Gwendolyn runzelte die Stirn und fragte sich, wie jemals irgendetwas Böses über diesen Ort hereinbrechen sollte. Vielleicht war die Dunkelheit, die sie gesehen hatte, die McClouds gewesen. Vielleicht hatten sie die Krise dank Kendrick und den anderen bereits überwunden. Vielleicht hatte Kendrick ja Recht. Vielleicht war sie übervorsichtig geworden, seitdem sie den Thron bestiegen, und so viel Schreckliches gesehen hatte. Vielleicht interpretierte sie ja wirklich zu viel in die Schriften hinein.
Schließlich wäre es eine drastische Maßnahme, die Bürger aus ihren Häusern zu evakuieren, sie über den Canyon zu führen, auf Schiffe zu verladen und mit ihnen zu den Oberen Inseln zu segeln, die alles andere als politisch stabil waren. Diese Maßnahme sollte für eine Zeit größter Not vorbehalten sein. Was wenn sie die Bürger zwang, und es nie zur befürchteten Tragödie kam. Sie würde als Königin in die Geschichtsbücher eingehen, die ohne drohende Gefahr in Panik verfallen ist.
Gwendolyn seufzte und drückte den unruhigen Guwayne an sich. Sie fragte sich, ob sie dabei war, den Verstand zu verlieren. Sie blickte zum Himmel und suchte die Wolken nach einem Anzeichen von Thor ab, hoffte und betete. Sie hoffte wenigstens auf ein Zeichen von Ralibar, doch auch er blieb verschwunden.
Wieder einmal wurden ihre Hoffnungen enttäuscht. Wieder einmal musste sie sich auf sich selbst verlassen. Selbst ihr Volk, das sie immer unterstützt hatte, das sie wie eine Göttin angesehen hatte, schien ihr nun nicht mehr zu vertrauen. Darauf hatte ihr Vater sie nicht vorbereitet. Was für eine Königin war sie ohne die Unterstützung des Volkes? Sie war machtlos.
Gwendolyn sehnte sich verzweifelt nach Trost und Antworten. Doch Thor war fort; ihre Mutter war tot; scheinbar war sie von allen, die sie liebte, verlassen worden. Sie spürte, dass sie an einem Scheideweg angekommen war. Nie zuvor war sie so verwirrt gewesen.
Sie schloss die Augen und bat Gott um Hilfe. Sie rief ihn mit all ihrer Willenskraft an. Sie war nie jemand gewesen, der viel betete, doch ihr Glaube war stark, und sie war sich sicher, dass er existierte.
Bitte Gott, ich bin verwirrt. Zeig mir, wie ich mein Volk am besten beschützen kann. Zeig mir, wie ich Guwayne am besten beschützen kann. Zeig mir, wie ich eine gute Königin sein kann.
„Gebete sind ein mächtiges Werkzeug“, hörte sie eine Stimme.
Gwendolyn fuhr herum, erleichtert die Stimme zu hören. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand Argon in seiner weißen Robe mit der Kapuze und dem Stab, den Blick gen Horizont gerichtet.
„Argon. Ich brauche Antworten. Bitte hilf mir.“
„Wir sehnen uns immer nach Antworten“, sagte er. „Doch nicht immer werden sie uns gegeben. Unsere Leben sind dazu da, gelebt zu werden. Die Zukunft darf uns daher nicht vorausgesagt werden.“
„Doch man kann Hinweise darauf bekommen“, sagte Gwendolyn. „All die Prophezeiungen, die ich gelesen habe, all die Schriften, die Geschichte des Rings – weisen darauf hin, dass die Finsternis wie ein Damoklesschwert über uns hängt. Du musst es mir sagen. Wird sie über uns hineinbrechen?“
Argon wandte sich ihr zu und sah sie an. Seine Augen voller Feuer, dunkler und furchteinflößender als sie sie je zuvor gesehen hatte.
„Ja“, antwortete er.
Die Schlichtheit seiner Antwort jagte ihr mehr Angst ein als alles andere. Er, Argon, der sonst immer in Rätseln sprach.
Gwendolyn bebte innerlich.
„Wird sie über King’s Court hereinbrechen?“
„Ja“, antwortete er.
Gwendolyns Gefühl der Angst wurde stärker. Sie war sich sicher, dass sie die ganze Zeit über mit ihren Gefühlen richtig gelegen war.
„Wird der Ring zerstört werden?“
Argon sah sie an und nickte langsam.
„Doch es gibt noch ein paar Dinge, die ich dir sagen kann“, erklärte er. „Wenn du es wünschst, kann ich dir davon erzählen.“
Gwendolyn dachte nach. Sie wusste, dass Argons Weisheit kostbar war. Doch das war etwas, das sie wirklich wissen musste.
