Thanos durfte sie nicht alleine lassen.
Er griff nach einem der Hämmer und ignorierte den erschrockenen Blick des Mannes während er sah, wie seine Truppen durch die Spalte drangen. Immer mehr Haylonkrieger drangen zu ihnen, doch jetzt konnte Thanos auch sehen, wie Felldustmänner ihnen dicht auf den Fersen waren.
Er musste an Ceres denken. Er hoffte, dass ihre Suche erfolgreicher verlief als ihre Unternehmungen auf der Insel. Er hatte so große Pläne für sie gehabt, und wenn er jetzt hier starb, dann würde nichts davon jemals wahr werden. Doch konnte er auch nicht einfach daneben stehen und diese Männer im Stich lassen.
„Wir müssen es jetzt tun“, sagte einer der Männer.
Thanos schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Noch mehr Männer sind auf dem Weg.“
„Aber wenn Felldusts Männer durch die...“
„Noch nicht“, wiederholte Thanos.
Weitere Krieger kamen, und Thanos ließ so viele seiner eigenen Männer passieren wie er nur konnte. Als der erste von Felldusts Kriegern auf ihn zukam, wehrte Thanos dessen Hieb mit dem Griff seines Hammers ab. Dann schlug er zurück und spürte, wie die Rippen seines Feindes unter der Wucht seines Hammers nachgaben. Ein zweiter kam auf ihn zugeeilt. Haven sprang dazwischen und schaltete ihn aus.
„Das ist nicht der rechte Ort für Euch, mein Prinz“, sagte er.
„Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass ich nicht Ihr Prinz sei“, bemerkte Thanos.
Der hörte den anderen Mann seufzen. „Das seid Ihr nicht, aber Ihr seid im Recht. Ich bin als Schlächter auf diese Insel gekommen. Jetzt ist es Zeit, mehr als nur das zu sein.“
Er nickte, und Thanos spürte, wie sich starke Hände um seine Arme schlossen. Zwei Reichssoldaten rissen ihn zurück während Haven nach dem Hammer griff, den Thanos gehalten hatte.
„Haven, tun Sie das nicht“, sagte Thanos.
Doch da war es schon zu spät. Der alte General und ein paar Auserwählte von Haylon holten mit ihren Hämmern aus. Er schwang den Hammer mit der Stärke eines viel jüngeren Mannes. Die Hiebe trafen zielgenau die Keile und die Felsen begannen zu brechen.
Als sie schließlich auseinanderbrachen schien die Welt unter dem donnernden Felsenregen zu verschwinden. General Haven verschwand unter der Lawine und hinterließ nichts als eine massive Wand aus Felsen.
Thanos starrte den Berg voller Erstaunen an.
Er wusste dennoch, dass ihnen dieses Manöver nur wenig Zeit verschaffen würde.
Haylon war verloren.
Er hoffte nur, dass Ceres es leichter hatte.
KAPITEL ZWEI
Ceres blickte aus dem Graben hinauf zu dem Kreis aus halbtoten Zauberern. Sie versuchte, ihre Angst zu verbergen. Während sie beobachtete, wie sie sich dort oben formierten, schaffte sie es, ihre Fassung zurückzugewinnen und abwartend nach den Griffen ihrer beiden Schwerter zu greifen. Sie würde ihnen nicht die Genugtuung geben, sie eingeschüchtert zu sehen.
„Du hättest uns befreien können“, sagte ihr Anführer mit einer Stimme wie aus Schmirgelpapier.
„Damit ihr Zerstörung über die Welt bringt“, rief Ceres zurück. „Niemals.“
„Dann nehmen wir dir dein Blut und werden zumindest für eine Weile wieder zu dem, was wir einst waren.“
Ceres machte sich bereit. Welcher von ihnen würde zuerst angreifen? Würden sie einfach ihre Magie benutzen, um sie hier unten in dem Graben zu vernichten? Nein, das konnten sie nicht, oder? Nicht, wenn sie ihr Blut wollten. Dann hatte sie eine Idee, die ihr vielleicht einen Weg aus dem Graben bieten würde. Doch es wäre gefährlich. Sehr gefährlich.
„Ihr denkt doch nicht etwa, dass ich Angst vor euch hätte?“ fragte Ceres. „Ich habe schon oft in solchen Graben gekämpft. Kommt nur alle her zu mir.“
Das würde nur funktionieren, wenn sie sie alle gleichzeitig angriffen. Dennoch erfüllte sie es mit Grauen, mitansehen zu müssen, wie einer nach dem anderen geräuschlos in den Graben glitt und angriffslustig auf sie zuzueilen begann.
