Rea überkam eine Flut der Erleichterung und Tränen strömten ihr über die Wangen.
„Nein“, korrigierte sie der Apotheker mit schwerer Stimme. „Sie kommen nicht, um dein Kind zu retten.“
Sie blickte ihn verwirrt an. „Warum sonst würden sie kommen?“
Er blickte sie grimmig an.
„Um es zu töten.“
Sie starrte ihn angewidert an, ein kalter Schauer des Schreckens überkam sie.
„Sie vertrauen nicht darauf, dass die Dorfbevölkerung imstande ist, es zu Ende zu bringen“, fügte er hinzu. „Sie wollten sicherstellen, dass es richtig getan wird und mit ihren eigenen Händen.“
Es war als würde ihr Eis durch die Adern schießen.
„Aber…“ stammelte sie und versuchte zu verstehen, „… mein Kind gehört dem Ritter. Ihrem Befehlshaber. Warum? Warum würden sie es töten wollen?“
Fioth schüttelte finster dreinschauend den Kopf.
„Diese Männer dort draußen gehören nicht zu ihm. Sie sind seine Rivalen. Sie wollen den Tod des Kindes. Sie wollen deinen Tod.“
Sie sah die Dringlichkeit in seinem Blick und erkannte mit Grauen, dass er die Wahrheit sprach.
„Ihr müsst beide von hier fliehen!“ drängte er. „Jetzt!“
Er hatte seine Worte kaum ausgesprochen, da erscholl das dumpfe Geräusch einer Eisenstange, die gegen die Tür gerammt wurde. Dieses Mal waren es nicht die harmlosen Sicheln der Bauern, sondern ein zu diesen Zwecken gebauter Rammbock der Ritter. Als er gegen die Tür donnerte, bebte sie.
Fioth drehte sich zu ihr mit vor Panik geweiteten Augen.
„GEH!“ rief er.
Rea blickte mit Panik im Blick zu ihm zurück und fragte sich, ob sie in ihrem Zustand überhaupt stehen konnte.
Er griff jedoch nach ihr und stellte sie auf ihre Füße. Sie schrie vor Schmerzen, jede Bewegung war die reinste Qual.
„Bitte!“ rief sie. „Es tut so weh! Lass mich sterben!“
„Sieh an, was in deinen Armen lieg!“ erwiderte er. „Willst du, dass er stirbt?“
Rea blickte zu dem weinenden Kind in ihren Armen und als ein neuer Stoß die Tür erschütterte, wusste sie, dass er Recht hatte. Sie konnte ihn hier nicht sterben lassen.
„Was ist mit Ihnen?“ stöhnte sie. „Sie werden Sie auch töten.“
Er nickte resigniert.
„Ich habe viele Sonnenzyklen gelebt“, antwortete er. „Wenn ich so ein wenig Zeit für dich gewinnen kann, sodass du einen sicheren Ort finden kannst, werde ich gerne das geben, was mir von meinem Leben noch bleibt. Geh jetzt! Lauf in Richtung des Flusses. Nimm eines der Boote und flieh von hier! Schnell!“
Er zerrte sie hinaus noch bevor sie die Chance hatte darüber nachzudenken. Er führte sie zu einem Seiteneingang seiner Festung und enthüllte eine hinter der Wandverkleidung verborgen liegende Tür, die in den Stein gehauen worden war. Er lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen und sie öffnete sich mit einem Krächzen. Muffige und kalte Luft schlug ihnen entgegen.
Kaum hatte er sie geöffnet, da stieß er sie und das Baby auch schon hinaus.
Rea befand sich nun wieder mitten im Schneegestöber. Sie stolperte ihr Kind fest an sich gedrückt das steile, schneebedeckte Ufer entlang. Sie schlitterte und rutschte, glaubte die Welt würde jeden Augenblick unter ihr zusammenbrechen und war kaum im Stande, sich zu bewegen. Als sie so voranstolperte, schlug in einem nahegelegenen Baum der Blitz ein. Flammen loderten auf.
Rea fiel zu Boden, und als sie sich zusammenrollte, um so ihr Kind vor dem harten Aufprall schützen zu können, spürte sie, wie sich die Kette, die der Ritter ihr für das Kind gegeben hatte, von ihrem Hals löste und in die Flamen fiel. Rea griff nach einem Zweig, um sie aus den Flammen zu retten. Der Zweig fing Feuer und doch gelang es ihr, die Kette aus den Flammen zu ziehen. Einen Moment lang baumelte sie an dem Stöckchen in der Luft. Mit Grauen musste sie mitansehen, wie der Arm ihres Kindes sich nach der Kette ausstreckte.
