Sie ließ das Gift tröpfchenweise den Faden hinab rinnen und versuchte sich zu konzentrieren, während Kang etwas in seinem Schlaf murmelte. Ein Tropfen rann über seine Lippen, dann ein zweiter. Stephania machte sich auf den Augenblick gefasst, in dem das Gift wirken und er nach Luft schnappend den letzten Atemzug aushauchen würde.
Doch dann öffnete er seine Augen und starrte Stephania für einen Moment erst verwirrt, dann wütend an.
„Schlampe! Sklavin! Dafür wirst du mit dem Leben bezahlen.“
Eine Sekunde später hatte er Stephania unter sich begraben und drückte sie auf das Bett. Er schlug sie, dann spürte sie seine Hände um ihren Hals, die sich wie eine Schlinge zuzogen. Nach Atem ringend begann Stephania um sich zu schlagen, um ihn von sich zu stoßen.
Doch Kang erdrückte sie mit dem Gewicht seines Körpers und nagelte Stephania so unter sich fest. Sie schlug um sich, doch er lachte nur und würgte sie weiter. Er lachte noch immer als Stephania ein Messer aus ihrem Umhang zog und nach ihm zu stechen begann.
Er keuchte mit dem ersten Hieb, doch hatte Stephania nicht das Gefühl, dass der Druck auf ihren Hals nachließ. Langsam wurde ihr schwarz vor Augen, doch sie stach weiter wie mechanisch zu. Sie agierte blind, denn sie schien jetzt von einem undurchdringbaren Schleier umgeben zu sein.
Dann lockerte sich der Griff um ihren Hals, und Stephania spürte, wie Kangs Körper auf ihr erschlaffte.
Es dauerte viel zu lange, unter seinem Körper hervorzukriechen. Sie rang nach Atem und versuchte wieder voll zu Bewusstsein zu kommen. Sie fiel förmlich aus dem Bett. Doch dann stand sie auf und blickte angeekelt auf die Überreste von Kangs leblosem Körper.
Sie musste praktisch denken. Sie hatte getan, was sie hatte tun wollen, wie schwierig es auch gewesen war. Jetzt würde sie sich noch um den Rest kümmern.
Sie drapierte die Laken so, dass es auf den ersten Blick so aussah, als würde er nur schlafen. Sie durchquerte seine Kabine schnellen Schrittes und griff nach dem kleinen Kästchen, in dem Kang sein Gold aufbewahrte. Stephania schlüpfte auf das Deck und lief mit aufgesetzter Kapuze auf das kleine Landungsboot am Heck des Schiffes zu.
Stephania stieg hinein und begann es ins Wasser zu lassen. Die Seile ächzten wie ein verrostetes Tor, und irgendwo über ihr hörte sie die Rufe von Matrosen, die wissen wollten, woher die Geräusche kamen. Stephania zögerte nicht. Sie zog ein Messer und begann an den Seilen, die das Boot hielten, zu sägen. Schnell waren sie durchtrennt und ihr Boot plumpste den kurzen Weg hinab in die Wellen.
Sie griff nach den Rudern und setzte ihr Boot in Bewegung. Sie steuerte bereits den Hafen an, als die Matrosen hinter ihr realisierten, dass sie keine Möglichkeit mehr hatten, ihr nachzufolgen. Stephania ruderte, bis sie gegen das Holz der Anlegestelle stieß. Sie kletterte hinaus und machte sich nicht einmal die Mühe es festzubinden. Sie würde nicht auf diesem Wege zurückfahren.
Felldusts Hauptstadt erfüllte, was sie vom Wasser aus versprochen hatte. Staub fiel in Wellen auf die Stadt nieder, während Gestalten mit ominösen Absichten an ihr vorbeihuschten. Eine kam auf sie zu und Stephania zückte ein Messer, bis die Gestalt zurückwich.
Sie lief tiefer in die Stadt hinein. Stephania wusste, dass Lucious hier gewesen war, und sie fragte sich, wie er sich dabei gefühlt haben musste. Wahrscheinlich hilflos, denn Lucious wusste nicht, wie man sich Freunde machte. Er glaubte, dass er auf die Menschen zustürmen und sie durch Drohungen und Einschüchterungen dazu bringen konnte, das zu tun, was er wollte. Er war ein Idiot gewesen.
Stephania würde nicht so dumm sein. Sie blickte sich um, bis sie diejenigen ausgemacht hatte, die die wichtigen Informationen haben würden: die Bettler und Prostituierten. Sie ging mit ihrem gestohlenen Gold zu ihnen und fragte ein ums andere Mal die gleiche Frage.
