Sie anderen stiegen hinter ihr von ihren Pferden ab und übergaben Royce und seinen Brüdern die Zügel. Royce zögerte keine Sekunde. In einer schnellen Bewegung sprang er auf das Pferd, gab ihm die Sporen und stürmte durch die Felder davon.
Er hörte die Pferde seiner Brüder hinter ihm im Gleichtakt durch das Geröll und in Richtung der entfernten Festung galoppieren.
Sein ältester Bruder Raymond holte ihn ein.
„Du weißt, dass das Gesetz auf seiner Seite ist“, rief er ihm zu. „Er ist ein Adliger, und sie ist unverheiratet – zumindest in diesem Moment.“
Royce nickte.
„Wenn wir die Festung stürmen und sie zurückfordern, werden sie sich weigern“, fügte Raymond hinzu. „Unsere Forderung hat keine gesetzliche Grundlage.“
Royce biss die Zähne zusammen.
„Ich werde sie nicht darum bitten, sie mir zurückzugeben“, antwortete er. „Ich werde sie mir zurückholen.“
Lofen schüttelte den Kopf als auch er zu ihnen nach vorne ritt.
„Du wirst es nicht einmal durch das Tor schaffen“, rief er. „Eine Berufsarmee erwartet dich dort. Ritter. Rüstungen. Waffen. Tore.“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Und selbst wenn es dir gelänge da durchzukommen, selbst wenn du sie rettetest, werden sie dich nicht gehen lassen. Sie werden dich jagen und töten.
„Ich weiß“, rief Royce zurück.
„Mein Bruder“, rief Garet. „Ich liebe dich. Und ich liebe Genoveva. Aber das würde deinen Tod bedeuten. Den Tod für uns alle. Es gibt nichts, was du tun kannst.“
Royce konnte hören wie sehr sich seine Brüder um ihn sorgten und er wusste es zu schätzen – doch er durfte nicht auf sie hören. Sie war seine Braut und was es auch kostete, er hatte keine Wahl. Er konnte sie nicht verlassen, auch wenn es ihn das Leben kosten würde. So war er eben.
Royce trieb sein Pferd noch stärker voran, denn er wollte ihnen nicht mehr zuhören. Er galoppierte noch schneller durch die Felder gen Horizont und in Richtung der strahlenden Stadt, in der Manfors Festung stand. In Richtung seines sicheren Todes.
Genoveva, dachte Royce. Ich komme.
*
Royce ritt so schnell er konnte durch die Felder, seine Brüder neben ihm. Sie erklommen den letzten Hügelkamm und ritten nun in Richtung der sich unter ihnen ausbreitenden Stadt. In ihrer Mitte ragte eine gigantische Festung, der Sitz des Hauses Nors, der Adligen, die sein Land mit eiserner Hand regierten und die seine Familie ausgesaugt hatten, indem sie ihnen einen Zehnten nach dem anderen ihrer Erträge abverlangt hatten. Ihnen war es gelungen, die Bauern seit Generationen in Armut zu halten. Dutzende Ritter standen ihnen zur Verfügung, in vollen Rüstungen, mit echten Waffen und Pferden; sie hatten dicke Steinmauern, einen Burggraben, eine Brücke und sie ließen unter dem Vorwand von Gesetz und Ordnung die Stadt nicht aus den Augen – doch in Wahrheit ging es ihnen darum, die Kuh so gut es ging zu melken.
Sie hatten das Gesetz gemacht. Sie setzten die grausamen Gesetze durch, auf die sich die Adligen im ganzen Land geeinigt hatten, denn es waren Gesetze, die ihnen einen Nutzen brachten. Sie taten so, als würden sie das Volk im Gegenzug beschützen, doch die Bauern wussten, dass der einzige Schutz, den sie wirklich brauchten, der vor den Adligen selbst war. Dennoch war das Königreich von Sevania ein sicheres, denn es befand sich an der Nordspitze des Alufen-Kontinentes, grenzte größtenteils an Wasser und war so von andern Ländern isoliert. Ein weiter Ozean, Flüsse und Berge boten weitere natürliche Sicherheitsmauern. Das Land war schon seit Jahrhunderten nicht mehr besetzt worden.
Die einzige Gefahr und Tyrannei kam aus dem Inneren, von der noblen Aristokratie und ihrer Ausbeutung der Armen. Menschen wie Royce. Ihre Reichtümer genügten ihnen jedoch nicht – sie mussten ihnen auch noch die Frauen wegnehmen.
Dieser Gedanke hinterließ rote Flecken auf Royces Wangen. Er senkte seinen Kopf, umklammerte den Griff seines Schwerts und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was er vorhatte.
