünschte.
Das Klettern zurück aufs Dach schien ewig zu dauern, Angelicas Muskeln brannten von der unerwarteten Anstrengung. Unten konnte sie jetzt Schreie hören, als die Menschen sich um den heruntergefallenen Wachmann versammelten. Es gab keinen Zweifel, dass jemand hochsehen und sie sehen würde, wie sie wieder zurück aufs Dach kletterte, sich hinüber schwang und dort lag und schwer atmete.
„Steh auf“, sagte sie zu sich selbst. “Du wirst sterben, wenn du hier bleibst. Steh auf.“
Sie zwang sich auf die Beine, und versuchte nachzudenken. Die Witwe hatte versucht, sie zu töten. Das Offensichtliche war zu rennen, denn wer konnte sich schon vor der Witwe behaupten? Sie musste einen Weg aus dem Palast finden, vielleicht zum Hafen kommen und nach Übersee zu ihrer Familie zu fahren. Das oder über die kleineren Nebenstraßen der Stadt fliehen, um zu vermeiden von Spionen gesehen zu werden, die in und außerhalb des Landes nach ihr suchen würden. Ihre Familie war mächtig, mit der Art von Freunden die in der Adligenversammlung Fragen stellen würden, die –“
“Sie werden tun, was die Witwe ihnen sagt”, sagte Angelica sich selbst. Wenn sie überhaupt handeln würden, dann wäre das so langsam, dass sie in der Zwischenzeit tot wäre. Das Beste, worauf sie hoffen konnte, war wegzulaufen und immer weiter zu ziehen, sie wäre niemals sicher, würde nie wieder im Mittelpunkt stehen. Das war eine unakzeptable Lösung.
Das brachte sie wieder zu ihrer Ausgangsfrage zurück: Wer könnte es mit der Witwe aufnehmen?
Angelica wischte sich sorgfältig den Schmutz von der Kleidung, machte sich so gut es ging die Haare und nickte sich selbst zu. Dieser Plan war … gefährlich, ja. Unschön hauptsächlich. Aber es war die größte Chance, die sie hatte.
Während die Menschen unten riefen, lief sie los zurück durch den Palast.
KAPITEL SIEBEN
Sebastians Augen begannen sich an die Dunkelheit in seiner Zelle zu gewöhnen, an das Feuchte, sogar an den Geruch. Er begann sich an das schwache Gurgeln des Wassers irgendwo in der Entfernung zu gewöhnen und an das Geräusch der Menschen, die kamen und gingen. Das war vermutlich ein schlechtes Zeichen. Es gab Orte, an die sich niemand gewöhnen sollte.
Die Zelle war klein, nur ein paar Meter groß mit Eisenstangen vorne, die mit einem soliden Schloss verschlossen waren. Das war kein feines Gefängnis, wo die Familie des Mannes für die Beibehaltung seines Lebensstiles zahlen konnte, bis er geköpft wurde. Das war die Art von Ort, in die ein Mann gesteckt wurde, damit die Welt ihn vergaß.
“Und wenn ich vergessen werde”, flüsterte Sebastian, „dann bekommt Rupert die Krone.“
Darum musste es gehen. Sebastian zweifelte nicht daran. Wenn sein Bruder ihn verschwinden ließ, dann würde er es so aussehen lassen, als wenn Sebastian weggelaufen war und nie wieder zurückkommen würde, dann würde Rupert automatisch der Thronnachfolger werden. Die Tatsache, dass er Sebastian nicht getötet hatte, ließ annehmen, dass das für ihn ausreichend war, dass er Sebastian vielleicht sogar freilassen würde, wenn er erst einmal hatte, was er wollte.
„Oder es heißt einfach nur, dass er sich Zeit nehmen will, um mich zu töten“, sagte Sebastian.
Er konnte im Moment keine weiteren Stimmen in der Dunkelheit hören, wenn auch von Zeit zu Zeit von weiter weg welche erklangen. Sebastian nahm an, dass es noch andere Zellen hier unten gab, vielleicht noch andere Gefangene. Wo immer hier war. Das war tatsächlich eine Frage, über die es sich lohnte nachzudenken. Wenn sie irgendwo unter dem Palast waren, dann gab es eine Chance, dass Sebastian genug Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, um Hilfe zu bekommen. Wenn sie irgendwo anders in der Stadt waren … naja, dann würde es davon abhängen, wo sie waren, aber Sebastian würde einen Weg finden, um Hilfe zu bekommen.
Er versuchte über die Fahrt nachzudenken, wie sie hier hergekommen waren, aber es war unmöglich, um es sicher zu sagen. Es war nicht der Palast, nahm er an. Sogar Rupert würde nicht arrogant genug sein, Sebastian dort zu verwahren. Sein Bruder, seine Familie hatte genug Geld, sodass er andere Besitztümer in der Stadt kaufen konnte. Irgendein extra Haus für Affären oder undurchsichtige Geschäfte.
„Wahrscheinlich beides, wie ich Rupert kenne“, sagte Sebastian.
„Ruhe da“, sagte eine Stimme. Eine Person näherte sich aus dem Dunkeln: ein unscheinbarer Mann, der als einer seiner Kerkermeister diente. Der Mann kam nur ein paar Mal am Tag, brachte leicht salziges Wasser und abgestandenes Brot. Jetzt klopfte er mit einem Holzknüppel an die Gitterstäbe an Sebastians Zelle und das plötzliche Geräusch nach so langer Zeit Stille erschreckte ihn.
“Sie wissen, wer ich bin”, sagte Sebastian. „Ich bin Ruperts Bruder, der Sohn der Witwe.“ Er griff nach den Gitterstäben. „Sie wird jeden töten, der ihren Söhnen Schaden zufügt. Sie wissen das, Sie sind doch nicht dumm. Ihre einzige Chance, um zu überleben, ist derjenige zu sein, der mich gehen lässt.“
Sebastian gefiel es nicht, diese Androhung zu machen. Es war die Art von Ding, die sein Bruder getan hätte, aber es war auch nichts mehr als die Wahrheit. Seine Mutter würde ganz Ashton nach ihm durchsuchen, wenn sie dachte, dass er gefangen genommen worden war und wenn sie ihn gefunden hatte, würde jeder, der ihm Schaden zugefügt hatte, dafür sterben. Wenn es um ihre Familie ging, war seine Mutter genau die grausame, unversöhnliche Monarchin, für die die Menschen sie hielten.
“Das trifft nur zu, wenn sie es herausfindet”, sagte der Wachmann und schlug Sebastians Hand fast wie zufällig mit dem Knüppel weg. Sebastian zog eine Grimasse vor Schmerz, aber schaffte es, den Knüppel festzuhalten und den Mann näher an sich heranzuziehen, seine Hände gingen zu seinem Gürtel.
Das war keine gute Strategie. Immerhin war der andere Mann bewaffnet und Sebastian war in einer beengten Zelle gefangen, ohne die Möglichkeit ihn zu umgehen oder ihm auszuweichen. Der Wachmann schlug ihn mit seiner freien Hand, dann stieß er ihn mit seinem Knüppel in den Bauch. Sebastian fühlte die Luft aus ihm weichen. Er fiel auf die Knie.
“Arrogante Adlige”, keifte der Mann und spuckte auf den Flur neben Sebastian. „Glauben, dass für sie alles funktioniert, was immer sie versuchen. Naja ich mache das nicht. Ihre Mutter wird nicht nach Ihnen suchen und Sie hier herausholen und ich werde direkt hier sein, wenn Ihr Bruder entscheidet, Sie in Stücke zu schneiden.“