Thor begriff zu spät, was das Tier im Begriff war zu tun.
„FESTHALTEN!“, schrie er den anderen zu.
Thor hatte das Wort kaum ausgesprochen, als er spürte, wie das Schiff hochgehoben wurde und immer höher und höher aufstieg und sah, dass die Tentakel das Schiff vom Bug bis zum Heck fest umschlungen hielten. Er wappnete sich für den Einschlag, der folgen würde.
Das Biest warf das Schiff und es flog wie ein Kinderspielzeug durch die Luft, wobei alle an Bord sich verzweifelt irgendwo festklammerten, bis es schließlich wild schaukelnd wieder auf den Wellen landete.
Thor und die anderen verloren de Halt und rutschten in alle Richtungen über Deck. Thor sah Angel, die auf die Reling zu rutschte und fürchtete, dass sie über Bord gehen würde; es gelang ihm, ihre kleine Hand zu packen und sie festzuhalten, während sie ihn panisch ansah.
Endlich richtete sich das Schiff wieder aus. Thor und die anderen rappelten sich auf und bereiteten sich auf den nächsten Angriff vor. Bald sah er das Tier mit wild wedelnden Tentakeln wieder auf sie zu schwimmen. Es packte das Schiff von allen Seiten, und seine Tentakeln krochen über Deck auf sie zu.
Thor hörte einen Schrei. Als er sich umsah, sah er Selese, die von einem Tentakel, der sich um ihren Knöchel gewickelt hatte, über Deck gezerrt wurde. Reece wirbelte herum und hackte den Tentakel ab, doch im selben Augenblick packte en weiterer Tentakel Reece am Arm. Immer mehr Tentakel krochen über die Reling und als Thor einen an seiner Wade spürte, sah er, all seine Waffenbrüder wild um sich schlagen. Doch für jeden Tentakel, den sie Abschlugen, tauchten zwei mehr auf. Das ganze Schiff war voll davon und Thor wusste, dass sie alle in die Tiefe gerissen werden würden, wenn er nicht bald etwas unternahm. Er hörte ein Kreischen hoch am Himmel und sah einen der Dämonen, die aus der Hölle entlassen worden waren, der hoch über ihren Köpfen vorbeiflog und höhnisch auf sie hinabblickte.
Thor schloss die Augen, denn er wusste, dass dies eine seiner Prüfungen war – einer der monumentalen Augenblicke seines Lebens. Er versuchte, die Welt auszublenden, den Blick nach innen zu richten uns sich auf das Gelernte zu konzentrieren, auf Argon, seine Mutter, seine Kräfte. Er war stärker als das Universum, das wusste er. Tief in ihm lagen Kräfte, die weitaus stärker waren, als die physische Welt. Diese Kreatur war gigantisch, doch Thors Kräfte waren stärker. Er konnte die Macht der Natur zur Hilfe rufen, die Macht, die dieses Tier geschaffen hatte, und es in die Hölle zurückschicken, aus der es gekommen war.
Thor spürte, wie die Zeit plötzlich langsamer ablief. Seine Hände begannen zu glühen und die Hitze breitete sich prickelnd in seine Arme, Schultern und seinen Rücken aus. Thor fühlte sich unbesiegbar, als er seine Augen öffnete. Er spürte die unglaubliche Macht, die aus ihnen schien, die Macht des Universums.
Thor legte eine Hand auf einen Tentakel des Tiers und verbrannte ihn. Sofort zog es sich von seinem Bein zurück.
Thor stand auf und sah, wie sich der Kopf der Kreatur über den Rand des Schiffs erhob und sie das Maul öffnete, bereit sie alle zu verschlucken.
Thor stieß einen wilden Schrei aus und stürzte sich auf das Biest. Ohne sein Schwert stürmte er an den anderen vorbei und streckte seine glühenden Arme aus. Er packte das Gesicht der Kreatur und spürte, wie seine Hände es verbrannten.
Thor hielt sich fest, während das Biest kreischte und sich windend aus seinem Griff zu befreien versuchte. Einen Tentakel nach dem anderen begann es, das Boot loszulassen, während Thor spürte, wie die Macht in ihm aufstieg. Mit beiden Händen hob er es in die Höhe und spürte sein Gewicht, doch es störte ihn nicht. Bald schwebte es über Thor, gehalten von seiner unglaublichen Macht.
Dann, als das Biest gut zehn Meter über ihm war, wandte Thor sich um und stieß es von sich.
Die Kreatur flog über das Schiff hinweg gut dreißig Meter durch die Luft, bis es mit lautem Platschen ins Wasser fiel und unterging. Es war tot.