„Die Brücke ist unten!“ rief Raymond. „Das Tor ist offen!“
Royce hatte es auch bemerkt und sah es als gutes Zeichen.
„Natürlich ist es das!“ rief Lofen zurück. „Glaubt ihr wirklich, dass sie einen Angriff erwarten? Und dann auch noch von uns?“
Royce ritt schneller, dankbar, dass seine Brüder ihm beistanden, und wissend, dass Genoveva seinen Brüdern ebenso wichtig war wie ihm. Sie war für sie wie eine Schwester und ein Affront gegen Royce war für sie wie ein Affront gegen sie selbst. Er blickte nach vorne und machte auf der Zugbrücke ein paar Schlossritter aus, die halbherzig in die Landschaft und auf die umliegenden Felder starrten. Sie waren nicht darauf vorbereitet. Sie waren seit Jahrhunderten nicht angegriffen worden und hatten keinen Grund jetzt einen Angriff zu erwarten.
Der typische Laut war zu hören als Royce sein Schwert zog, er senkte seinen Kopf und hielt sein Schwert zum Angriff bereit in die Luft. Auch seine Brüder zogen ihre Schwerter. Royce ritt nach vorne und übernahm, gewillt als erster in die Schlacht zu ziehen, die Führung. Sein Herz schlug vor Aufregung und Angst – es war keine Angst um sich selbst, sondern um Genoveva.
„Ich werde reingehen, sie finden und herausbringen!“ rief Royce den Plan seinen Brüdern zu. „Bleibt an der Seite. Das ist mein Kampf.“
„Du wirst da nicht alleine reingehen!“ rief Garet zurück.
Royce schüttelte entschlossen den Kopf.
„Wenn etwas schief geht, dann will ich nicht, dass ihr dafür bezahlt“, rief er zurück. „Bleibt hier draußen und lenkt diese Wächter ab. Das würde mir am meisten helfen.“
Er deutete mit seinem Schwert auf ein dutzend Ritter, die bei dem Torhäuschen neben dem Burggraben standen. Royce wusste, dass sie ihn angreifen würden sobald er über die Brücke ritt; doch wenn seine Brüder sie ablenkten, würden sie vielleicht lange genug in Schach gehalten, um hineinzugelangen und Genoveva zu finden. Er würde nur ein paar Minuten brauchen. Wenn er sie schnell genug fände, könnte er sie schnappen, davonreiten und diesen Ort hinter sich lassen. Er wollte niemanden töten, wenn es nach ihm ging; er wollte ihnen nicht einmal Schmerzen zufügen. Er wollte schlichtweg seine Braut zurück.
Royce senkte seinen Kopf und galoppierte so schnell er konnte, so schnell, dass er kaum noch atmen konnte, weil der Wind ihm ins Gesicht schlug. Er kam der Brücke näher, noch dreißig Meter, zwanzig, zehn, das Geräusch seines Pferdes und seines Herzschlages dröhnten in seinen Ohren. Sein Herz hämmerte in seiner Brust als er ritt und er wusste, wie verrückt das alles war. Er war dabei etwas zu tun, das der Bauernklasse nicht einmal im Traum einfallen würde zu tun: die Elite anzugreifen. Es war ein Krieg, den er unmöglich gewinnen konnte und es war ein sicherer Weg getötet zu werden. Doch seine Braut befand sich hinter diesen Toren und das war ihm Grund genug.
Royce war nur noch ein paar Meter von der Brücke entfernt, da sah er wie sich die Augen der Ritter überrascht weiteten und sie nach ihren Waffen griffen. Das hatten sie ganz klar nicht erwartet.
Ihre verzögerte Reaktionsfähigkeit war genau das, was Royce jetzt brauchte. Er stürmte auf sie zu und als sie ihre Helmbarten hoben, senkte er sein Schwert und zielte auf deren Schafte, um sie zu entzweien. Er schlug von beiden Seiten auf sie ein, zerstörte die Waffen der Ritter auf beiden Seiten der Brücke, immer darauf bedacht ihnen möglichst kein Leid zuzufügen. Er wollte sie nur entwaffnen und sich nicht in ewige Kampfhandlungen verstricken.
Royce legte noch an Geschwindigkeit zu, drängte sein Pferd vorwärts und nutzte es so als Waffe, die die übrigen Wächter zur Seite stieß, sodass sie in ihrer schweren Rüstung durch die Luft flogen und über die flache Brücke in die Wasser des Burggrabens segelten. Royce wusste, dass sie eine Weile brauchen würden, dort wieder herauszukommen. Mehr Zeit würde er auch nicht brauchen.
