Vor dem Morgengrauen - Морган Райс 4 стр.


Sie sah sich um und kniff die Augen gegen das helle Sonnenlicht zusammen, aber er war nirgendwo zu sehen. Dann sah sie eine Gestalt ganz unten am Ende des Hügels, die auf die gleiche grazile Art lief wie Elijah. Sie hatte keine Ahnung, wie er in so kurzer Zeit so weit gekommen war. Sie wollte es darauf schieben, dass das Adrenalin sie verwirrte, aber ein beunruhigendes Gefühl erfasste sie. Genau wie in der Cafeteria. Sie war sich sicher, dass Elijah sich schneller bewegte als möglich war.

Kate war sich nicht sicher, was sie dazu brachte ihm nachzujagen. Vielleicht war es ihr Siebzehnter Geburtstag und dass sie sich nicht länger alles gefallen lassen wollte, aber sie fühlte, dass sie zumindest etwas Dankbarkeit von ihm verdiente, nachdem sie für ihn den Hals hingehalten hatte. Sie hatte die Schachtel voller Schokolade zerquetscht, während sie die Jungs angegriffen hatte. Sie verteilte klebrige, pinke Zuckerfüllung in ihrer Tasche. Und ihre Ausgabe von Romeo und Julia hatte jetzt einen großen Knick auf dem Umschlag.

Sie begann in Richtung Elijah in die Pedalen zu treten. Es war eine lange Straße und an einigen Stellen war es recht steil. Alles was Kate tun musste, war sich nach vorne zu lehnen und sich von der Schwerkraft nach unten ziehen zu lassen. Sie war normalerweise eine sehr langsame, vorsichtige Fahrerin, die nicht viel für Nervenkitzel übrig hatte, und es fühlte sich gut an den Wind in ihren Haaren zu spüren, als sie den Hügel hinunterjagte.

"Hey!" rief sie, nachdem sie in Hörweite von Elijah war.

Er drehte sich um und sah sie verwirrt an. In dem Moment, in dem sich ihre Augen trafen, schoss wieder einmal ein seltsames Gefühl durch Kate. Da war eine Intensität in Elijahs Augen, ein gequälter Ausdruck. Wenn die Augen wirklich die Fenster zur Seele waren, dann schien Elijahs Seele älter zu sein als er.

Benommen von dem Gefühl in ihrem Körper, betätigte Kate die Bremsen an ihrem Lenker. Aber sie war viel schneller als sie normalerweise fuhr, ihr Fahrrad war alt, die Bremsen abgenutzt und sie griffen nicht so schnell wie sie sich gewünscht hätte. Sie flog praktisch und raste mit unheimlicher Geschwindigkeit auf das Ende der Straße zu. Sie erkannte voller Angst, dass es die Schnellstraße war.

Kates Herz begann zu hämmern, als ihr klar wurde, dass sie nicht rechtzeitig würde anhalten können. Sie hielt genau auf die Straße zu.

Die Zeit schien sich qualvoll zu verlangsamen, als sie zu der unausweichlichen, unaufhaltbaren Erkenntnis kam, dass sie sterben würde. Ihr Fahrrad fuhr an dem Stoppschild vorbei, ihre nutzlosen Bremsen quietschten und ließen den Geruch von verbranntem Gummi um sie herum wabern. Dann flog sie über die weiße Markierung der Straße – genau in den entgegenkommenden Verkehr.

Kate sah ein Wohnmobil genau auf sich zukommen. Sie sah die Augen des erschrockenen Fahrers – und dann fühlte sie den Aufprall.

Kates Körper schlug gegen das Wohnmobil. Sie fühlte keinen Schmerz, aber sie wusste durch das ohrenbetäubende, knirschende Geräusch, dass etwas gebrochen war. Möglicherweise alles.

Die Hupe begann zu tönen, als sie gegen die Windschutzscheibe geworfen wurde, erst nach oben und dann den ganzen Weg wieder herunterrollte. Ihr Fahrrad flog durch die Luft und fiel. Sie rollte von der Haube des Wohnmobils und traf mit dem Kopf zuerst auf dem Boden auf.

Sterne tanzten vor ihren Augen. Ihr Fahrrad landete neben ihr und zerbrach in mehrere Teile auf dem harten Asphalt. Kate wurde sich der Taubheit in ihrem Körper bewusst und des metallischen Geruchs von Blut.

Aber der Schmerz kam nicht. Sie wusste, das war schlecht. Es war schlecht, dass sie sich nicht bewegte. Schlecht, dass sie nichts fühlte.