Thor stand in der plötzlichen Stille; sein ganzer Körper glühte noch, während sich die anderen langsam aufrappelten und irritiert auf das rote Wasser hinausblickten. Thor hatte seine Augen auf das schwarze Schloss am Horizont gerichtet. Er wusste, dass dort sein Sohn war.
Die Zeit war gekommen. Nichts würde ihn mehr aufhalten und er würde endlich seinen Sohn zurückholen.
KAPITEL ELF
Volusia stand vor ihren vielen Beratern in den Straßen der Hauptstadt des Empire und starrte schockiert in den Spiegel in ihrer Hand. Sie betrachtete ihr Gesicht von allen Seiten. Die eine Hälfte war schön wie eh und je, die andere entstellt, geschmolzen – und eine Welle der Abscheu stieg in ihr auf. Die Tatsache, dass eine Seite noch immer schön war, machte alles noch schlimmer. Für sie wäre es einfacher gewesen, wenn sie vollkommen entstellt gewesen wäre – dann wäre sie nicht andauernd an ihre frühere Schönheit erinnert worden.
Volusia erinnerte sich an ihre atemberaubende Schönheit, die Wurzel ihrer Macht, die sie durch ihr ganzes Leben getragen hatte, die ihr erlaubt hatte, Männer wie Frauen zu manipulieren und ihnen mit einem einzigen Blick die Knie weich werden zu lassen. All das war nun Vergangenheit. Nun war sie nicht mehr als jedes andere siebzehnjährige Mädchen – viel schlimmer noch, eine Hälfte von ihr sah aus wie ein Monster. Sie konnte den Anblick ihres eigenen Gesichts nicht ertragen.
In einem Ausbruch von Wut und Verzweiflung zertrümmerte sie den Spiegel. Ihre Berater standen schweigend mit gesenkten Blicken da. Sie alle wussten, dass es besser war, sie jetzt nicht anzusprechen. Als sie ihre Gesichter sah wurde ihr klar, dass sie sie nicht ansehen wollten, um dem Schrecken ihres neuen Anblicks zu entgehen.
Volusia sah sich nach den Voks um, begierig, sie zu zerreißen – doch sie waren schon fort. Sie waren in dem Augenblick verschwunden, in dem Vokin seinen schrecklichen Zauber über sie gebracht hatte. Man hatte sie gewarnt, sich mit ihnen zu verbünden, und nun erkannte sie, dass die Warner Recht behalten hatten. Sie hatten einen hohen Preis dafür gezahlt. Einen Preis, den sie nie ungeschehen machen konnte.
Volusia hatte das Bedürfnis, ihren Zorn an jemandem auszulassen, und ihr Blick fiel auf Brin, ihrem neuen Kommandanten, einem statuesken Krieger, der nur wenige Jahre älter als sie war und ihr seit vielen Monden den Hof machte. Jung, groß, muskulös, sah er unglaublich gut aus und hatte seit ihrer ersten Begegnung nach ihr gegiert. Doch jetzt, in ihrem Zorn, konnte sie ihn nicht einmal ins Gesicht sehen.
„Du!“, zischte sie ihn an, und konnte sich dabei kaum beherrschen. „Nicht einmal du willst mich mehr ansehen?“
Sie wurde rot als er aufblickte, dabei jedoch ihren Augen auswich. Das war nun ihr Schicksal – für den Rest ihres Lebens entstellt zu sein.
„Findest du mich jetzt so abstoßend?“, fragte sie mit vor Verzweiflung brüchiger Stimme.
Er ließ den Kopf hängen, antwortete jedoch nicht.
„Nun gut“, sagte sie schließlich nach langem Schweigen, entschlossen, an irgendjemandem Rache zu üben. „Dann befehle ich es dir: du wirst mir ins Gesicht sehen. Du wirst mir beweisen, dass ich schön bin, und mit mir schlafen!“
Der Kommandant hob den Blick und sah ihr das erste Mal in die Augen, und Angst und Schrecken lagen in seiner Miene.
„Meine Göttin?“, fragte er mit brüchiger Stimme, denn er wusste, dass sie ihn umbringen würde, wenn er sich ihrem Befehl widersetzte.
Volusia lächelte. Es bereitete ihr eine perverse Freude, als sie erkannte, dass das die perfekte Rache war: mit dem Mann zu schlafen der sie einst begehrt hatte und sie nun abstoßend fand.
„Nach dir“, sagte sie und machte eine einladende Geste in Richtung ihres Palasts.
