Royce blickte in die grausamen Augen des Adligen und er wusste, dass dieser Mann Genoveva eines Tages haben würde. Und er wusste, dass er das nicht zulassen durfte. Er wollte davonlaufen, das wollte er wirklich. Aber er konnte es nicht. Das würde Genovevas Tod bedeuten.
Royce griff mit einem Mal nach Manfor und stellte ihn auf seine Füße. Er blickte ihn an und zog sein Schwert.
„Zieh!“ befahl Royce und gab ihm so die Chance ehrenhaft zu kämpfen.
Manfor starrte ihn verblüfft an, überrascht, dass er diese Chance erhielt. Dann zog er sein Schwert.
Manfor holte aus und schlug hart zu, doch Royce hob sein Schwert und wehrte den Schlag ab, Funken flogen. Royce spürte, dass er stärker war, hob sein Schwert und drängte Manfor zurück. Er drehte seinen Ellenbogen und rammte ihm den Schwertgriff ins Gesicht.
Ein Knacken war zu hören, Royce hatte Manfor die Nase gebrochen. Manfor taumelte zurück und starrte ihn an. Er hielt sich entgeistert seine Nase. Royce hätte ihn in diesem Moment töten können, doch er hab ihm eine weitere Chance.
„Gib auf“, bot ihm Royce an, „und ich werde dich am Leben lassen.“
Manfor jedoch stieß einen wütenden Schrei aus. Er hob sein Schwert und griff erneut an.
Royce wehrte ihn ab während Manfor wie wild um sich schlug. Die Schwerter klirrten, Funken flogen und es war ein ständiges vor und zurück. Manfor mochte adlig und mit all den Vorzügen dieser Abkunft aufgewachsen sein und doch übertrafen Royces Kampffähigkeiten die seinen um ein weites.
Royces Herz krampfte sich zusammen als sie kämpften, denn er vernahm in der Ferne den Klang von Hörnern und einer näherkommenden Armee. Er konnte bereits das Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster hören. Er wusste, dass ihm die Zeit davonlief und er brauchte jetzt eine schnelle Lösung.
Royce schlug mit aller Kraft auf Manfors Schwert ein und entwaffnete ihn. Es flog durch den Raum. Royce hielt seine Schwertspitze an Manfors Hals.
„Gib endlich auf“, befahl Royce.
Manfor kroch mit nach oben genommenen Armen langsam zurück. Doch als er einen kleinen Holztisch erreicht hatte, griff er etwas und warf es Royce in die Augen.
Royce schrie, konnte plötzlich nichts mehr sehen. Seine Augen brannten während die Welt um ihn schwarz wurde, er sich die Augen rieb und zu spät erkannte er, dass es Tinte war. Ein ehrloser Zug, ein Zug der ihm den adligen Status entzog. Doch dann dachte Royce, dass es ihn nicht überraschte.
Noch bevor er wieder klar sehen konnte, spürte Royce plötzlich einen scharfen Tritt in den Magen. Er kippte um und fiel auf den Boden, wand sich und blickte auf. Er hatte gerade wieder genug Sehkraft wiedererlangt um zu sehen, wie Manfor grinsend einen in seinem Mantel verborgenen Dolch hervorzog – und mit ihm auf Royce Rücken zielte.
„ROYCE!“ schrie Genoveva.
Als der Dolch auf ihn niederfuhr, gelang es Royce, sich zusammenzureißen, sich auf eines seiner Knie zu stützen, seinen Arm zu heben und Manfors Handgelenk zu packen. Royce stand langsam mit zitternden Armen auf und als Manfor erneut ausholte, wich er ihm plötzlich aus und drehte Manfors Arm so herum, dass er dessen Kraft gegen ihn verwenden konnte. Manfor versuchte weiterhin auf ihn einzustechen, doch nachdem Royce ausgewichen war, versenkte er den Dolch in seinem eigenen Bauch.