Kates Kopf fiel zur Seite und ihr Blick auf den glitzernden Ozean in der Ferne. Wie durch das Ende eines langen Tunnels konnte Kate das Geräusch von bremsenden Wagen, zuschlagenden Autotüren und rufenden Menschen hören. Sie konnte Benzin riechen, Gummi und Metall, und das etwas brannte.

Dann, durch all das Chaos, sah sie Elijahs Gesicht auftauchen und fühlte wie er sie in seine Arme hob. Er sagte etwas, aber sie konnte seine Worte nicht verstehen. Sein Ausdruck war angespannt, panisch.

Und kurz bevor ihr schwarz vor den Augen wurde, sah es so aus, als würden Reißzähne aus seinem Mund wachsen. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht einmal schreien. Aber dann spürte sie etwas Scharfes, Heißes und Nasses auf ihrem Hals und sie war sich sicher, dass sie richtig gesehen hatte.

Dann verschwamm die Welt um sie herum.

KAPITEL FÜNF

Das Erste was Kate hörte, war ein elektronisches Biepen. Sie hatte sich noch nicht viele Gedanken über das Sterben gemacht, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es sich nicht so anhörte. Bald kam ein neues Geräusch dazu; ein kontinuierliches Quietschen. Und dann wurde ihr bewusst, dass sie sich vorwärts bewegte.

Räder, dachte sie. Ich bin auf einer Liege.

Dann kam der seltsame, zu saubere Geruch von Bleiche und Desinfektionsmittel.

Ich bin in einem Krankenhaus, dachte sie.

Also nicht tot, wurde ihr klar. Zumindest noch nicht.

Kate fühlte etwas in ihrem Hals und etwas, das in ihrem Arm steckte. Nicht schmerzhaft, aber nervig. Sie versuchte ihre Hand zu heben, aber nichts passierte. Sie konnte seltsame Geräusche um sich herum hören, Menschen, die wie durch Wasser redeten. Nach und nach wurden die Worte deutlicher und sie konnte die Stimmen klarer hören.

"Es ist ein Wunder," sagte jemand. Sie erkannte die Stimme nicht.

"Ich habe noch nie jemanden mit solchen Verletzungen zurückkommen sehen," sagte eine andere Stimme.

"Wir sollten sehen, ob wir die Einwilligung ihrer Eltern bekommen, um sie zu testen," sagte die erste Stimme wieder. "Sie hatte keinen Puls mehr, als der Wagen ankam und dann plötzlich hat sie wieder geatmet. Sie hatten nicht einmal Zeit den Defibrillator zu nutzen."

Kate fragte sich, wie lange es her war, dass der Wohnwagen sie getroffen hatte. War sie gerade erst im Krankenhaus angekommen oder hatte sie Jahre im Koma verbracht? Der Gedanke an das Letztere ließ sie panisch werden. Was wenn sie an ihrem siebzehnten Geburtstag ohnmächtig geworden und erst an ihrem dreißigsten Geburtstag wieder aufgewacht war? Oder dem Vierzigsten? Oder dem Achtzigsten!

Sie regte sich immer mehr auf, bei dem Gedanken Amy, Dinah und Nicole verheiratet und mit Kindern zu sehen. Sie wusste, sie sollte froh sein zu leben, aber der Gedanke, dass jeder mit seinem Leben weitergemacht hatte, war erschreckend.

Als würde sie durch ihre intensiven Emotionen angespornt werden, schaffte sie es die Augen zu öffnen.

"Sie wacht auf," sagte jemand.

"Das ist nicht möglich. Sie ist in einem künstlichen Koma."

"Ich sage dir, sie wacht auf," sagte die erste Stimme wieder, noch nachdrücklicher. "Sie hat gerade ihre verdammten Augen aufgemacht."

Kate konnte am Ton ihrer Stimmen hören, dass etwas nicht stimmte. Nach der Geschwindigkeit, mit der sie getroffen worden war, dem Winkel, in dem sie auf den Boden gestürzt war, der Weise, in der ihr Kopf auf dem Asphalt aufgekommen war, hätte sie hundertprozentig tot sein sollen.

Die Stimmen zu hören, zu wissen, dass es gegen jede Logik ging noch am Leben zu sein, brachte sie noch mehr in Panik. Sie fing an zu blinzeln und war in der Lage sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Über ihr waren weiße Deckenplatten und auf jeder ihrer Seiten standen verwirrt aussehende Ärzte und Sanitäter.

Sie versuchte zu fragen was passiert war, aber sie konnte ihre Zunge nicht richtig bewegen. Da war etwas in ihrem Mund.

Sie streckte ihre Hand aus und versuchte einen der Ärzte zu packen. Als sie sich bewegte, bemerkte sie eine Linie, die von ihrem Handgelenk ausging. Es war eine Art Nadel für eine Infusion oder so etwas. Der Anblick machte sie schwindelig – sie hatte Nadeln noch nie gemocht. Da war getrocknetes Blut auf ihrem Arm.