*
Volusia stand vor dem hohen offenen Fenster im obersten Stockwerk ihres Palasts in der Hauptstadt des Empire. Während die Sonne aufging und eine sanfte Brise die Vorhänge in ihr Gesicht wehten, weinte sie stumm. Sie spürte, wie die Tränen über die schöne Seite ihres Gesichts rollten, doch die andere Seite war taub.
Leises Schnarchen drang an ihr Ohr. Volusia blickte über die Schulter und sah Brin schlafend im Bett liegen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich selbst im Schlaf noch immer ein angewiderter Ausdruck ab.
Er hatte jeden Augenblick verabscheut, als er mit ihr geschlafen hatte, das wusste sie, und es hatte ihr zumindest ein leises Gefühl der Genugtuung gegeben. Doch sie war noch nicht zufrieden. Sie konnte ihren Zorn nicht an den Voks auslassen, und ihr Bedürfnis nach Rache war noch immer nicht gestillt.
Ihre Rache war schwach und entsprach kaum der, nach der sie sich sehnte. Schließlich waren die Voks verschwunden, während sie am Morgen danach immer noch am Leben war, für immer in ihrem Körper gefangen. Gefangen in diesem Gesicht, dessen Anblick sie nicht einmal selbst ertragen konnte.
Volusia wischte die Tränen ab und blickte über die Stadt und ihre Mauern hinweg zum Horizont. Als die Sonnen aufgingen, sah sie die ersten schwarzen Banner der Armee der Ritter der Sieben in der Ferne. Sie lagerten und sammelten sich dort. Sie umzingelten sie langsam, sammelten Millionen von Männern aus allen Ecken des Empire, und ließen sich Zeit, einzumarschieren. Sie zu vernichten.
Sie freute sich auf die Konfrontation. Sie wusste, dass sie die Voks nicht brauchte. Sie brauchte ihre Männer nicht. Sie konnte sie ganz alleine töten. Schließlich war sie eine Göttin. Sie hatte das Reich der Lebenden vor langer Zeit verlassen und war nun eine Legende, eine Legende, die niemand, keine Armee der Welt, aufhalten konnte. Sie würde sie alleine begrüßen und sie würde sie alle töten.
Dann endlich gäbe es niemanden mehr, der ihr die Stirn bieten konnte. Dann hätte sie die höchste Macht erlangt.
Volusia hörte ein Rascheln hinter sich und nahm aus dem Augenwinkel Bewegung wahr. Sie sah, wie Brin sich aus dem Bett erhob und begann, sich anzuziehen. Sie sah, wie er vorsichtig umherschlich, und realisierte, dass er sich davonmachen wollte, bevor sie ihn sah – damit er ihr nicht wieder ins Gesicht blicken musste.
Das machte alles nur noch schlimmer.
„Oh, Kommandant“, sagte sie beiläufig, und sah, wie er vor Angst erstarrte. Als er sich widerwillig zu ihr umdrehte, lächelte sie ihn mit ihren grotesk geschmolzenen Lippen an und genoss es, ihn damit zu quälen.
„Komm her, Kommandant“, sagte sie. „Bevor du gehst, möchte ich dir noch etwas zeigen.“
Langsam kam er zu ihr herüber und wartete, ohne sie dabei anzusehen.
„Hast du keinen süßen Abschiedskuss für mich?“, fragte sie.
Sie konnte sehen, wie er kaum merklich zusammenzuckte, und der Zorn begann wieder in ihr zu brodeln.
„Macht nichts“, fügte sie hinzu, und ihre Miene verfinsterte sich. „Doch da ist etwas, was ich dir zumindest zeigen möchte. Schau. Siehst du da draußen am Horizont? Schau genau hin. Sag mir, was du siehst.“
Er trat ans Fenster und sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Angestrengt betrachtete er den Horizont und legte seine Stirn dabei irritiert in Falten.
„Ich kann nichts sehen, meine Göttin“, sagte er. „Zumindest nichts Ungewöhnliches. Was meinst du?“
Volusia lächelte über das gesamte Gesicht, und spürte, wie ihre alte Rachgier wieder in ihr aufstieg, das alte Bedürfnis nach Gewalt, nach Grausamkeit.
„Schau genauer hin, Kommandant“, sagte sie.
Er beugte sich ein wenig vor, und in einer schnellen Bewegung packte sie sein Hemd und warf ihn mit aller Kraft aus dem Fenster.
Brin kreischte, als er um sich schlagend in die Tiefe stürzte, bis er mit dem Kopf voran auf der Straße aufschlug. Sein Schrei hallte durch die sonst vollkommen stillen Straßen.