Royce konnte hinter sich seine Brüder hören, die ihm weitere wertvolle Minuten schenken würden; auf der anderen Seite der Brücke ritten sie auf das Torhäuschen zu, schlugen Wächter nieder, entwaffneten sie, bevor sie die Chance hatten sie anzugreifen. Sie schafften es, das Torhäuschen zu isolieren und so die verdutzten Ritter, die gerade nicht mit der Wache an der Reihe waren, zu überraschen. Das war Royces Chance.
Royce senkte seinen Kopf und raste auf das offene Tor zu. Er ritt schneller als er sah, dass es sich langsam schloss. Er zog den Kopf ein und ritt im letzten Augenblick durch den offenen Torbogen kurz bevor sich das schwere Tor endgültig schloss.
Royce ritt mit pochendem Herz in den Innenhof. Er hielt inne und blickte sich um. Er war noch nie im Inneren der Festung gewesen, war ohne Orientierung und sah sich von allen Seiten von dicken Steinmauern, die mehrere Stockwerke hoch waren, umgeben. Bedienstete und gemeines Volk wuselte hier herum, trugen Eimer mit Wasser und anderen Waren. Glücklicherweise hatten die Ritter ihn hier noch nicht entdeckt. Sie hatten auch keinen Grund, ihn zu erwarten.
Royce sah prüfend an den Mauern empor und suchte verzweifelt nach einem Anhaltspunkt seiner Braut.
Doch er fand keinen. Panik stieg in ihm auf. Was wäre, wenn sie sie woanders hingebracht hatten?
„GENOVEVA!“ rief er.
Royce suchte überall, wandte sich auf seinem wiehernden Pferd nervös nach allen Seiten um. Er hatte keine Ahnung, wo er suchen sollte und er hatte keinen Plan. Er hatte nicht einmal geglaubt, dass er es so weit schaffen würde.
Royce dachte scharf nach, er musste jetzt schnell sein. Die Adligen lebten wahrscheinlich dort oben, dachte er, fern abseits des Gestanks, der Massen, dort, wo Wind und Sonnenlicht waren. Dort würden sie auch Genoveva hingebracht haben.
Dieser Gedanke machte ihn wütend.
Er zwang sich seine Gefühle in Schach zu halten, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte über den Hof vorbei an verdattert dreinblickenden und glotzenden Bediensteten, denen die Arbeit aus der Hand fiel, als er an ihnen vorbeiritt. Er machte auf der anderen Seite des Weges eine breite, gewundene Steintreppe aus und ritt darauf zu. Er sprang ab, noch bevor sein Pferd angehalten hatte und sprintete die Treppen hinauf. Er nahm eine Windung nach der anderen und flog höher und höher. Er hatte keine Ahnung, wohin sie ihn führen würde, doch hielt es für eine gute Idee, seine Suche ganz oben zu beginnen.
Auf dem obersten Treppenabsatz verließ er schwer atmend die Wendeltreppe.
„Genoveva!“ schrie er und hoffte betend auf eine Antwort.
Doch es kam keine. Seine Verzweiflung wurde größer.
Er wählte einen der Korridore und rannte hindurch. Er betete, dass es der richtige sein würde. Als er an einer der Türen vorbeisauste, wurde sie plötzlich aufgestoßen und der Kopf eines Mannes kam zum Vorschein. Es war einer der Adligen, ein kleiner, fetter Mann mit einer breiten Nase und ausgedünntem Haar.
Er blickte Royce finster an und konnte von Royces Aufmachung sicherlich auf seine bäuerliche Herkunft schließen; er rümpfte die Nase als hätte sich Ungeziefer bei ihm eingeschlichen.
„Hey!“ rief er. „Was machst du in unserer – “
Royce zögerte keine Sekunde. Als der empörte Adlige auf ihn zu stürmte, schlug er ihm ins Gesicht, so dass er rücklings auf dem Boden landete.
Royce ließ seinen Blick schnell durch die geöffnete Tür schweifen und hoffte Genoveva dort zu erblicken. Doch der Raum war leer. Er lief weiter.
„GENOVEVA!“ schrie Royce.
Plötzlich hörte er von weit weg einen Schrei.
Sein Herz blieb stehen und er hielt inne und lauschte während er sich fragte, woher der Schrei gekommen war. Er wusste, dass seine Zeit begrenzt war, dass ihm schon bald eine ganze Armee auf den Fersen sein würde und so lief er mit schlagendem Herzen und ihren Namen unentwegt rufend weiter.