Ceres schlug zu und rastete keine Sekunde. Der Graben bot so wenig Platz zum Kämpfen, dass sie riskierte, überrumpelt zu werden. Sie hackte eine Hand ab, die nach ihr griff und duckte sich unter greifenden Klauen hinweg, die nach ihrem Hals grabschten. Sie spürte, wie eine Hand sie an ihrer Seite erwischte und trat nach ihr, sodass einer der Zauberer zurückflog.
Sie waren nicht mehr so stark, wie sie einst gewesen waren. Ceres vermutete, dass sie mehr Kraft hatten aufwenden müssen, als ihnen lieb gewesen war, als sie ihr mit ihren Zaubersprüchen nachgestellt hatten. Sie machte weiter und wich aus, wo sie nur konnte, während sie auf den Moment wartete, in dem sie sich so aufreihten, wie sie es wollte.
Dann war der Moment gekommen und Ceres zögerte keinen Moment. Vielleicht hatte sie nicht mehr die übermächtige Kraft und Schnelligkeit ihres Blutes, doch war sie noch immer schnell und stark genug. Sie brachte einen dazu, vor ihr auf die Knie zu sinken, dann warf sie ihre Schwerter über den Rand des Grabens und benutzte den Rücken jenes Zauberers als Sprungbrett, während dieser sich noch zu erholen versuchte. Sie sprang auf die Schultern des nächststehenden Feindes und sprang mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft auf den Rand des Grabens. Wenn sie sich jetzt verrechnete, dann hatte sie die einzigen Waffen, die ihr jetzt noch zu ihrer Verteidigung blieben, weggeworfen.
Sie prallte gegen den Felsen der Grabenmauer, ihre Hände umklammerten den Rand des Grabens während sie versuchte, sich hinaufzuziehen. Ceres spürte, wie etwas an ihrem Bein zog und kickte instinktiv nach ihrem Feind. Sie spürte, wie der Schädelknochen eines Zauberers unter ihrem Fuß zerbrach. Dieser Schwung war alles, was sie noch gebraucht hatte, und flugs kletterte Ceres über den Rand des Grabens, in den sie gefallen war.
Sie griff nach ihren Klingen und erhob sich, während die Zauberer unter ihr wütend kreischten.
„Wir kriegen dich!“ versprachen sie.
Einer schickte wütend brüllend ihr einen Zauberspruch hinterher. Ceres wich zur Seite aus. Doch er wirkte wie ein Signal für die anderen zum Angriff. Flammen und Blitze folgten ihr, als sie aus dem Raum floh, in dem der Graben lag. Ceres hörte, wie die Wände um sie herum einzustürzen begannen. Erst kleine, dann größere Felsen regneten auf sie nieder.
Ceres rannte verzweifelt weiter, während Felsen auf dem Boden abprallten oder, im Falle der größeren Exemplare, über ihn hinwegrollten. Sie warf sich nach vorne und rollte sich ab, sodass sie wieder auf den Füßen landete. Der Tunnel hinter ihr war jetzt blockiert.
Würde es die früheren Zauberer aufhalten? Wahrscheinlich nicht ewig. Wenn sie nicht starben, dann würden sie sich irgendwann hindurchgegraben haben. Aber vorerst würden sie Ceres nicht nachjagen können. Vorerst würde sie in Sicherheit sein.
Sie lief weiter durch die Tunnel ohne zu wissen, wohin sie laufen sollte. Sie vertraute instinktiv dem sanften Schein des Höhlenlichts. Ceres konnte sehen, wie sich der Tunnel vor ihr zu eine größeren Höhle öffnete, von deren Decke Stalaktiten hingen. Dort hörte sie auch Wasser plätschern, und Ceres trat erstaunt an den breiten Strom, der durch ihre Mitte floss.
Doch das war nicht alles. Dort gab es auch eine kleine Anlegestelle, an der ein Boot mit flachem Boden angebunden war. Ceres vermutete, dass dieses Boot dort schon viele Jahre lag und dennoch sah es nach wie vor robust aus. Stromabwärts konnte Ceres ein Licht erkennen, das ihr im Rest der Höhle noch nicht untergekommen war, und sie wusste aus irgendeinem Grund, dass sie ihm würde folgen müssen.
Sie kletterte in das Boot, löste den Knoten und überließ dem Strom alles Übrige. Das Wasser schwappte an die Seiten des kleinen Kahns, und Ceres spürte Erwartung in sich aufsteigen je weiter sie fuhr. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte solch ein Strom Bedenken in ihr geweckt, denn schließlich konnte er sie zu einem Wehr oder schlimmer noch zu einem Wasserfall führen. Jetzt hatte sie jedoch das Gefühl, dass der Strom einen Zweck erfüllte, der so angelegt war, sie an ihr Ziel zu bringen.
