Gwendolyn erwiderte sprachlos seinen Blick, etwas, was ihr selten passierte. Sie war noch nie auf Anhieb so sehr von jemandem fasziniert gewesen – und sie war schon vielen Königen und Königinnen gegenübergestanden; sie, die selbst eine Königin war; sie, die Tochter eines Königs. Dieser Mann hatte etwas an sich, das sie nicht beschreiben konnte; einen Augenblick lang hatte sie sogar vergessen, warum sie gekommen war.
Schließlich erlangte sie lange genug die Kontrolle über ihren Verstand zurück, um zu sprechen.
„Ich bin gekommen“, begann sie, „weil…“
Er unterbrach sie mit einem Lachen.
„Ich weiß, warum du gekommen bist“, sagte er. „Ich wusste es lange bevor du es wusstest. Ich wusste es von deiner Ankunft an diesem Ort, bevor du die Große Wüste durchquert hast. Ich wusste von deiner Abreise aus dem Ring, deiner Reise zu den Oberen Inseln und von deiner Reise über das Meer. Ich weiß von deinem Gemahl, Thorgrin, und deinem Sohn, Guwayne. Ich habe dich mit großem Interesse beobachtet, Gwendolyn, und das schon seit Jahrhunderten.“
Gwendolyn liefen bei seinen Worten kalte Schauer über den Rücken. Ihr ganzer Körper kribbelte, und sie fragte sich, woher er so viel über sie wusste. Sie hatte das Gefühl, dass er sie in seinen Bann zog. Wenn er sie einmal eingefangen hätte, gäbe es kein Entkommen mehr.
„Woher weißt du all das?“, fragte sie.
Er lächelte.
„Ich bin Eldof. Ich bin der Anfang und das Ende allen Wissens.“
Er stand auf, und erschrocken bemerkte sie, dass er doppelt so groß wie jeder andere Mann war, dem sie je begegnet war. Er ging auf sie zu und sein Blick war so fesselnd, dass Gwendolyn das Gefühl hatte, sich in seiner Gegenwart nicht bewegen zu können. Es war so schwer, sich vor ihm zu konzentrieren und auch nur einen unabhängigen Gedanken zu fassen.
Gwendolyn zwang sich, sich zu konzentrieren.
„Dein König braucht dich“, sagte sie. „Das Königreich braucht dich.“
Er lachte.
„Mein König?“ widerholte er voller Abscheu.
Gwendolyn zwang sich, nicht nachzugeben.
„Er glaubt, dass du das Wissen hast, das Königreich zu retten. Er glaubt, dass du ein Geheimnis vor ihm bewahrst, das diesen Ort und alle Menschen darin retten könnte.“
„Das tue ich“, antwortete er schlicht.
„Das tust du?“, fragte sie irritiert.
Er lächelte, antwortete jedoch nicht.
„Aber warum?“, fragte sie. „Warum willst du das Geheimnis nicht teilen?“
„Warum sollte ich?“, fragte er.
„Warum?“, wiederholte sie sprachlos. „Natürlich um das Königreich und sein ganzes Volk zu retten.“
„Und warum sollte ich das tun?“
Gwendolyn kniff verwirrt ihre Augen zusammen; sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Schließlich seufzte er.
„Dein Problem ist“, sagte er, „dass du glaubst, dass alle gerettet werden sollten. Doch damit liegst du falsch. Du betrachtest die Zeit durch die Linse von Jahrzehnten; ich betrachte sie über die Jahrhunderte. Du betrachtest Menschen als unverzichtbar; ich sehe sie lediglich als Rädchen im großen Rad des Schicksals und der Zeit.“
Er trat mit loderndem Blick näher.
„Manchen Menschen, Gwendolyn, ist es bestimmt, zu sterben. Manche Menschen müssen sterben.“
„Müssen sterben?“, wiederholte sie schockiert.
„Manche müssen sterben, um andere zu befreien“, sagte er. „Manche müssen fallen, damit sich andere erheben können. Was macht einen Menschen wichtiger als den anderen? Einen Ort wichtiger als den anderen?“
Sie dachte mit wachsender Verwirrung über seine Worte nach.