„Erzähl mir davon“, sagte sie.
Argon holte tief Luft, wandte sich ab und betrachtete den Horizont. Gwendolyn kam es vor, als ob eine halbe Ewigkeit vergangen war, als er endlich zu sprechen begann.
„Der Ring wird zerstört werden. Alles was du kennst und liebst wird ausgelöscht. Von dem Ort an dem du jetzt stehst, wird nicht mehr als verlöschende Glut und Asche übrig bleiben. Der gesamte Ring wird zu Asche zerfallen. Dein Reich wird zerstört. Dunkelheit zieht auf. Eine Dunkelheit schwärzer als alles, was es bisher in unserer Geschichte gegeben hat.“
Die Essenz seiner Worte hallte in Gwendolyn wider. Seine Stimme drang bis zum Kern ihrer Existenz vor. Sie wusste, dass jedes Wort, das er sprach, wahr war.
„Doch mein Volk kann es nicht sehen“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Argon zuckte mit den Schultern.
„Du bist ihre Königin. Manchmal ist Gewalt nötig. Nicht nur gegen deine Feinde. Manchmal sogar gegen dein eigenes Volk. Handle nach dem, was du weißt. Erwarte nicht immer die Zustimmung deines Volkes. Zustimmung ist eine trügerische Sache. Manchmal, ist es ein Zeichen dafür, dass du das Beste für sie tust, wenn dein Volk dich am meisten hasst. Dein Vater war gesegnet mit einer Herrschaft des Friedens. Du jedoch, Gwendolyn, du wirst einer weitaus schwereren Prüfung unterzogen: Deine Herrschaft ist eine Herrschaft des Stahls.“
Als Argon sich zum Gehen wandte, folgte Gwendolyn ihm.
„Argon“, rief sie.
Er blieb stehen, doch er drehte sich nicht um.
„Ich flehe dich an – sag mir bitte noch eines. Werde ich Thorgrin jemals wieder sehen?“
Er schwieg lange. Es war ein bedrückendes Schweigen, das ihr das Herz brach, und sie hoffte, dass er ihr diese eine Antwort gewähren würde.“
„Ja“, antwortete er.
Sie stand mit pochendem Herzen hinter ihm und sehnte sich danach, mehr zu erfahren.
„Kannst du mir nicht mehr sagen?“
Er drehte sich zu ihr um und sah sie mit traurigen Augen an.
„Denk immer an die Wahl, die du getroffen hast. Nicht jede Liebe ist für die Ewigkeit bestimmt.“
Hoch über sich hörte sie den Schrei eines Falken. Sie blickte gen Himmel. Als sie den Blick wieder Argon zuwenden wollte, war dieser schon verschwunden.
Sie hielt Guwayne fest umschlungen und ließ den Blick über ihr Königreich schweifen. Ein letzter Blick. Sie wollte es so in Erinnerung behalten, wie es gerade eben war, fruchtbar und sprühend vor Leben – bevor alles zu Staub zerfiel. Voller Angst fragte sich welch schreckliche Gefahr hinter diesem Schleier der Schönheit lauern konnten. Sie schauderte, denn sie wusste, dass das Grauen sie zweifellos bald finden würde.
KAPITEL SIEBEN
Stara schrie als sie um sich schlagend dem Boden entgegenstürzte. Mit ihr waren Reece, Matus und Srog aus dem Fenster in den peitschenden Wind und Regen gesprungen, um Tirus‘ Männern zu entkommen. Sie sah die Büsche schnell auf sich zu rasen, und erkannte, dass sie es ihnen zu verdanken hatte, sollte sie den Fall überleben.
Einen Augenblick später hatte Stara das Gefühl, dass jeder Knochen in ihrem Körper brach, als sie in einen der Büsche fiel und dieser ihren Sturz kaum bremste. Sie schlug hart auf. Wenigstens hatte der aufgeweichte Boden sie ein wenig abgefedert. Sie war atemlos, doch dankbar am Leben zu sein.
Plötzlich gab der Schlamm unter ihr nach und gemeinsam mit den anderen rutschte sie in einer Schlammlawine den Hügel hinunter.
Sie schlitterte den Abhang hinab und überschlug sich ein paarmal, wobei es ihr gelang, einen Blick zurück auf das Fort ihres Vaters zu werfen. Dankbar ließ sie sich vom Schlamm immer weiter von ihren Verfolgern forttragen.