Das Boot führte sie durch einen Tunnel, der so eng war, dass Ceres die Wände zu beiden Seiten hätte berühren können. Vor ihr schimmerte das Licht nach dem Halbdunkel der Höhlen gleißend hell. Der Tunnel wich einem Ort, der nicht aus Felsen oder Stein bestand. Anstatt, wie erwartet, eine weitere Höhle vorzufinden, befand sich Ceres jetzt inmitten einer idyllischen Landschaft.
Ceres erkannte augenblicklich das Handwerk der Uralten wieder. Nur sie waren zu so etwas im Stande. Vielleicht hatten die Zauberer herausgefunden, wie sie eine vergleichbare Illusion heraufbeschworen, doch das hier fühlte sich echt an; es roch sogar nach frischem Gras und Tautropfen. Das Boot stieß gegen das Ufer und Ceres erblickte vor sich eine weite Wiese gefüllt mit Wildblumen, deren Duft ihr leicht süßlich in die Nase stieg. Einige von ihnen schienen sich zu bewegen, als sie an ihnen vorbeilief, und Ceres spürte, wie sich Dornen in ihr Bein gruben und diese schmerzhaft blutig schrammten.
Doch dann wichen sie zurück. Welche Verteidigungsfunktion sie auch immer erfüllten, sie waren nicht hier, um sie fernzuhalten.
Ceres brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass der Ort, durch den sie gerade schritt, zwei seltsame Dinge barg. Nun, seltsamer noch als ein Landschaftsstreifen inmitten eines Höhlenkomplexes.
Zunächst einmal hatten die Visionen der Vergangenheit aufgehört, in Erscheinung zu treten. In den Höhlen über ihr waren sie immer wieder aufgetaucht und hatten ihr den finalen Angriff der Uralten auf das Heim der Zauberer vor Augen geführt. Hier schien die Welt nicht zwischen zwei Zeitpunkten festzustecken. Hier war es so friedlich und eindeutig ohne die ständigen Verschiebungen, welche die restliche Insel heimsuchten.
Das andere war der Lichtdom im Zentrum, der sich golden über dem Grün seiner Umgebung erhob. Er war von der Größe eines enormen Hauses oder dem Zelt eines Nomadenherrn, doch er schien aus nichts als Energie zu bestehen. Zuerst dachte sie, es handelte sich bei ihm um einen Dom, der als eine Art Schild oder Wall fungierte, doch irgendwie wusste Ceres, dass er mehr als nur das war. Er war ein Ort gefüllt mit Leben, ein Zuhause.
Er war auch der Ort, so vermutete sie, an dem sie finden würde, wonach sie suchte. Es war beinahe das erste Mal, seitdem sie ihren Fuß in das Heim der Zauberer gesetzt hatte, dass Ceres Hoffnung in sich aufkeimen spürte. Vielleicht würde sie hier ihre Kräfte zurückgewinnen können.
Vielleicht würde sie Haylon doch noch retten können.
KAPITEL DREI
Auf ihrem Weg zur Knochenküste Felldusts litt Jeva unter den seltsamsten Gefühlsanwandlungen ihres Lebens: sie sorgte sich um ihr Leben.
Das war ein neues Gefühl für sie. Es war etwas, das ihr Volk normalerweise nicht empfand. Es war mit Sicherheit nichts, was sie gewollt hatte. Letztlich würde es wohl zu einer Art Irrlehre führen. Sie würde umherirren, die Möglichkeit sich zu den wartenden Toten zu gesellen greifbar und sich gleichzeitig um ihr Ableben sorgen. Ihresgleichen begrüßten den Tod, denn er bedeutete, dass sie eins wurden mit ihren Urahnen. Über die Gefahren machten sie sich dabei keine Sorgen.
Doch genau das war es, was Jeva jetzt empfand, während sich Felldusts Küstenlinie am Horizont abzuzeichnen begann. Sie hatte Angst, dass man sie für das, was sie ihnen mitzuteilen hatte, töten würde. Sie fürchtete, dass sie sie zu ihren Vorfahren schicken würden anstatt Haylon unter die Arme zu greifen. Sie fragte sich, was sie so verändert hatte.
Doch die Antwort darauf war nicht schwer: Thanos.