„Ohne Zerstörung, ohne Verlust, kann es kein Wachstum geben. Ohne den leeren Wüstensand gäbe es kein Fundament, auf das man die großen Städte bauen könnte. Was ist wichtiger: Die Zerstörung, oder das Wachstum, das folgt? Kannst du es nicht verstehen? Was mehr ist Zerstörung als ein Fundament?“
Gwendolyn war verwirrt und versuchte, ihn zu verstehen, doch seine Worte ließen ihre Verwirrung nur noch wachsen.
„Dann willst du zusehen wie das Königreich und sein Volk sterben?“, fragte sie. „Warum? Was bringt dir das?“
Er lachte.
„Warum sollte es für alles immer einen Nutzen geben?“, fragte er. „Ich werde sie nicht retten, weil es ihnen nicht bestimmt ist, gerettet zu werden“, sagte er mitfühlend. „Diesem Ort, dem Königreich des Jochs, ist es nicht bestimmt, gerettet zu werden. Ihm ist bestimmt, zerstört zu werden. Diesem König ist es bestimm, zerstört zu werden. Und es ist nicht meine Aufgabe, mich dem Schicksal in den Weg zu stellen. Mir ist das Geschenk zuteil geworden, das ich in die Zukunft sehen kann – doch es ist ein Geschenk, das ich nicht missbrauchen darf. Ich darf nicht ändern, was ich sehe. Wer bin ich schon, dass ich mich dem Schicksal in den Weg stellen dürfte?“
Gwendolyn konnte nicht umhin an Thorgrin und Guwayne zu denken.
Eldof lächelte.
„Ah ja“, sagte er, und sah sie direkt an. „Dein Gemahl, dein Sohn.“
Gwendolyn sah ihn erschrocken an und fragte sich, wie er ihre Gedanken gelesen hatte.
„Du willst sie unbedingt zurück“, fügte er hinzu und schüttelte den Kopf. „Doch manchmal kannst du das Schicksal einfach nicht ändern.“
Sie wurde rot und schüttelte entschlossen seine Worte ab.
„Ich werde das Schicksal ändern“, sagte sie entschlossen. „Egal was dazu nötig ist. Selbst wenn ich meine Seele dafür aufgeben müsste.“
Eldof betrachtete sie lange und eingehend.
„Ja“, sagte er. „Das würdest du, nicht wahr? Ich kann diese Stärke in dir sehen. Du hast den Geist eines Kriegers.“
Er musterte sie, und um ersten Mals sah sie so etwas wie Gewissheit in seinem Blick.
„Ich habe nicht damit gerechnet, das in dir zu finden“, sagte er mit bescheidener Stimme. „Es gibt ein paar wenige Auserwählte wie dich, die die Macht haben, das Schicksal zu ändern. Doch der Preis den du dafür zahlen musst, ist hoch.“
Er seufzte und schüttelte den Kopf, als wollte er eine Vision verscheuchen.
„Jedenfalls“, fuhr er fort, „wirst du das Schicksal hier nicht ändern – nicht im Joch. Der Tod kommt hierher. Was sie brauchen ist keine Rettung – sie brauchen einen Exodus. Sie brauchen einen neuen Anführer, der sie durch die Große Wüste führen wird, und ich denke, du weißt bereits, dass du dieser Anführer bist.“
Gwendolyn schickten seine Worte kalte Schauer über den Rücken. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie das alles noch einmal durchstehen sollte.
„Wie kann ich sie führen?“, fragte sie, und als er sich umwandte und von ihr wegging, verspürte sie plötzlich das brennende Bedürfnis, mehr zu erfahren.
„Sag es mir“, bat sie ihn und hielt ihn am Arm fest.
Er drehte sich um und sah ihre Hand an, als berührte ihn eine Schlange, bis sie sie schließlich zurückzog. Einige seiner Mönche waren aus dem Schatten getreten und warteten ganz in der Nähe. Sie sahen sie böse an bis Eldof ihnen zunickte und sie sich zurückzogen.
„Sag mir“, sagte er zu ihr. „Ich werde dir nur einmal antworten, nur ein einziges Mal. Was ist es, das du wissen möchtest?“
Gwendolyn atmete verzweifelt durch.