„Erzählt mir etwas über Ulren.“
Sie fragte in den Gassen und sie fragte in den Spielhöllen, wo die Einsätze genauso oft mit Blut wie mit barer Münze beglichen wurden. Sie fragte in Geschäften, die Schals gegen den Staub verkauften und sie fragte dort, wo Diebe sich im Dunkeln trafen.
Sie wählte eine Gaststube und ließ sich nieder. Dann verbreitete sie in der Stadt die Kunde, dass es für diejenigen, die bereit waren, zu reden, bei ihr Gold zu holen gab. Sie kamen und erzählten ihr eine Mischung aus kleinen Anekdoten und Gerüchten, Klatsch und Tratsch und Geheimnissen, die Stephania nur allzu gut einzuordnen wusste.
Es überraschte sie nicht, als zwei Männer und eine Frau an sie herantraten. Sie trugen Gewänder, die sie vor dem Staub schützen sollten. Auf ihnen prangte das Emblem des Zweiten Steins. Sie sahen aus, als wären sie den Anblick von Gewalt gewohnt, auch wenn das auf beinahe jeden hier in Felldust zutraf.
„Du stellst jede Menge Fragen“, sagte die Frau und lehnte sich über den Tisch. Sie war Stephania jetzt so nah, dass sie ihr mühelos ein Messer in den Leib hätte rammen können. So nah, dass man sie auf einem höfischen Ball für lästernde Vertraute hätte halten können.
Stephania grinste. „Das tue ich.“
„Dachtest du, dass dieses Fragenstellen keine Aufmerksamkeit wecken würde? Dass der Erste Stein keine Spione hat, die in den Schatten lauern?“
Daraufhin musste Stephania laut lachen. Glaubten sie, dass sie die Möglichkeit, dass Spione sie beobachteten, nicht in Erwägung gezogen hatte? Sie hatte mehr als nur das getan; sie hatte darauf gesetzt. Sie hatte in der Stadt nach Antworten gesucht, doch in Wahrheit hatte sie nichts mehr gesucht als Aufmerksamkeit. Jeder Trottel konnte zu einem Tor laufen und dort abgewiesen werden. Eine kluge Frau brachte diejenigen, die drinnen saßen dazu, zu ihr zu kommen.
Noch mehr amüsierte Stephania der Gedanke, dass sich niemals nur die Frau in einer romantischen Beziehung auf die Jagd machen sollte.
„Was ist bitte so lustig?“ fragte die Frau. „Bist du verrückt oder einfach nur dumm? Wer bist du überhaupt?“
Stephania zog ihre Kapuze zurück, sodass die andere Frau ihr Gesicht erkennen konnte.
„Ich bin Stephania“, sagte sie. „Einst die Braut des Thronerben des Reichs, des ehemaligen Herrschers des Reichs. Ich habe den Fall von Delos überlebt und Irriens Versuche, mich zu töten. Ich denke, euer Herr wird sicherlich mit mir sprechen wollen, oder?“
Sie stand auf, während die anderen sich anblickten und offenbar zu entscheiden versuchten, was sie nun am besten tun sollten. Dann traf die Frau die Entscheidung.
„Wir bringen sie hin.“
Sie nahmen Stephania zwischen sich, doch sie lief einen Schritt vor ihnen, sodass es eher so aussah, als eskortierten sie eine Adlige und nicht, als würden sie sie gefangen nehmen wollen. Sie streckte sogar ihre Hand aus, um sie sanft auf den Arm der Frau zu legen, so als würde sie mit einer Gefährtin durch einen Garten spazieren.
Sie führten sie durch die Stadt, und da der Staubsturm gerade einmal nicht über die Kliffen blies, setzte Stephania erst gar nicht ihre Kapuze wieder auf. Die Menschen sollten sie sehen, denn sie wusste, dass sie so die Gerüchte über ihre Identität und das, was sie hier vorhatte, in Gang setzen konnte.
Natürlich war es noch immer kein wirklich angenehmer Gang, auch wenn sie es anders aussehen ließ. Sie wurde noch immer von Mördern eskortiert, die sie ohne mit der Wimper zu zucken, ermorden würden, wenn Stephania ihnen Grund dazu gab. Als sie sich einem großen Gebäude im Herzen der Stadt näherten, spürte Stephania einen Knoten im Hals, den sie nur herunterschlucken konnte, indem sie sich entschlossen vergegenwärtigte, warum sie nach Felldust gekommen war. Sie würde sich an Irrien rächen. Sie würde dem Zauberer ihren Sohn wieder entreißen.