Das Baby schrie auf, und Rea warf die Kette zur Seite ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, wer sie ihr gegeben hatte. Ensetzt erblickte sie den makellosen Umriss des Anhängers auf dem Arm des Kindes. All das erschien ihr ein weiteres Vorzeichen zu sein.
Rea stolperte ein weiteres Mal und rutschte den Abhang hinab. Dieses Mal landete sie auf ihrem Hintern. Sie flog ein Stück und schrie als der Abhang sie geradewegs zum Ufer hinab beförderte.
Sie atmete erleichtert auf, denn sie erkannte, dass es ihr ohne die Rutschpartie wohl nicht gelungen wäre, den ganzen Weg hinabzulaufen. Sie blickte ehrfürchtig den Hang hinauf, erschrocken über den weiten Weg, den sie bereits zurückgelegt hatte und musste entsetzt feststellen, dass die Ritter Fioths Festung in Brand gesteckt hatten. Die Flammen schlugen trotz des Schnees bereits hoch und eine furchtbare Welle der Schuld überkam sie bei dem Gedanken, dass der alte Mann sein Leben für sie gelassen hatte.
Einen Moment später strömten Ritter durch die Hintertür und Pferde galoppierten um die Festung herum auf sie zu. Sie sah, dass sie entdeckt worden war und sie auf sie zustürmten ohne auch nur eine Sekunde Luft zu holen.
Rea drehte sich herum und versuchte davonzulaufen, doch es ging nicht weiter. Ihr Zustand machte das Davonrennen außerdem sowieso unmöglich. Das einzige was sie tun konnte, war es, am Ufer auf ihre Knie zu sinken. Sie wusste, dass sie hier sterben würde. Es gab keinen anderen Ausweg mehr.
Dennoch hegte sie noch Hoffnung für ihr Kind. Sie blickte sich um und sah einen Haufen kleiner Stöcke, vielleicht das Nest eines Bibers, der so gebaut worden war, dass er einem Körbchen ähnelte. Sie griff danach und legte flink ihr Kind hinein. Sie testete es und stellte erleichtert fest, dass es schwamm.
Rea holte aus und bereitete sich darauf vor, das Körbchen auf die sanften Wogen des Flusses zu setzen. Wenn der Strom es fing, würde er es von hier forttragen. Den Fluss hinab. Wie weit und wie lang er es tragen würde, das wusste sie nicht. Doch war eine kleine Chance das Leben ihres Babys zu retten besser als keine.
Rea weinte und beugte sich hinab, um die Stirn ihres Kindes zu küssen. Sie weinte bitterlich und drückte die kleinen Händchen ihres Sohnes.
„Ich liebe dich“, sagte sie schluchzend. „Vergiss mich nicht.“
Das Baby stieß einen Schrei aus, als würde es verstehen. Es war ein markerschütternder Schrei, der über das Grollen von Blitz und Donner erscholl und sogar das herannahende Pferdegetrappel übertönte.
Rea wusste, dass sie nicht länger warten durfte. Sie gab de Körbchen einen Schubs und kurz darauf trug der Strom es davon. Sie blickte ihm weinend nach während die Dunkelheit es langsam verschluckte.
Sie hatte es gerade aus den Augen verloren, da tauchten hinter ihr die Rüstungen auf – sie wandte sich um und erblickte mehrere Ritter, die nicht weit von ihr entfernt gerade von ihren Pferden stiegen.
„Wo ist das Kind?“ fragte einer. Sein Visier war nach unten geklappt und seine Stimme schnitt durch den Sturm. Sein Visier war nicht wie das jenes Mannes, der sie in jener Nacht genommen hatte. Der Mann trug eine rote Rüstung, die eine andere Form hatte und nichts liebliches Schwang in seiner Stimme mit.
„Ich…“ begann sie.
Dann spürte sie Wut in sich aufsteigen – die Wut einer Frau, die wusste, dass sie sterben würde. Die nichts zu verlieren hatte.
„Er ist weg“, spie sie ihn herausfordernd an. Sie grinste. „Und ihr werdet ihn niemals haben. Niemals.“
Der Mann grunzte verärgert, tat einen Schritt auf sie zu, zog sein Schwert und erstach sie.
Rea spürte den ungeheuerlichen Schmerz des Stahls in ihrer Brust und sie keuchte atemlos. Die Welt um sie wurde lichter und sie spürte wie sie Teil dieses Lichts wurde und sie wusste, dass es der Tod war.