Manfor keuchte. Er stand da, starrte mit weit aufgerissenen Augen während ihm Blut aus dem Mund lief. Er war kurz davor zu sterben.
Royce spürte die Feierlichkeit dieses Moments. Er hatte einen Mann getötet. Das erste Mal in seinem Leben hatte er einen Menschen getötet. Und nicht irgendeinen – einen Adligen.
Manfors letzte Handlung war ein böses Grinsen, Blut floss aus seinem Mund.
„Du hast dir deine Braut zurückgewonnen“, keuchte er, „allerdings auf Kosten deines eigenen Lebens. Wir werden uns bald wiedersehen.“
Damit brach Manfor auf dem Boden zusammen und landete mit einem Rumps auf dem Boden.
Tot.
Royce wandte sich Genoveva zu, die reglos auf dem Bett saß. Er konnte Erleichterung und Dankbarkeit in ihrem Gesicht erkennen. Sie sprang auf, rannte durch den Raum und in seine Arme. Er hielt sie fest und es fühlte sich so gut an. Sein Leben hatte wieder einen Sinn.
„Oh Royce“, flüsterte sie in sein Ohr und das war alles was sie sagen musste. Er verstand.
„Komm, wir müssen gehen“, sagte Royce. „Uns bleibt nur wenig Zeit.“
Er nahm sie bei der Hand und sie stürmten durch die offene Tür der Kammer in den Korridor.
Royce rannte den Gang hinunter, Genoveva neben ihm, sein Herz beschleunigte sich, als er die königlichen Hörner vernahm, die immer und immer wieder erschollen. Er wusste, was sie bedeuteten – und er wusste, dass sie seinetwegen geblasen wurden.
Das Klappern der Rüstungen kündete, dass die Festung abgeriegelt worden sein musste und dass sie umzingelt waren. Seine Brüder hatten gute Arbeit geleistet sie abzulenken, doch Royces Unternehmung hatte zu lange gebraucht. Während sie rannten, blickte er in den Hof und sein Herz stockte beim Anblick der dutzenden von Rittern, die durch das Tor strömten.
Royce wusste, dass es keinen Ausweg geben würde. Er war nicht nur in ihr Heim eingebrochen, er hatte einen von ihnen getötet, einen Adligen, ein Mitglied der königlichen Familie. Sie würden ihn nicht am Leben lassen. Heute war der Tag, an dem sich sein Leben für immer verändern würde. Was für eine Ironie, dachte er; heute Morgen war er so übervoll des Glücks erwacht, hatte sich so sehr auf diesen Tag gefreut. Jetzt, noch bevor die Sonne überhaupt untergegangen war, winkte ihm der Galgen.
Royce und Genoveva rannten immer weiter und näherten sich dem Ende des Ganges und somit auch dem Eingang zur Wendeltreppe – da tauchten wie aus dem Nichts ein halbes dutzend Ritter auf den Stufen auf und versperrte ihnen den Weg.
Royce und Genoveva hielten abrupt an, drehten sich um und rannten in die entgegengesetzte Richtung, die Ritter auf ihren Fersen. Royce konnte ihre Rüstung hören und er wusste, dass sein einziger Vorteil darin bestand, dass er keine Rüstung trug, denn so war er schnell genug, sich nicht einholen zu lassen.
Sie rannten und rannten die Korridore entlang in der Hoffnung eine Hintertreppe oder einen anderen Ausweg zu finden, als sie plötzlich um die Ecke in einen neuen Korridor bogen und sich vor einer Steinwand wiederfanden. Royce blieb das Herz stehen und sie kamen jäh zum stehen.
Eine Sackgasse.
Royce drehte sich um und zog sein Schwert während er Genoveva hinter sich schob bereit, den Rittern die Stirn zu bieten, auch wenn er wusste, dass es wahrscheinlich das Letzte sein würde, was er tat.
Mit einem Mal spürte er Genovevas Griff um seinen Arm und sie rief: „Royce!“
Er wirbelte herum und sah, was sie sah: ein großes, offenes Fenster neben ihnen. Er blickte nach unten und sein Magen drehte sich um. Der Fall würde zu lange dauern, um zu überleben.