Dadurch wurde Kate klar, dass es kurz nach ihrem Unfall sein musste. Sonst wäre kein Blut dagewesen und auch keine Sanitäter. Sie würden sie nicht so den Flur entlang hasten. Wenn sie jahrelang in einem Koma gelegen hätte, dann wäre sie jetzt irgendwo in einem abgelegenen Zimmer, wahrscheinlich von allen vergessen und voller Spinnweben.

Zu wissen, dass nicht viel Zeit vergangen war, beruhigte sie ein wenig, aber die Gesichtsausdrücke der Ärzte machten sie noch immer nervös.

Schließlich schaffte sie es sich auszustrecken und einen der Ärzte am Ärmel zu greifen. Er sah auf ihre Hand, die den Stoff seines Kittels in ihrer Faust hielt. Er wurde blass, als hätte er einen Geist gesehen. Er sah zu den Sanitätern.

"Ich dachte ihr habt gesagt ihre Knochen sind zersplittert."

Auch der Sanitäter sah auf ihre Hand.

"Das waren sie," sagte er.

Er blieb abrupt stehen, als wäre er so verblüfft, dass er nicht weitergehen konnte. Sie ließen ihn zurück und er verschwand aus ihrer Sicht.

Schließlich fühlte Kate, wie die Liege um eine Ecke bog und endlich anhielt. Die Ärzte wuselten um sie herum und schlossen sie an verschiedene Maschinen an, die alle ihre ganz eigenen piepsenden Geräusche von sich gaben. Sie wurde gepiekt und untersucht. Aber mit jeder Minute die verging, schien sie mehr Kontrolle über ihren Körper und Verstand zurückzubekommen.

Sie versuchte zu sprechen, aber das Ding in ihrem Hals war im Weg. Also griff sie danach und fühlte eine Art Plastikmundschutz unter ihren Fingern.

"Hey, hey, hey," sagte einer der Ärzte und versuchte ihre Hand wegzubewegen. "Das hilft dir beim Atmen. Lass es, wie es ist."

Sie nahm ihre Hand wieder runter.

"Lasst uns ihr Propofol erhöhen," sagte einer der Ärzte zu den anderen. "Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass ihr Hirn anschwillt. Ein Koma gibt ihr die beste Chance auf die wenigsten Schäden."

"Sie hatte bereits die maximale Dosis," sagte der Zweite.

"Nun, dann wurde ein Fehler gemacht," argumentierte der Erste. "Der Sanitäter sah doch so aus, als wäre er nicht ganz da. Wahrscheinlich hat er was Falsches aufgeschrieben. Das Mädchen kann auf keinen Fall die maximale Dosis bekommen haben."

"Okay, fein, wenn du das sagst."

Kate spürte ein prickelndes Gefühl von der Stelle, an der die Nadel in ihrem Handgelenk steckte. Ein seltsames Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus, wie die Art von Müdigkeit, die man bei einem langweiligen Film spürte. Es fühlte sich nicht so an, als würde sie betäubt werden.

Die Ärzte sahen sich nun alle an.

"Da muss etwas mit dem Mittel nicht stimmen," sagte der Erste. "Oh Gott, würdest du dir das bitte ansehen? Das letzte was wir jetzt brauchen ist eine weitere Klage."

Einer der Ärzte verschwand und ließ die anderen beiden zurück.

Einer lehnte sich zu ihr. Er nutzte eine Taschenlampe um ihre Pupillen zu untersuchen.

"Bist du auf Drogen?" fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Er sah nicht so aus, als würde er ihr glaube.

"Wenn du irgendwas genommen hast, dann hat das eine Wechselwirkung mit dem Propofol und wir müssen es wissen. Keine Amphetamine?"

Kate schüttelte wieder den Kopf. Sie wünschte sich verzweifelt sie könnte den Schlauch aus dem Hals nehmen und einfach mit ihnen sprechen.

Die Ärzte sahen sich an, vollkommen unschlüssig was sie tun sollten. In dem Moment kam eine andere Person an ihr Bett. Es war eine Frau in einem Anzug.

"Wir haben eine ID für das Mädchen," sagte sie. "Da war eine Karte in ihrem Rucksack. Kate Roswell von der San Marcos Senior Highschool. Der Schulleiter besorgt uns die Telefonnummer der Eltern."

Die Ärzte nickten.

"Oder Sie hätten sie einfach selber fragen können," sagte einer von ihnen und deutete auf das Bett, wo Kate hellwach und geduldig blinzelnd lag.

Die Frau zögerte.

