Boote kamen über das Wasser auf sie zu. Die meisten waren einfache Gefährte, Kanoes mit Auslegern, die gebaut worden waren, um diejenigen Schiffe abzufangen, die augenscheinlich nicht zur Flotte des Knochenvolks gehörten. Wenn Jeva nicht offensichtlich eine von ihnen gewesen wäre, dann hätte sie um ihr Leben bangen müssen. So scharrten sie sich um sie und lachten und scherzten auf eine Weise, die sie nicht an den Tag gelegt hätten, wenn sie eine Fremde gewesen wäre.
„Ein schönes Boot, Schwester. Wie viele Männer musstest du dafür töten?“
„Töten?“ fragte ein anderer. „Bei ihrem Anblick sind sie wahrscheinlich aus Angst freiwillig abgetreten!“
„So hässlich wie du bist, würden sie auch sofort abtreten“, schoss Jeva zurück und der Mann stimmte in ihr Lachen mit ein. So wurden die Dinge hier nun einmal getan.
Wie die Dinge getan wurden, war äußerst wichtig. Außenseitern mochte ihr Volk seltsam vorkommen, doch hatten sie ihre eigenen Regeln, ihren eigenen Verhaltenskodex. Jetzt war Jeva auf dem Weg zu ihnen, und wenn sie gleich behaupten würde, im Namen der Toten zu sprechen, dann würde sie eine der fundamentalsten dieser Regeln brechen. Sie riskierte damit aus der Gemeinschaft der Toten ausgeschlossen zu werden, getötet zu werden, ohne dass ihre Asche in die Feuerstätte gekippt wurde, um so aufgenommen zu werden.
Sie steuerte ihr Boot ans Ufer, sprang heraus und zog es an den Strand. Dort warteten weitere Mitglieder ihres Volks. Ein Mädchen rannte mit einer Urne in der Hand auf sie zu und bot ihr eine Prise der Asche des Dorfes an. Jeva nahm davon und probierte. Symbolisch wurde sie so in die Dorfgemeinschaft, in die Gemeinschaft ihrer Ahnen aufgenommen.
„Willkommen Priesterin“, sagte einer der Männer am Strand. Er war ein alter Mann mit papierdünner Haut und er begegnete Jeva wegen ihrer Male, die davon zeugten, dass sie den Ritus vollzogen hatte, mit Ehrerbietung. „Was führt eine Sprecherin der Toten an unsere Ufer?“
Jeva stand da und dachte nach. Es schien so leicht, zu behaupten, dass sie im Namen jener sprach, die nicht mehr waren. Sie hatte ihren Teil der Visionen gesehen; als sie noch ein Mädchen gewesen war, hatte es jene gegeben, die ihr eine große Zukunft als Sprecherin der Toten vorausgesagt hatten. Einer der älteren Sprecher hatte verkündet, dass sie Worte sagen würde, die ihr gesamtes Volk bewegen würde.
Wenn sie behauptete, dass die Toten sie hierher gerufen hatten, um ihnen mitzuteilen, auf Haylon zu kämpfen, dann würden sie es ohne zu zögern glauben. Sie würden sich ihrer geliehenen Autorität unterordnen, wo sie sich doch sonst so selten unterordneten.
Wenn sie es tat, dann würde sie Haylon vielleicht tatsächlich retten können. Vielleicht würden sie so eine Chance haben, den Angriff der Felldustflotte abzuwehren. Vielleicht würden sie den Verteidigern der Insel zumindest etwas Zeit verschaffen. Vorausgesetzt sie log.
Doch das konnte Jeva nicht. Es ging dabei nicht nur um die eigentliche Lüge, auch wenn sie diese als überaus furchtbar empfand. Es war auch nicht die Tatsache, dass sie gegen all das verstieß, was ihrem Volk in dieser Welt etwas bedeutete. Nein, es war die Tatsache, dass Thanos nicht gewollt hätte, dass sie so weit ging. Er hätte nicht gewollt, dass andere Menschen in ihren Tod gelockt oder dazu gezwungen wurden, sich Felldust entgegenzustellen, ohne über die wahren Beweggründe Bescheid zu wissen.
„Priesterin?“ fragte der alte Mann. „Bist du gekommen, um im Namen der Toten zu sprechen?“
Was hätte er sonst getan? Jeva kannte bereits die Antwort auf diese Frage, denn sie hatte gesehen, was er getan hatte als er das letzte Mal im Land ihres Volkes gewesen war. Und all das, was er seitdem getan hatte.