„Guwayne“, sagte sie atemlos. „Mein Sohn. Wie bekomme ich ihn zurück? Wie verändere ich mein Schicksal?“
Er sah sie lange an.
„Die Antwort ist schon die ganze Zeit vor dir, doch du siehst sie nicht.“
Gwendolyn zermarterte sich das Gehirn. Sie wollte es unbedingt wissen, doch konnte nicht verstehen, was es war.
„Argon“, sagte er. „Es gibt noch ein Geheimnis. Er fürchtet sich, es dir zu verraten. Darin liegt deine Antwort.“
„Argon?“, fragte sie. „Argon weiß es?“
Eldof schüttelte den Kopf.
„Er weiß es nicht. Sein Meister jedoch schon.“
In Gwendolyns Kopf drehte sich alles.
„Sein Meister?“, fragte sie.
Sie hatte nie in Betracht gezogen, dass Argon einen Meister hatte.
Eldof nickte.
„Verlange, dass er dich zu ihm bringt“, sagte er, und in seiner Stimme lag etwas Endgültiges. „Die Antworten die du er erhalten wirst, werden sogar dich überraschen.“
KAPITEL DREIZEHN
Mardig marschierte entschieden durch die Flure des Schlosses. Sein Herz pochte, als er darüber nachdachte, was er im Begriff war zu tun. Er tastete mit feuchten Händen nach dem Dolch, den er in den Falten seines Gewands verborgen trug. Er ging dieselben Flure entlang, durch die er schon zahllose Male gewandert war um seinen Vater zu sehen.
Die Kammer des Königs war nicht mehr weit, und Mardig ging an den Wachen vorbei, die sich beim Anblick des Sohnes des Königs ehrfürchtig verbeugten. Mardig fürchtete sich nicht vor ihnen. Keiner hatte eine Ahnung, was er im Begriff war zu tun, und lange Zeit würde keiner herausfinden, was geschehen war – bis das Königreich ihm gehörte.
Mardig fühlte einen Wirbelsturm gegensätzlicher Emotionen, als er sich zwang, mit zitternden Knien weiterzugehen, und auszuführen, worüber er schon sein ganzes Leben lang nachgedacht hatte. Sein Vater war für ihn immer ein Unterdrücker gewesen, hatte ihn immer abgelehnt, während er seine anderen Söhne, die Krieger, schätzte. Er schätzte sogar seine Tochter mehr als ihn. Und nur, weil er, Mardig, sich entschlossen hatte, nicht an dieser Kultur des Rittertums teilzunehmen, weil er lieber Wein und Frauen genoss, als andere Männer umzubringen.
In den Augen seines Vaters machte ihn das zum Versager. Sein Vater missbilligte alles, was Mardig tat; sein scheeler Blick folgte ihm überall hin, und Mardig hatte immer von einem Tag der Abrechnung geträumt. Gleichzeitig konnte Mardig die Macht an sich reißen. Jeder rechnete damit, dass der Thron einem seiner Brüder, Koldo, dem ältesten, zufallen würde, oder wenn schon nicht ihm, dann Mardigs Zwilling, Ludvig. Doch Mardig hatte andere Pläne.
Als Mardig um die Ecke bog, verbeugten sich die Wachen und öffneten ihm ohne Fragen zu stellen die Tür.
Doch plötzlich wandte sich einer von ihnen um und sah ihn an.
„Mylord“, sagte er. „Der König hat uns nicht gesagt, dass er heute Morgen Besucher erwartet.“
Mardigs Herz begann zu rasen, doch er zwang sich, seine selbstbewusste Erscheinung zu bewahren. Er drehte sich um und starrte den Krieger an, bis dieser schließlich verunsichert aussah.
„Bin ich denn nicht mehr als nur ein einfacher Besucher?“, antwortete Mardig kühl, und gab sich Mühe, nicht nervös zu wirken.
Der Wächter wich zurück und Mardig marschierte durch die Tür, die die Wächter hinter ihm wieder schlossen.
Mardig marschierte in den Raum, und sah den überraschten Blick seines Vaters, der am Fenster stand und nachdenklich auf sein Königreich herabgeblickt hatte. Er sah ihn irritiert an.