Doch dann sah er, wie sie auf einen mit Heu gefüllten Wagen deutete, der langsam unter ihnen vorbeituckerte.
„Wir könnten springen!“ schrie sie.
Sie nahm seine Hand und gemeinsam traten sie auf den Fenstersims. Er drehte sich um und blickte zurück. Die Ritter kamen näher und noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wie verrückt es war, spürte er ein Ziehen an seiner Hand – und plötzlich befanden sie sich in der Luft.
Genoveva war sogar tapferer als er. Das war sie schon von Kindesbeinen an gewesen, erinnerte er sich.
Sie sprangen und fielen sechs Meter durch die Luft. Royce schlug das Herz bis zum Halse und Genoveva schrie während sie versuchten, auf dem Wagen zu landen. Royce machte sich darauf gefasst zu sterben und war dankbar, dass er zumindest nicht durch die Hand eines Adligen sterben würde – und mit seiner Liebe an seiner Seite.
Doch zu Royces großer Erleichterung landete sie in dem Heuhaufen. Das Heu stob in einer großen Wolke um sie und zu seinem Erstaunen brach er sich nicht einen Knochen, wenn er auch ein paar blaue Flecken von dem Fall davontragen würde. Er setzte sich sofort auf und überprüfte, ob es Genoveva ebenso gut ergangen war; sie lag wie benommen da, doch dann setzte auch sie sich auf, klopfte das Heu ab und er stellte zu seiner großen Erleichterung fest, dass sie unverletzt geblieben war.
Wortlos erinnerten sich beide an ihre brenzlige Lage. Royce reichte ihr seine Hand und sie sprangen vom Wagen. Royce rannte zu seinem Pferd, das noch immer im Hof auf ihn wartete, stieg auf, griff Genoveva und half ihr hinter ihm Platz zu nehmen. Mit einem Tritt galoppierten sie davon. Royce ritt auf das offene Tor des Schlosses zu, während immer mehr Ritter hineinströmten und an ihnen vorbeijagten ohne zu erkennen, wer sie eigentlich waren.
Sie näherten sich dem offenen Tor und Royces Herz hämmerte in seiner Brust; jetzt waren sie schon so nah. Sie mussten es nur noch freiräumen und sie würden nach ein paar Galoppschritten in die offene Landschaft reiten. Von dort konnten sie mit seinen Brüdern, Cousins und Männern zusammen reiten und von diesem Ort fliehen, um andernorts ein neues Leben anzufangen. Oder besser noch konnten sie ihre eigene Armee zusammenstellen und dem Adel ein für alle Mal den Garaus machen. Die Zeit schien für einen glorreichen Moment stillzustehen und Royce versank in der Vorstellung an den bevorstehenden Wandel, den Sieg, der alles was er bisher gekannt hatte, auf den Kopf stellen würde. Der Tag des Aufstands war gekommen. Der Tag an dem ihr Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal gewesen war.
Als sich Royce dem Tor näherte, ergriff ihn das Entsetzen, denn er musste erkennen, dass das Fallgatter, das eben noch Ritter hineingelassen hatte, sich plötzlich senkte und vor ihm zuschlug. Sein Pferd bäumte sich auf und sie hielten abrupt an.
Royce drehte sich um und blickte sich im Innenhof um. Etwa fünfzig Ritter hatten sie erkannt und kamen auf sie zu. Royce bereitete sich darauf vor, auf sie zuzustürmen. Doch spürte er plötzlich wie ein Seil seinen Körper umschlang und Genoveva zu schreien begann.
Die Seile zurrten sich um seine Hüfte und Royce wurde mit einem Ruck von seinem Pferd gerissen. Er landete auf dem harten Borden und wurde auf dem Rücken gefesselt. Er sah, wie auch Genoveva von Seilen erfasst zu Boden gezerrt wurde.