Wieder nahm er einen erstickten Schrei war und Royce wusste, dass sie es war. Sein Herz hämmerte nun. Sie war hier oben. Und er kam ihr näher.
Royce erreichte schließlich das Ende des Korridors. Dort hörte er hinter der letzten Tür auf der linken Seite einen Schrei. Er zögerte nicht, straffte seine Schultern und rannte die alte Eichentür ein.
Die Tür zerbarst und Royce stolperte hinein. Er befand sich in einer prächtigen Kammer, die mit zehn mal zehn Metern Größe, hohen Decken, in die Steinwände eingelassenen Fenstern, einer riesigen Feuerstelle und einem luxuriösen Himmelbett in der Mitte des Raumes alles übertraf, was Royce jemals gesehen hatte. Er spürte Erleichterung in sich aufsteigen als er sie, seine geliebte Genoveva, auf einem Berg von Pelzen sitzen sah.
Sie war zu seiner großen Erleichterung noch vollständig angezogen und versuchte sich tretend und mit den Armen rudernd aus Manfors Griff zu befreien. Royce schäumte vor Wut. Dort war er und vergriff sich an seiner Braut, indem er versuchte sie zu entkleiden. Royce war überaus froh, dass er es gerade rechtzeitig geschafft hatte.
Genoveva sträubte sich, schlug sich wacker, doch Manfor war zu stark für sie.
Ohne einen Moment abzuwarten, stürzte sich Royce auf ihn, gerade als der sich herumdrehen wollte. Seine Augen weiteten sich erschrocken als Royce ihn bei seinem Hemd griff und ihn mit voller Wucht wieder auf den Boden schmiss.
Manfor flog durch den Raum und landete stöhnend auf dem harten Steinboden.
„Royce!“ rief Genoveva und Erleichterung schwang in ihrer Stimme als sie sich ihm zuwandte und ihn ansah.
Royce wusste, dass er Manfor keine Verschnaufpause gönnen durfte. Als er versuchte aufzustehen, sprang Royce auf ihn und nagelte ihn auf dem Boden fest. Überwältigt von der Wut über das, was er seiner Frau angetan hatte, holte Royce mit seiner Faust aus und schlug ihm hart gegen seinen Kieferknochen.
Manfor wehrte sich jedoch, setzte sich auf und griff nach einem Dolch. Doch Royce war schneller und schlug ihm diesen aus der Hand. Immer wieder schlug er auf Manfor ein bis dieser auf den Boden sank und Royce den Dolch über den Boden ins Abseits schlittern sah.
Er hielt Manfor in eisernem Griff, doch Manfor höhnte ihn mit herausfordernder Herablassung.
„Das Gesetzt ist auf meiner Seite“, zischte Manfor. „Ich kann mir jede nehmen, die ich will. Sie gehört mir.“
Royces Blick wurde finster.
„Du rührst meine Braut nicht an.“
„Du bist durchgeknallt“, konterte Manfor. „Durchgeknallt. Am Ende des Tages wirst du tot sein. Du kannst dich nirgends verstecken. Siehst du das denn nicht? Dieses Land gehört uns.“
Royce schüttelte seinen Kopf.
„Was du nicht verstehst“, sagte er, „ist, dass es mir egal ist.“
Manfor runzelte die Stirn.
„Damit kommst du nicht davon“, sagte Manfor. „Dafür werde ich sorgen.“
Royces Griff um Manfors Handgelenk wurde fester.
„Du wirst gar nichts mehr tun. Genoveva und ich werden heute von hier fortgehen. Wenn du dich noch einmal ihr näherst, dann werde ich dich töten.“
Doch zu Royces Überraschung grinste Manfor ihn nur böse an, Blut rann ihm aus dem Mund.
„Ich werde sie niemals in Ruhe lassen“, antwortete Manfor. „Niemals. Ich werde sie den Rest ihres Lebens jagen. Und ich werde dich wie einen räudigen Hund jagen lassen mit allen Männern meines Vaters. Ich werde sie mir nehmen, und sie wird mir gehören. Und du wirst am Galgen baumeln. Also lauf und vergiss ihr Gesicht nicht – denn schon bald, wird sie mein sein.“
Royce spürte, wie blinde Wut in ihm hochkochte. Er wusste, dass es wahr war und das machte seine Worte noch grausamer. Sie konnten nirgends hin; die Adligen besaßen jeden Landstrich. Er konnte nicht gegen eine ganze Armee kämpfen. Und Manfor würde tatsächlich niemals klein begeben. Nur weil es ihm gefiel – aus keinem anderen Grund. Er hatte alles, was er wollte und trotzdem bestahl er diejenigen, die nichts hatten.