Volusia lächelte breit und blickte auf den Leichnam hinab.
„Dich, du Idiot“, antwortete sie. „Wer von uns ist jetzt der Groteskere?“
KAPITEL ZWÖLF
Gwendolyn wanderte durch die schwach beleuchteten Flure des Turms der Lichtsucher. Krohn wich nicht von ihrer Seite, als sie langsam die Rampe an den äußeren Mauern des Gebäudes hochging. Ihr Weg war gesäumt von Fackeln und Betenden, die schweigend dastanden, die Hände in ihren Kutten verborgen. Gwendolyns Neugier wuchs, je weiter sie nach oben kam. Der Sohn des Königs, Kristof, hatte sie den halben Weg begleitet, danach war er umgekehrt und hatte ihr erklärt, dass sie alleine weitergehen musste, um Eldof zu sehen. Nur alleine durfte sie ihm gegenübertreten.
Er sprach von ihm, als wäre er ein Gott.
Leiser Gesang klang durch die vom Weihrauch schwere Luft und Gwendolyn fragte sich, welches Geheimnis Eldof hütete. Würde er ihr das Wissen anvertrauen, das sie brauchte, um den König und das Königreich zu retten? Konnte sie es jemals schaffen, die Familie des Königs aus diesem Turm zu befreien?
Als Gwendolyn um eine Ecke bog, öffnete sich der Korridor plötzlich in einen riesigen Saal. Staunend betrat die den Raum mit der dreißig Meter hohen Decke, dessen Wände von oben bis unten aus Bleiglasfenstern bestanden. Gedämpftes Licht fiel durch sie hinein, und ließ rote und violette Streifen durch den Raum wandern, was ihm eine ätherische Atmosphäre verlieh. Es gab dem Mann, der allein inmitten des Saals saß und auf den eine gleißende Lichtseite fiel ein fast surreales Aussehen.
Eldof.
Gwendolyns Herz pochte, als sie ihn sah. Im Lichtkegel saß er da, wie ein Gott, der vom Himmel gefallen war. Er hatte seine Hände in seiner glänzenden goldenen Kutte verborgen, sein Kopf war kahlgeschoren, und er saß auf einem riesigen geschnitzten Thron aus Elfenbein, der von Fackeln auf beiden Seiten erleuchtet wurde. Diese Kammer, der Thron, und die Rampe, die zu ihm hinaufführte war ehrfurchtgebietender, als sich einem König zu nähern. Sie verstand sofort, warum sich der König von Eldofs Gegenwart bedroht fühlte. Alles, der Turm, diese Kammer, der Mann waren darauf ausgelegt, Ehrfurcht und Unterwürfigkeit zu erwecken.
Weder winkte sie nicht zu sich heran noch schien er ihre Anwesenheit wahrzunehmen, darum ging Gwendolyn, die nicht wusste, was sie sonst tun sollte, langsam die goldene Rampe zu seinem Thron hinauf. Als sie hinaufging bemerkte sie, dass er doch nicht allein war, denn im Schatten standen Reihen Anhängern im Schatten der Rampe Sie fragte sich, wie viele tausend Anhänger er wohl hatte.
Schließlich blieb sie wenige Meter vor dem Thron stehen und sah hinauf.
Er blickte mit eisblau leuchtenden Augen auf sie herab, die ihr uralt erschienen, doch auch wenn er sie anlächelte, lag keine Wärme in seinen Augen. Sie waren hypnotisch. Seine Präsenz erinnerte sie an Argon.
Sie wusste nicht was sie sagen sollte, als er sie anstarrte; es fühlte sich an, als starrte er in ihre Seele. Schweigend stand sie vor ihm und wartete darauf, dass er bereit war. Krohn neben ihr war ebenso starr und nervös wie sie.
„Gwendolyn aus dem Westlichen Königreich des Rings, Tochter von König MacGil, letzte Hoffnung und Retterin ihres – und unseres – Volkes“, sagte er langsam, als ob er aus einer Schriftrolle vorlas. Seine Stimme war tief und klang, als sprächen die Steine, aus denen der Turm erbaut war. Sein Blick bohrte sich in ihren, und seine Stimme hypnotisierte sie. Während er sie ansah, verlor sie jegliches Zeitgefühl und schon spürte Gwendolyn, wie sie von seiner Persönlichkeit in den Kult hineingesaugt wurde. Sie fühlte sich wie in Trace und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sofort hatte sie das Gefühl, dass er das Zentrum ihrer Welt war, und sie verstand, wie es dazu kam, dass all diese Leute ihn verehrten und ihm folgten.