Sie führten sie durch ein Gebäude, vorbei an Arbeitssklaven und trainierenden Kriegern, an Statuen, die den jugendlichen Ulren über den Leichen abgeschlachteter Feinde stehend abbildeten. Stephania hatte keinen Zweifel, dass er ein gefährlicher Mann war. Gleich an zweiter Stelle nach Irrien zu stehen, bedeutete, dass er sich seinen Weg an die Spitze eines der gefährlichsten Orte überhaupt erkämpft hatte.
Hier zu verlieren bedeutete zu sterben oder Schlimmeres, doch Stephania hatte nicht vor, zu verlieren. Sie hatte während der Besatzung und auch durch den misslungenen Versuch, Irrien zu kontrollieren, ihre Lektion gelernt. Dieses Mal hatte sie ihm etwas anzubieten. Ulren wollte das gleiche wie sie: Macht und den Tod des Ersten Steins.
Stephania hatte schon von Leuten gehört, die ihre Ehen aus schlimmeren Gründen eingingen.
KAPITEL SECHS
Ceres trat aus dem kleinen Boot ans Ufer. Die Tatsache, dass solch ein Ort so tief unter der Erde existieren konnte, erfüllt sie mit Ehrfurcht. Sie wusste, dass die Kräfte der Uralten im Spiel waren, aber sie konnte nicht verstehen, warum sie ihn geschaffen hatten. Warum würden sie einen Garten inmitten eines Alptraums bauen?
Auch wenn sie nicht viel über die Uralten wusste, so überraschte sie die Tatsache eigentlich nicht, dass ein Alptraum ein hinreichender Grund für sie war, einen solchen Garten zu schaffen.
Dann gab es da noch den Dom, der aus einem güldenen Licht zu sein schien. Ceres näherte sich ihm. Wenn es hier eine Antwort gab, dann würde sie sie irgendwo innerhalb des Doms finden.
Das Licht wurde von einem feinen Regenmantel durchdrungen, und dahinter konnte Ceres zwei Gestalten erkennen. Sie hoffte, dass es nicht zwei weitere halbtote Zauberer sein würden. Ceres war sich nicht sicher, ob sie noch die Kraft besitzen würde, es mit ihnen aufzunehmen.
Ceres trat in das Licht, und sie machte sich bereit, zurückgeschleudert zu werden. Doch sie spürte nur kurz einen Widerstand, und dann war sie auf der anderen Seite und blickte sich innerhalb des Domes um.
Das Innere sah aus wie ein prächtiger Raum, mit Teppichen und Divans, Statuen und Ornamenten, die von der Decke des Doms zu hängen schienen. Dort fand sie auch anderes vor: Glaswaren und Bücher, die auf die Kunst eines Zauberers hindeuteten.
Zwei Gestalten standen inmitten des Raums. Der Mann strahlte die gleiche Anmut und Friedseligkeit aus, die Ceres an ihrer Mutter beobachtet hatte, und er trug die blassen Gewänder, die sie in den Erinnerungen an die Uralten gesehen hatte. Die Frau trug die dunklen Kleider eines Zauberers, doch im Gegensatz zu den anderen schien sie noch immer jung und ohne erkennbare Spuren der Zeit.
Als Ceres sie ansah, bemerkte sie, dass ihre Erscheinungen so wie die Erinnerungen an die Vergangenheit leicht durchsichtig waren.
„Sie sind nicht echt“, sagte sie.
Der Mann lachte. „Hörst du das, Lin? Wir sind nicht echt.“
Die Frau griff nach seinem Arm. „Ein verständliches Missverständnis. Nach all der Zeit sehen wir wahrscheinlich nur noch wie blasse Schatten unserer Selbst aus.“
Das überraschte Ceres ein wenig. Wie automatisch streckte sie ihren Arm nach dem Mann aus. Ihre Hand glitt durch seine Brust hindurch. Da erkannte sie, was sie gerade getan hatte.
„Tut mir leid“, sagte sie.
„Schon gut“, sagte der Mann. „Ich kann mir vorstellen, dass das ein bisschen seltsam sein muss.“
„Was seid ihr?“ fragte sie. „Ich habe die Zauberer dort oben gesehen, und ihr seid nicht wie sie, ihr seid aber auch keine der Erinnerungen, denn die sind nichts als bloße Bilder.“
„Wir sind etwas... anderes“, sagte die Frau. „Ich bin Lin, und das hier ist Alteus.“
„Ich bin Ceres.“
Ceres bemerkte, wie nah die beiden beieinander standen; wie Lins Hand auf Alteus’ Schulter ruhte. Die beiden sahen aus, als wären sie schwer verliebt. Würden Thanos und sie jemals so enden? Wahrscheinlich zumindest nicht derart durchsichtig.