„Nein“, sagte sie. „Ich bin nicht gekommen, um im Namen der Toten zu sprechen. Ich bin Jeva, und heute will ich im Namen der Lebenden sprechen.“
KAPITEL VIER
Irrien lief an den Leichen gefallener Krieger vorbei. Er blickte über das Blutbad, das seine Armeen angerichtet hatten, ohne die Zufriedenheit zu spüren, die er für gewöhnlich dabei empfand. Um ihn lagen die Männer des Nordens tot oder im Sterben, besiegt durch seine Armeen und hingerichtet durch seine Henker. Für Irrien hätte dies ein Moment des Triumphs sein sollen. Er hätte in gleichem Maße Freude empfinden sollen oder seine Macht, angesichts der abgeschlachteten Feinde, bestätigt sehen sollen.
Doch er fühlte sich vielmehr um seinen Sieg betrogen.
Ein Mann in der schimmernden Rüstung seiner Feinde stöhnte neben ihm im Matsch. Er klammerte sich trotz der ihm zugefügten Wunden an sein Leben. Irrien zog den Speer aus einer anderen Leiche in seiner Nähe und rammte ihn in den Mann. Selbst einen Schwächling wie ihn zu töten, trug nichts zur Verbesserung seiner Stimmung bei.
In Wahrheit war es schlicht zu einfach gewesen. Es waren zu wenige Feinde gewesen, als dass dieser Kampf es wert gewesen wäre. Sie waren über den Norden hergefallen, waren mordend durch die Dörfer und kleinen Schlösser gezogen und hatten Lord Wests ehemalige Festung zerstört. Überall waren sie auf leere Häuser und noch leerere Schlösser gestoßen. Die Menschen hatten ihr Heim rechtzeitig verlassen, um den nahenden Horden zu entkommen.
Das war nicht nur deshalb ernüchternd, weil es ihm wichtige Siege gekostet hatte, mit denen er gerechnet hatte. Es war vor allem ernüchternd, weil seine Feinde noch immer dort draußen waren. Irrien wusste auch wo, weil der Feigling, der in Lord Wests Schloss zurückgeblieben war, es ihm gesagt hatte: sie waren auf Haylon und befestigten die Insel, die er nur mit einem Teil seiner Truppen hatte erobern wollen.
Das führte dazu, dass jeder Moment, den Irrien hier verbrachte, sich wie ein Kratzen an der Oberfläche anfühlte. Doch auch hier gab es noch Dinge, die erledigt werden mussten. Er blickte sich nach seinen Männern um, die neben den frisch gemachten Sklaven eines der Schlösser niederrissen, die hier wie Pilze nach einem Regenfall aus dem Boden zu sprießen schienen. Irrien würde solche Dinge nicht unerledigt zurücklassen, denn das hätte seinen Feinden die Möglichkeit gelassen, sich hier erneut zu versammeln.
Außerdem schienen seine Männer mit dem leichten Sieg mehr als zufrieden zu sein. Irrien sah, wie einige, die nicht zur Arbeit eingeteilt worden waren, in der Sonne faulenzten, um geraubte Münzen spielten oder Gefangene, die sie sich zu ihrer Unterhaltung geholt hatten, quälten.
Natürlich gab es die typischen Mitläufer. Irgendjemand hatte ein Sklavenlager aufgemacht, das wie ein Schatten am Rand des Armeecamps lag. Seine Wägen und Käfige füllten sich flink. In der Mitte gab es einen klar umgrenzten Platz, auf dem die Sklavenhalter um die besten und schönsten Sklaven feilschten, auch wenn sie in Wahrheit nahmen, was die Soldaten bereit waren, ihnen zu zahlen. Diese Männer waren Plünderer, keine eigentlichen Krieger.
Dann gab es da noch die Todespriester. Sie hatten ihre Altäre in der Mitte des Schlachtfeldes aufgebaut, so wie sie es oft taten. Soldaten schleppten verwundete Feinde zu ihnen, damit man ihnen dort den Hals durchschnitt oder das Herz herausstach. Ihr Blut floss, und Irrien stellte sich vor, wie sehr das den Göttern der Priester gefallen musste. Die Priester schienen zumindest davon überzeugt zu sein und ermahnten die Gläubigen, sich ganz dem Tode zu weihen, so als wäre es der einzige Weg, ihre Gunst zu erlangen.