Als sie sich wieder umdrehte gelang es ihr im letzten Augenblick ein paar Felsbrocken in ihrem Weg auszuweichen. Der Schlamm war unglaublich rutschig und es regnete noch heftiger als zuvor. Sie versuchte abzubremsen, sich irgendwo festzuhalten, doch es wollte ihr nicht gelingen.
Nackte Angst überkam sie, als sie sich erinnerte, wo dieser Hügel endete: Direkt an einem Kliff. Wenn es ihnen nicht gelang, schnell irgendwo Halt zu finden, mussten sie alle sterben.
Stara sah, dass es den anderen ebenso wenig wie ihr gelang, abzubremsen, sie schlugen stöhnend um sich, doch sie fanden keinen Halt.
Sie hob den Blick und sah, dass der Abhang schnell näher kam. Sie würden geradewegs über die Klippe rutschen.
Plötzlich sah Stara, wie Srog und Matus nach links drifteten, auf eine kleine Höhle zu, die am Rand des Abhangs lag. Irgendwie gelang es ihnen, mit den Füssen voran in den Fels einzuschlagen, und kurz vor der Kante abzubremsen. Stara versuchte ihre Fersen gegen den Schlamm zu stemmen, und schrie, denn sie wusste, dass es nichts mehr gab, was sie aufhalten konnte.
Plötzlich spürte Stara einen harten Ruck. Jemand hatte ihre Bluse an der Schulter gegriffen und sie damit vor dem Absturz bewahrt. Sie blickte sich um. Es war Reece. Er klammerte sich mit einer Hand an ein dürres Bäumchen am Rand des Abhangs, während er mit der anderen sie festzuhalten versuchte. Wasser und Schlamm rauschten an ihr vorbei, und drohten, sie loszureißen. Sie verlor jeglichen Halt und hing über den Rand. Für den Augenblick hatte er ihren Fall gebremst, doch sie fand nichts, woran sie sich hätte abstützen können.
Sie wusste, dass Reece sie so nicht mehr lange festhalten konnte, und dass er sie bald loslassen musste, weil sie ihn sonst mit in die Tiefe reißen würde. Sie würden beide sterben.
„Lass mich los!“, schrie sie ihn an.
Doch er schüttelte verbissen den Kopf.
„Niemals!“, schrie er, während das Wasser ihn umspülte.
Plötzlich ließ er den Baum los, damit er mit beiden Händen nach ihren Handgelenken greifen konnte. Gleichzeitig schlang er seine Beine um den Baum und klammerte sich mit ihnen fest. Er riss sie mit aller Kraft zu sich hoch. Mit einem letzten Schrei der Anstrengung zerrte er sie aus der Strömung heraus und beförderte sie mit Schwung in die Höhle zu den anderen hinüber. Reece ließ sich von ihrem Schwung mitreißen und rollte selbst aus der Strömung während er ihr in die Höhle half.
Als sie endlich in Sicherheit waren, brach Stara erschöpft zusammen, dankbar am Leben zu sein.
Während sie auf klatschnass auf dem Boden lag und daran dachte, wie knapp sie dem Tod entronnen war, konnte sie nur an eines denken: Liebte Reece sie noch? Sie erkannte, dass ihr das mehr denn je bedeutete.
*
Stara saß zusammengekauert am kleinen Feuer in der Höhle und begann langsam zu trocknen. Sie sah sich um und bemerkte, dass alle vier aussahen, wie Überlebende eines Krieges: Mit eingefallenen Wangen starrten sie in die Flammen und rieben die Hände darüber im mehr oder weniger erfolgreichen Versuch, sich in der nichtendenwollenden Kälte aufzuwärmen.
Es war bereits tiefe Nacht, und sie hatten den ganzen Tag über ohne Feuer ausgeharrt, aus Angst, entdeckt zu werden. Schließlich waren sie alle so kalt, müde und niedergeschlagen gewesen, dass sie es doch wagten. Stara war sicher, dass seit ihrer Flucht genug Zeit vergangen war – und zudem würde es niemand wagen, den Abstieg zu den Klippen zu versuchen. Es war zu steil und der Boden viel zu rutschig. Wer auch immer es versuchen würde, würde sicher dabei sterben.
Doch sie waren in dieser Höhle gefangen. Wenn sie sie verließen, mussten sie damit rechnen, dass eine Arme von Inselbewohnern sie finden und alle töten würde. Ihr Bruder kannte keine Gnade. Es war hoffnungslos.