Doch war da keine Angst. Vielmehr spürte sie Zufriedenheit. Ihr Kind war sicher.
Sie landete mit dem Gesicht im Fluss. Das Wasser färbte sich rot und sie wusste, dass es vorbei war. Ihr kurzes und schweres Leben war vorbei.
Doch ihr Junge würde für immer leben.
*
Die Bäuerin Mithka kniete am Ufer des Flusses neben ihrem Ehemann. Beide waren ganz in ihre Gebete versunken, denn diese erschienen ihnen die einzige Zuflucht in diesem unheimlichen Sturm. Es fühlte sich an, als sei das Ende der Welt gekommen. Der blutrote Mond allein war wie ein denkwürdiges Omen – doch in Verbindung mit solch einem Sturm war er mehr als nur unheimlich. So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Etwas Bedeutsames war auf dem Weg, das wusste sie.
Sie knieten zusammen dort, Wind und Schnee schlug ihnen ins Gesicht und sie beteten, dass ihre Familie den Sturm sicher überstehen würde. Um Gnade. Für die Vergebung ihrer Sünden.
Mithka war eine fromme Frau und hatte viele Sonnenzyklen erlebt, zahlreichen Kinder das Leben geschenkt und ein gutes Leben gehabt. Ein armes doch gutes Leben. Sie war eine anständige Frau. Sie hatte sich um ihr Geschäft gekümmert, hatte sich um Andere gesorgt und hatte niemandem etwas zu Leide getan. Sie rief Gott an, damit er ihre Kinder, ihren Haushalt und ihre bescheidenen Habseligkeiten beschützen würde. Sie beugte sich nach vorne, platzierte ihren Handinnenflächen im Schnee, schloss ihre Augen und neigte ihr Haupt, sodass ihre Stirn den Boden berührte. Sie bat Gott, ihr ein Zeichen zu schicken.
Langsam hob sie ihren Kopf. Währenddessen weiteten sich ihre Augen und ihr Herz begann beim Anblick dessen, was sie vor sich erblickte, schneller zu schlagen.
„Murka!“ zischte sie.
Ihr Mann drehte sich zu ihr und blickte auf. Kniend und durchfroren starrten sie voller Erstaunen auf das, was sie dort sahen.
Das konnte nicht möglich sein. Sie blinzelte mehrere Male, sie bildete es sich nicht ein. Vor ihnen schwebte ein von der Strömung herbeigespültes Körbchen auf dem Wasser.
Und in dem Körbchen lag ein Baby.
Ein Junge.
Seine Schreie durchdrangen die Nacht, erhoben sich sogar über das Brausen des Sturms und das Krachen von Blitz und Donner und drangen ihr direkt ins Herz.
Sie sprang in den Fluss, watete durch das tiefe eisige Wasser, dessen messerartige Stiche ihr gleichgültig waren und angelte nach dem Körbchen. Sie blickte hinein und fand ein sorgfältig eingewickeltes Kind, das zu ihrer großen Überraschung völlig trocken war.
Sie untersuchte ihn eingehender und entdeckte das frische Brandmal auf seinem Arm – überrascht erkannte sie darin das Symbol zweier Schlangen, die einen Mond umkreisten. Ein Dolch rangte zwischen ihnen empor.
Sie hielt den Atem an; sie wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. In alten Volksweisen und Legenden hatte sie von diesem Symbol gehört. Und sie fürchtete es.
Sie drehte sich zu ihrem Mann.
„Wer würde so etwas tun?“ fragte sie entsetzt als sie ihn fest an ihre Brust drückte.
Er konnte nur verwundert seinen Kopf schütteln.
„Wir müssen uns ihm annehmen“, entschied sie.
Ihr Mann legte seine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
„Wie sollen wir das anstellen?“ erwiderte er. „Wir können ihn nicht durchfüttern. Wir können uns selbst kaum ernähren. Wir haben schon drei Söhne – wozu brauchen wir noch einen vierten? Wir sind zu alt noch ein Kind aufzuziehen.“
Mithka dachte blitzschnell nach und zeigte ihm das Brandmal auf dem Arm des Kindes. Nach all den gemeinsamen Jahren wusste sie, wie sie ihren Mann überzeugen konnte. Er sah überzeugt aus.
„Da“, erwiderte sie. „Da hast du dein Zeichen. Ein Zeichen für uns“, sagte sie ernst. „Ich werde dieses Baby retten – ob es dir gefällt oder nicht. Ich werde ihn nicht dem Tod überlassen.“
Er sah immer noch skeptisch drein, wenn auch weniger entschlossen, als ein weiterer Blitz durch den Himmel zuckte und der Himmel ihn mit Furcht erfüllte.