"Mir wurde gesagt, dass sie in ein Koma versetzt wurde."

"Das stimmt," sagte ein anderer Arzt.

Sie starrten Kate an und waren immer noch vollkommen verblüfft.

"Könnten Sie uns für einen Moment entschuldigen?"

Sie ließen sie kopfschüttelnd und verwirrt alleine.

Die Frau wandte sich an Kate.

"Kate, kannst du mich hören?" fragte sie.

Kate nickte.

"Und du bist Kate Roswell, stimmt das?"

Kate nickte wieder.

"Ich bin Brenda Masters, ich bin eine Sozialarbeiterin hier im Krankenhaus. Hat dir jemand gesagt, was passiert ist?

Kate schüttelte den Kopf. Aber man musste es ihr nicht sagen. Sie erinnerte sich an alles. Wie das Wohnmobil gegen sie geprallt war und ihre Knochen zersplittert hatte. Die Dunkelheit, die ihr den Blick verschleierte, als sie dem Tod näherkam. Und Elijah. Elijah mit entblößten Fängen, die sich in ihren Hals bohrten.

"Typisch Ärzte," sagte die Frau. "Sie denken nie daran tatsächlich mit ihren Patienten zu reden." Brenda setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett. "Du wurdest von einem Wohnwagen angefahren. Du bist im Santa Barbara Cottage Krankenhaus. Ich werde mit dir und deinen Eltern arbeiten, während du dich erholst. Keine Sorge, sie werden bald hier sein."

Brenda tätschelte ihren Arm.

Aber das Letzte, was Kate gerade wollte, war ihre Familie zu sehen. Sie würden sicherlich einen Weg finden, um ihr die Schuld zu geben. Sie würden sagen, dass es rücksichtlos von ihr gewesen war, ihre Bremsen verkommen zu lassen oder zu schnell den Hügel herunterzufahren. Sie konnte sich ihre Mutter vorstellen, wie sie auf sie einredete. Schlimmer noch, sie könnte behaupten, dass Kate nur Aufmerksamkeit suchte, weil Madison aufs College ging und sie selbst keinen Kuchen an ihrem Geburtstag bekommen hatte. Tausende von Gedanken rasten durch ihren Kopf und Tränen traten ihr in die Augen.

Eine schmale Falte zeigte sich zwischen Brendas Augenbrauen. "Du willst deine Eltern nicht hier haben?" fragte sie.

Kate schüttelte wieder den Kopf und die Tränen liefen ihr über die Wangen.

Die Frau schien durch diese Enthüllung besorgt zu sein. Sie verstand vermutlich nicht, warum ein siebzehnjähriges Mädchen, das gerade in einem fast tödlichen Unfall gewesen war, ihre Familie nicht um sich haben wollte. Sie hatte vermutlich noch nie jemanden wie die Roswells getroffen.

"Hast du etwas getan, das du nicht solltest?" fragte Brenda sanft. "Wenn du Angst hast, dass sie böse auf dich sein werden, dann kann ich dir versichern, dass das nicht der Fall ist. Sie werden nur wissen wollen, dass du okay bist."

Kate schüttelte wieder den Kopf. Sie würden wütend sein, ja, aber es war nicht wegen etwas Speziellem, was sie getan hatte. Es war einfach die Tatsache, dass sie existierte.

Ihre Tränen liefen immer schneller.

"Wir müssen deine Eltern informieren," sagte die Frau. "Du bist legal gesehen noch ein Kind." Dann wurde ihre Stimme weicher. "Kate, ich werde dich etwas Wichtiges fragen und ich will, dass du wirklich über deine Antwort nachdenkst. Nicke ja, wenn du dem zustimmst, was ich sage und schüttel deinen Kopf für Nein. Kate, verletzen dich deine Eltern?"

Kate schluckte und ihr trockener Hals schmerzte. Wie sehr sie sich wünschte sie könnte Ja nicken. Aber ihr Leben beinhaltete keinen Missbrauch, wie ihn diese Frau meinte. Zumindest dachte sie das nicht. Aber musste Missbrauch immer Schläge und Tritte heißen oder konnte es auch heißen kein Essen zu bekommen, ausgeschlossen zu sein und an seinem Geburtstag ignoriert zu werden? Kate wusste es nicht. Und auch wenn sie sich bewusst war, dass sie mit einem simplen Nicken eine Reihe von Ereignissen ins Rollen bringen könnte, vielleicht sogar aus ihrem Zuhause genommen und zu jemandem gebracht werden könnte, der sie nicht hasste und sie aufs College gehen ließ, musste sie doch an Max denken. Sie konnte ihn nicht durch diese Art von Trauma schicken, er war nur ein Kind.

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