Sie saß neben dem geistig abwesenden, grübelnden Reece, und dachte über die Geschehnisse nach. Sie hatte im Fort Reeces Leben gerettet, und er hatte sie an der Klippe vor dem Tod bewahrt. Empfand er noch das gleiche für sie wie früher? So wie sie für ihn empfand? Oder war er bitter wegen dem, was Selese zugestoßen war? Gab er ihr die Schuld? Würde er ihr vergeben?
Stara konnte sich den Schmerz kaum vorstellen, den er verspüren musste, als sie ihn beobachtete: Er hatte den Kopf auf die Hände gestützt und starrte verloren ins Feuer. Sie fragte sich, was er gerade dachte. Er sah aus wie ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hatte, wie jemand, der die Grenzen des Leids erlebt hatte und den Weg nicht zurückgefunden hatte. Ein Mann zerfressen von Schuldgefühlen. Er ähnelte nicht mehr annähernd dem Mann, der vor wenigen Wochen hier abgereist war, der Mann, der so voller Liebe und Freude war, so gerne gelächelt hatte, der sie mit Liebe und Zuneigung überschüttet hatte. Er sah aus, als wäre etwas in ihm gestorben.
Stara sah ihn an. Sie hatte Angst seinem Blick zu begegnen, doch sie brauchte ihn jetzt. Insgeheim hoffte sie, dass er sie ansah und über sie nachdachte. Doch er blickte lediglich in die Flammen und wirkte schrecklich einsam.
Stara konnte die Frage nicht verdrängen, ob zwischen ihnen nun alles aus war, ihre Liebe ruiniert durch Seleses Tod. Immer wieder verfluchte sie ihre Brüder – und ihren Vater – dafür, dass sie einen derart perfiden Plan in die Tat umgesetzt hatten. Natürlich hatte sie Reece für sich alleine haben wollen; doch sie hätte niemals dieser hinterhältigen Verschwörung zugestimmt, die letztendlich zu Seleses Tod geführt hatte. Sie hatte nie gewollt, dass Selese getötet oder auch nur verletzt wird. Sie hatte gehofft, dass Reece ihre die Nachricht schonen beibringen würde, doch dass sie, auch wenn sie natürlich traurig sein würde, ihn verstehen konnte – doch nicht, dass sie sich selbst umbringen, oder Reeces Leben zerstören würde.
Doch nun waren all ihre Pläne vor Staras Augen zu Staub zerfallen, dank ihrer schrecklichen Familie. Matus war der einzige normale Mensch in ihrer Blutlinie. Doch Stara fragte sich, was aus ihm werden würde, aus ihnen allen. Würden sie in dieser Höhle sterben? Irgendwann würden sie sie verlassen müssen. Und die Männer ihres Bruders waren erbarmungslos, das wusste sie.
Er würde nicht ruhen, bevor er sie alle umgebracht hatte, besonders jetzt, nachdem Reece seinen Vater getötet hatte.
Stara wusste, dass sie Bedauern empfinden sollte darüber, dass ihr Vater tot war – doch sie empfand nichts. Sie hasste den Mann, hatte ihn schon immer gehasst. Wenn sie überhaupt etwas fühlte, dann war es Erleichterung und Dankbarkeit gegenüber Reece. Tirus war sein Leben lang ein ehrloser Krieger und König gewesen. Er hatte sich ihr gegenüber nie wie ein Vater verhalten.
Stara betrachtete die drei Krieger, die neben ihr am Feuer saßen. Sie sahen verzweifelt aus, und seit Stunden hatte keiner von ihnen auch nur ein Wort gesagt. Sie fragte sich, ob sie irgendeinen Plan hatten. Srog war schwer verwundet, und Matus und Reece waren ebenfalls lädiert, auch wenn ihre Verletzungen geringfügiger Natur waren.
Sie sahen alle erfroren aus, schwer mitgenommen vom Wetter an diesem unwirtlichen Ort.
„Wollen wir für immer in dieser Höhle sitzen und hier sterben?“, fragte Stara, und brach damit die angespannte Stille. Sie konnte die Monotonie und den Schwermut nicht mehr ertragen.
Langsam wandten Srog und Matus ihr den Blick zu. Doch Reece rührte sich nicht.
„Und wo sollen wir deiner Meinung nach hingehen?“, fragte Srog. „Die Insel ist voller Gefolgsleute deines Bruders. Welche Chance haben wir schon gegen sie? Besonders jetzt, nachdem sie aufgebracht sind durch den Tod deines Vaters und unsere Flucht.“
„Du hast uns ganz schön in die Bredouille gebracht, mein lieber Cousin“, sagte Matus lächelnd und legte dabei die Hand auf Reeces Schulter. „Das war mutig. Vielleicht die mutigste Tat, die ich je in meinem Leben gesehen habe.“