„Glaubst du, das alles ist reiner Zufall?“ fragte er. „Ein solches Kind, das in solch einer Nacht geboren wird? Hast du irgendeine Ahnung, wen du da in deinen Armen hältst?“
Er blickte ängstlich zu dem Kind. Dann stand er auf und trat einen Schritt zurück. Schließlich drehte er sich um und trottete besorgt davon.
Mithka würde nicht nachgeben. Sie lächelte das Baby an und wiegte es an ihrer Brust, um sein kaltes Gesichtchen zu wärmen. Langsam beruhigte sich sein Weinen.
„Ein Kind so anders als wir alle“, antwortete sie, auch wenn niemand sie hörte und hielt ihn fest. „Ein Kind das die Welt verändern wird und das Royce heißen soll.“
TEIL ZWEI
KAPITEL VIER
17 Sonnenzyklen später
Royce stand auf einem Hügel unter dem weit und breit einzigen Eichenbaum in einer von Getreidefeldern beherrschten Landschaft. Ein alter Baum, dessen Geäst den Himmel zu erreichen schien. Er sah Genoveva von Liebe verzehrt tief in die Augen. Sie hielten sich bei den Händen, sie lächelte zurück, und als sie sich vorbeugten, um sich zu küssen, ward er von Ehrfurcht und Dankbarkeit erfüllt, dass sein Herz so voll sein konnte. Als die Morgendämmerung hereinbrach, wünschte sich Royce, dass er diesen Augenblick für immer festhalten könnte.
Royce richtete sich wieder auf und blickte sie an. Genoveva war bezaubernd. Sie war wie er siebzehn Jahre alt, groß, schlank und hatte fließendes blondes Haar und intelligente grüne Augen. Ein paar Sommersprossen zierten ihre anmutigen Züge. Sie hatte ein Lächeln, das ihm Lebenskraft schenkte und ein Lachen, dass ihm wohlig zumute wurde. Sie war mehr als nur das, sie hatte Liebreiz und einen Edelmut, der ihren Bauernstand weit übertraf.
Royce sah sein eigenes Bild in ihren Augen, und er staunte darüber, dass er aussah, als wären sie verwandt. Er war natürlich viel massiger als sie und für sein Alter ungewöhnlich groß, mit Schultern, die breiter waren als die seiner älteren Brüder, einem starken Kinn, einer reizenden Nase, einer hohen Stirn, einem Aufgebot an Muskeln, die sich auf seiner Tunika abzeichneten und regelmäßigen Zügen wie den ihren. Sein längliches blondes Haar fiel ihm fast in die Augen während seine haselnussgrünen Augen ihren glichen, auch wenn sie einen Ton dunkler waren. Er war mit Stärke gesegnet und mit einer Geschicklichkeit, das Schwert so wie seine Brüder zu führen, auch wenn er der jüngste unter ihnen war. Sein Vater hatte immer gescherzt, dass er vom Himmel gefallen sei, und Royce hatte es verstanden: seine Züge und sein Körperbau unterschieden sich von dem seiner Brüder. Er war wie ein Fremder in seiner eigenen Familie.
Sie umarmten sich, und es fühlte sich gut an, so fest von ihr umschlungen zu werden, jemanden zu haben, der ihn genauso liebte, wie er sie liebte. Beide waren sie seit Kindesbeinen unzertrennlich gewesen, waren zusammen aufgewachsen, hatten zusammen in diesen Felder gespielt und hatten sich schon damals geschworen, nach der Sonnenwende ihres siebzehnten Lebensjahres zu heiraten. Es war für sie als Kinder eine toternste Angelegenheit gewesen.
Als sie älter wurden, hatten sie sich nicht wie andere Kinder voneinander entfremdet, sondern waren sich Jahr um Jahr näher gekommen. Gegen jede Erwartung war aus ihrem Kinderspiel so etwas Ernsthafteres, Feierliches, Unzerbrechliches geworden, das mit jedem Jahr stärker wurde. Ihre Leben schienen dazu bestimmt, nicht auseinanderzulaufen.
Jetzt stand der langersehnte Tag unglaublicher Weise vor der Tür. Beide waren sie siebzehn, die Sommersonnenwende stand bevor, sie war erwachsen und konnten ihre eigenen Entscheidungen treffen. Als sie unter dem Baum standen und den Sonnenaufgang betrachteten, wussten sie beide, kribbelig aufgeregt, was das bedeuten sollte.