Einer der Männer schien sie tatsächlich ernst zu nehmen. Er war in der Schlacht offenbar verwundet worden und zwar so ernsthaft, dass er die Hilfe seiner Gefährten benötigte, um zu der Totenbank zu gelangen. Irrien beobachtete, wie er hinauf kletterte und seine Brust entblößte, sodass die Priester ihn mit einem Messer aus dunklem Obsidian erstechen konnten.
Irrien pfiff auf einen Mann, der nicht willens war, sich seinen Weg zurück ins Leben zu erkämpfen. Schließlich ließ auch Irrien sich nicht von seinen alten Wunden aufhalten, oder? Seine Schulter schmerzte bei jeder Bewegung, doch er bot sich nicht als Opfergabe an, um den Tod von anderen abzuwenden. Seiner Erfahrung nach wandte man den Tod am besten dadurch ab, indem man der stärkere von zwei Kriegern war. Stärke bedeutete, dass man sich nehmen konnte, was man wollte, sei es das Land eines anderen, dessen Leben oder Frau.
Irrien überlegte kurz, was die Todesgötter der Priester darüber denken würden. Er betete sie nicht an außer zu dem Zweck, seine Männer zusammenzubringen. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt existierten außer als Kontrollinstrument der Priester, die nicht genug eigene körperliche Stärke besaßen.
Er vermutete, dass diese Zweifel den Göttern nicht sonderlich gefielen, doch hatte Irrien nicht mehr Männer, Frauen und Kinder ins Grab geschickt als jeder andere? Hatte nicht er ihnen genügend Opfer gebracht, ihre Priesterschaft gefördert und die Welt in einen Ort verwandelt, der ihnen gefallen würde? Irrien hatte es vielleicht nicht für sie getan, aber er hatte es dennoch getan.
Er stand noch eine Weile da und lauschte den Worten des Priesters.
„Brüder! Schwestern! Heute haben wir einen großen Sieg errungen. Heute haben wir viele durch die schwarze Tür in das Jenseits gesandt. Heute haben wir den Göttern gefallen, sodass sie uns nicht schon morgen zu sich rufen werden. Der heutige Sieg – “
„Es war kein Sieg“, sagte Irrien und seine Stimme trug mühelos über die des Priesters hinweg. „Für einen Sieg muss es einen Kampf geben, der es wert ist, so genannt zu werden. Kann man es einen Sieg nennen, wenn man leerstehende Häuser einnimmt? Wenn man die Idioten abschlachtetet, die zurückgeblieben sind, während andere genug Hirn hatten wegzulaufen?“ Irrien blickte sich um. „Wir haben heute getötet, und das ist gut, aber es gibt noch sehr viel mehr zu tun. Heute werden wir die Sache hier zu einem Ende bringen. Wir werden ihre Schlösser einreißen und ihre Familien den Sklavenhaltern übergeben. Doch schon morgen werden wir zu einem Ort aufbrechen, an dem es einen Sieg zu erringen gibt. Zu einem Ort, an den ihre Krieger uns vorausgeeilt sind. Wir werden nach Haylon fahren!“
Er hörte, wie seine Männer zu jubeln begannen, ihre Lust zu kämpfen war durch das Töten heute wieder entfacht worden. Er wandte sich an den dort stehenden Priester.
„Was sagst du? Ist es nicht der Wille der Götter?“
Der Priester zögerte nicht. Er nahm sein Messer und schlitzte die Leiche auf dem Altar auf. Er zog seine Eingeweide heraus und begann darin zu lesen.
„So ist es, Lord Irrien. Ihr Wille folgt in diesem Fall dem Euren! Irrien! Ir-ri-en!“
„Ir-ri-en!“ skandierten die Soldaten.
Der Mann wusste also, wo er hingehörte. Irrien grinste und mischte sich unter die Menge. Es überraschte ihn nicht besonders, als eine bemäntelte Gestalt hinter ihm auftauchte und ihm im Gleichschritt folgte. Irrien zog einen Dolch, ohne zu wissen, ob er von ihm würde Gebrauch machen müssen.