Jeva musste an ihn denken, während sie in Richtung ihrer Heimat segelte. Sie beobachtete die Seevögel, die in Scharen und auf die nächste Beute wartend über ihr kreisten. Bevor sie ihn getroffen hatte, war sie... nun, vielleicht nicht so wie alle gewesen, denn kaum jemand verspürte den Drang, den ganzen Weg nach Port Leeward und noch weiter zu spazieren. Dennoch hatte sie sich als eine von ihnen begriffen, war eine von ihnen gewesen. Sie hatte mit Sicherheit keine Angst empfunden.
Sie hatte nicht unbedingt Angst um sich selbst, auch wenn sie sehr genau wusste, dass ihr eigenes Leben hier auf dem Spiel stand. Sie machte sich größere Sorgen um diejenigen, die sie auf Haylon zurückgelassen hatte, wenn sie es nicht zurückschaffte; zu Thanos.
Das war ein weiterer Irrglaube. Die Lebenden hatten keinerlei Bedeutung, außer sie erfüllten die Wünsche der Toten. Wenn eine ganze Insel unter einer Besatzungsmacht ausgelöscht wurde, dann war dies eine ruhmvolle Ehre und nicht als ein bevorstehendes Desaster anzusehen. Das Leben war dazu da, die Wünsche der Toten zu erfüllen und selbst ein Ende zu finden, das in angemessener Weise ruhmvoll war. Die Sprecher der Toten hatten das sehr deutlich gemacht. Jeva hatte sogar selbst das Flüstern der Toten gehört, damals als der Rauch aus den Feuerstätten gequollen war.
Sie segelte weiter, drängte diese Gedanken beiseite und spürte, wie die Wellen an dem Ruderbock rissen, mit dem sie das kleine Boot auf Heimatkurs hielt. Jetzt hörte sie andere Stimmen. Stimmen, die um Mitgefühl baten, darum Haylon zu retten und Thanos zu helfen.
Sie hatte gesehen, wie er sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um selbstlos anderen zu helfen. Als sie selbst wie eine Galionsfigur auf einem Felldustschiff festgebunden darauf gewartet hatte, ausgepeitscht zu werden, war er gekommen, um sie zu retten. Als sie Seite an Seite gekämpft hatten, war sein Schild auf eine Weise, die ihr in ihrem Volk noch nie untergekommen war, auch das ihre gewesen.
Sie hatte in Thanos etwas gesehen, das sie bewundern konnte. Vielleicht mehr als nur bewundern. Sie hatte in ihm jemanden gesehen, der in dieser Welt sein Bestes gab und nicht nur um eines ruhmvollen Todes willen. Die neuen Stimmen, die Jeva vernahm, sagten ihr, dass auch sie so Leben sollte und dass Haylon zu helfen, Teil davon sein würde.
Das Problem war, dass Jeva wusste, dass diese Stimmen aus ihr selbst kamen. Sie hätte nicht so sehr auf sie hören sollen. Ihr Volk hätte das mit Sicherheit nicht getan.
„Das, was von ihm übrig ist“, sagte Jeva und der Wind trug ihre Worte davon.
Das Dorf ihres Stammes gab es nicht mehr. Jetzt würde sie zu einem anderen Versammlungsort fahren, um einen anderen Teil ihres Volkes um ihre Leben zu bitten. Jeva hob den Blick und beobachtete, wie der Wind das kleine Segel des Boots aufblähte, dann blickte sie auf das Spiel des Schaums auf dem Meereswasser; sie versuchte sich abzulenken und nicht an das zu denken, was es sie kosten würde, um das zu erreichen, was sie erreichen wollte. Dennoch tauchten die Worte in ihrem Kopf auf als wären sie unausweichlich wie das Ende des Lebens.
Sie würde behaupten müssen, im Namen der Toten zu sprechen.
Es hatte der Worte der Toten bedurft, um sie nach Delos zu holen, auch wenn Jeva und Thanos nicht behauptet hatten, in ihrem Namen zu sprechen. Doch Jeva durfte es in diesem Fall nicht den Sprechern überlassen. Die Chance, dass sie nein sagen würden, war zu groß und dann, was würde dann geschehen?
Ihr Freund würde sterben. Das durfte sie nicht zulassen. Auch wenn es bedeutete, etwas Undenkbares zu tun.
Jeva steuerte ihr Boot an Felsen und an den an ihnen zerschellten Wracks vorbei gen Ufer. Das war nicht der Strand in der Nähe ihrer alten Heimat, sondern ein anderer großer Versammlungsort weiter die Küste hinauf. Sie hatten sie Schiffswracks sorgfältig geplündert. Jeva grinste. Das machte sie ein klein wenig stolz.