„Die Schlacht tobte“, sagte Alteus, „und wir konnten sie nicht aufhalten. Was die Zauberer vorhatten, war falsch.“
„Einige von euch waren nicht besser“, sagte Lin mit leichtem Lächeln als hätten sie diese Unterhaltung schon viele Male gehabt. „Es ist alles so schnell gegangen. Die Uralten haben die Zauberer so wie sie waren eingesperrt und ihre Magie hat Vergangenheit und Zukunft zu vermischen begonnen, und Alteus und ich...“
„Aus euch ist etwas anderes geworden“, endete Ceres. Empfindende Erinnerungen. Geister der Vergangenheit, die einander berühren konnten, wenn auch sonst nichts anderes.
„Ich hab irgendwie das Gefühl, dass du dir deinen Weg nicht bis hierher gebahnt hast, um etwas über uns herauszufinden“, sagte Alteus.
Ceres schluckte. Das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte einen Gegenstand erwartet, vielleicht etwas wie einen Verbindungspunkt, der die Magie in den Gewölben über ihr am Leben hielt. Dennoch hatte der Uralte vor ihr Recht: sie war aus einem bestimmten Grund hierhergekommen.
„In meinen Adern fließt das Blut der Uralten“, sagte sie.
Sie sah Alteus nicken. „Das kann ich sehen.“
„Aber etwas in ihr hält es zurück“, sagte Lin. „Schränkt es ein.“
„Jemand hat mich vergiftet“, sagte Ceres. „Sie hat mir meine Kräfte genommen. Meine Mutter konnte sie für eine kurze Weile wiederherstellen, aber das hat nicht angehalten.“
„Daskalos’ Gift“, sagte Lin leicht angewidert.
„Unheilvoll“, sagte Alteus.
„Aber nicht unumkehrbar“, fügte Lin hinzu. Sie blickte zu Ceres. „Wenn sie es wert ist. Es tut mir leid, aber dazu bräuchte man enorme Kräfte. Wir haben gesehen, was es anrichten kann.“
„Und da wir nun mal sind wie wir sind, bräuchte es einiges, um die Wirkung rückgängig zu machen“, sagte Alteus.
Lin griff nach seinem Arm. „Vielleicht ist es an der Zeit, etwas Neues zu entdecken. Wir sind schon seit Hunderten von Jahren hier. Auch wenn es uns hier an nichts fehlt, vielleicht sollten wir sehen, was als nächstes kommt.“
Ceres starrte sie an, als sie das hörte und vergegenwärtigte sich, was diese Worte bedeuten würden.
„Wartet, mich zu heilen, würde euch töten?“ Sie schüttelte den Kopf, doch dann tauchten Gedanken an Thanos vor ihrem inneren Auge auf und an die anderen auf Haylon. Wenn sie es nicht schaffte, dann würden auch sie sterben. „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, gab sie zu. „Ich will nicht, dass jemand für mich stirbt, aber viele Menschen werden sterben, wenn ich meine Kräfte nicht zurückgewinne.“
Sie sah, wie die beiden Geister sich ansahen.
„Das ist doch ein guter Anfang“, sagte Alteus. „Denn er bedeutet, dass es einen Grund gibt. Erzähl uns den Rest. Erzähl uns alles, was dazu geführt hat, dass du jetzt hier stehst.“
Ceres gab sich alle Mühe. Sie berichtete ihnen von der Rebellion und dem Krieg. Von der Besatzung, die diesem gefolgt war und ihrer Hilflosigkeit. Von dem Angriff auf Haylon, der alle diejenigen, die sie liebte, in Gefahr brachte.
„Ich verstehe“, sagte Lin und streckte ihre Hand nach Ceres aus. Zu Ceres’ Überraschung konnte sie einen leichten Druck spüren. „Das erinnert mich ein klein wenig an unseren Krieg.“
„Die Vergangenheit hallt in der Gegenwart wieder“, sagte Alteus. „Aber es gibt so manchen Widerhall, der nicht wiederholt werden kann. Wir müssen wissen, ob sie das versteht.“
Ceres sah Lin nicken.
„Das stimmt“, sagte der Geist. „Eine Frage also an dich Ceres. Mal sehen, ob du verstehst. Warum ist das alles noch immer hier? Warum sind die Zauberer hier noch immer gefangen? Warum haben die Uralten sie nicht zerstört?“
Diese Fragen fühlten sich wie ein Test an, und Ceres hatte das Gefühl, dass, wenn sie ihnen keine zufriedenstellende Antwort geben konnte, sie von ihrer Seite keine Hilfe empfangen würde. In Anbetracht dessen, was es sie kosten würde, war Ceres erstaunt, dass sie es überhaupt in Erwägung zogen.