„Du hast nichts von dir hören lassen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben, N’cho“, sagte Irrien. „Ich warte nicht gerne.“
Der Mörder verneigte sich. „Ich habe Nachforschungen über das, worum Ihr mich gebeten hattet, angestellt, Erster Stein. Ich habe andere Priester gefragt, verbotene Schriftrollen gelesen und jene gefoltert, die nicht reden wollten.“
Irrien war sich sicher, dass der Anführer der Zwölf Tode viel Spaß gehabt hatte. N’cho war schließlich der Einzige gewesen, der den Angriff auf Irrien überlebt hatte. Irrien begann sich zu fragen, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
„Du hast gehört, was ich den Männern gesagt habe“, sagte Irrien. „Wir fahren nach Haylon. Das heißt, dass wir es mit dem Kind der Uralten zu tun bekommen werden. Hast du eine Antwort für mich gefunden oder muss ich dich als nächste Opfergabe dort hoch schleppen?“
Er sah, wie der andere Mann mit dem Kopf schüttelte. „Leider sind die Götter nicht sonderlich erpicht darauf, mich kennenzulernen, Erster Stein.“
Irriens Augen verengten sich. „Das heißt?“
N’cho trat zurück. „Ich glaube, dass ich gefunden habe, wonach Ihr gesucht habt.“
Irrien machte dem anderen Mann ein Zeichen, ihm zurück zu seinem Zelt zu folgen. Ein Blick genügte und die Wachen und Sklaven, die dort standen, eilten eilig davon, sodass die beiden ungestört sein würden.
„Was hast du gefunden?“ fragte Irrien.
„Es gab... Kreaturen, die im Krieg gegen die Uralten eingesetzt wurden“, sagte N’cho.
„Die wären längst alle tot“, wandte Irrien ein.
N’cho schüttelte den Kopf. „Sie können noch immer erweckt werden, und ich glaube eine Stelle gefunden zu haben, wo das möglich ist. Doch es wird viele Leben kosten.“
Irrien lachte. Das war ein Nichts, wenn das der Preis für Ceres’ Leben war.
„Der Tod“, sagte er, „lässt sich stets ohne große Mühe arrangieren.“
KAPITEL FÜNF
Stephania beobachtete Kapitän Kang mit einem Blick, der einen Ekel verriet, der ihr bis in die Seele drang. Der massige Körper bebte, während er schnarchte, und Stephania musste zurückweichen, als er im Schlaf versuchte, sie zu fassen zu bekommen. Schon im Wachzustand hatte er das viel zu häufig getan.
Stephania hatte ihre Liebhaber immer mühelos dazu gebracht, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Genau das hatte sie schließlich auch mit dem Zweiten Stein vor. Doch Kang war alles andere als ein sanfter Mann gewesen, und er schien Gefallen daran gefunden zu haben, Stephania immer wieder neuen Demütigungen auszusetzen. Er behandelte sie wie die Sklavin, die sie kurzzeitig unter Irrien gewesen war. Dabei hatte Stephania sich selbst geschworen, genau das nie wieder zu sein.
Dann hatte sie das Geflüster der Mannschaft vernommen: dass sie vielleicht gar nicht sicher ankommen würden. Dass der Kapitän alles behalten würde, was sie ihm gegeben hatte und sie sie letztlich doch als Sklavin verkaufen würden. Dass er doch zumindest so freigiebig sein sollte, sie mit ihnen zu teilen.
Das würde Stephania nicht zulassen. Sie würde lieber sterben, doch es würde leichter sein anstatt sich selbst zu töten.
Sie schlüpfte leise aus dem Bett und blickte durch eines der kleinen Fenster der Kapitänskajüte. Port Leeway war zum Greifen nah. Selbst in der Morgendämmerung konnte sie erkennen, wie Staub von den Felsen auf die Stadt fiel. Die Stadt war hässlich, zerfallen und übervölkert. Selbst von hier konnte Stephania erkennen, wie gefährlich dieser Ort war. Kang hatte gesagt, dass er nicht wagte, nachts dort anzulegen.
Stephania hatte vermutet, dass dies nur eine Ausrede gewesen war, um sie ein letztes Mal zu benutzen, aber vielleicht steckte auch mehr dahinter. Der Sklavenmarkt würde nachts schließlich nicht offen sein.
Sie traf eine Entscheidung und kleidete sich leise an. Sie hüllte sich in ihren Umhang und griff in eine der Taschen. Eine kleine Flasche und ein wenig Gran kamen zum Vorschein, und sie handhabte sie mit der Geschicklichkeit einer Person, die genau wusste, was sie dort tat. Wenn sie jetzt einen Fehler machte, würde er ihren Tod bedeuten entweder durch Vergiftung oder durch den wach werdenden Kang.
Stephania positionierte sich über dem Bett und ließ den Faden so präzise wie möglich über Kangs Mund baumeln. Er warf sich im Schlaf hin und her, und Stephania folgte ihm in seinen Bewegungen stets darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Wenn er jetzt aufwachte, dann würde sie in seiner Reichweite stehen.