„Mardig“, sagte er. „Welchem Anlass habe ich diese Ehre zu verdanken? Ich habe dich nicht gerufen, noch hast du dir die Mühe gemacht, mich in den vergangenen Monden zu besuchen – es sei denn du wolltest etwas.“
Mardigs Herz schlug ihm bis zum Hals.
„Ich bin nicht gekommen, um dich um irgendetwas zu bitten“, antwortete Mardig. „Ich bin gekommen, um mir etwas zu nehmen.“
Sein Vater sah ihn verwirrt an.
„Dir etwas zu nehmen?“, fragte er.
„Mir zu nehmen, was mir gehört“, antwortete Mardig.
Mardig ging mit großen Schritten durch die Kammer während sein Vater ihn irritiert ansah.
„Und was hier gehört dir?“, fragte er.
Mardig spürte, wie seine Hände schwitzten. Er hielt den Dolch umklammert und wusste nicht, ob er es durchziehen konnte.
„Nun, das Königreich“, sagte er.
Mardig zog langsam den Dolch aus seinem Gürtel, wollte, dass sein Vater ihn sah, bevor er zustach, wollte, dass er sah, wie sehr er ihn hasste. Er wollte den Ausdruck von Angst, Schock und Wut in den Augen seines Vaters sehen.
Doch als sein Vater den Blick senkte, war es nicht so, wie Mardig es erwartet hatte. Er hatte damit gerechnet, dass sein Vater sich wehren würde; doch stattdessen sah er ihm voller Trauer und Mitgefühl an.
„Mein Junge“, sagte er. „Du bist immer noch mein Sohn, trotz allem, und ich liebe dich. Ich weiß, dass du es tief in deinem Herzen nicht tun willst.“
Mardig kniff verwirrt die Augen zusammen.
„Ich bin krank, mein Sohn“, fuhr der König fort, „und werde ohnehin bald sterben. Und wenn es soweit ist, wird das Königreich an deine Brüder vererbt, nicht an dich. Selbst wenn du mich jetzt tötest, hast du nichts davon. Du bist immer noch der Dritte in der Thronfolge. Also leg deine Waffe nieder, und nimm mich in den Arm. Ich liebe dich immer noch, so wie jeder Vater es täte.“
In einem plötzlichen Anflug von Zorn sprang er mit zitternden Händen auf seinen Vater zu und rammte ihm den Dolch ins Herz.
„Deine Krankheit hat dich schwach werden lassen, Vater“, sagte er. „Vor fünf Jahren noch wäre das hier vollkommen unmöglich gewesen. Und ein Königreich hat keinen schwachen König verdient. Ich weiß, dass du bald sterben wirst – doch das ist mir nicht schnell genug.“
Schließlich sank der König zu Boden und blieb regungslos liegen.
Er war tot.
Mardig blickte schwer atmend auf ihn herab, immer noch schockiert über das, was er gerade getan hatte. Er wischte seine Hand an seiner Robe ab und ließ das Messer fallen, das klappernd auf den steinernen Boden fiel.
„Mach dir keine Sorgen über meine Brüder, Vater“, fügte er hinzu. „Für sie habe ich auch schon Pläne.“
Danach stieg er über den Leichnam seines Vaters und ging ans Fenster. Zufrieden ließ er den Blick über die Hauptstadt gleiten. Seine Stadt.
Jetzt gehörte all das ihm.
KAPITEL VIERZEHN
Kendrick hob sein Schwert und wehrte den Hieb eines Sandläufers ab, der mit seinen messerscharfen Krallen nach seinem Gesicht schlug. Klirrend und funkenstiebend blockte er ihn und wich ihm aus, als die Kreatur ihre Krallen von seiner Klinge gleiten ließ und wieder nach seinem Kopf schlug.
Kendrick wirbelte herum und schlug zu, doch die Kreatur war erstaunlich schnell. Sie wich zurück und Kendricks Schwert verfehlte sie knapp. Dann machte sie einen Satz nach vorn und sprang hoch in die Luft, um sich auf Kendrick zu stürzen; doch diesmal war er wohl vorbereitet. Beim ersten Angriff hatte er ihre Geschwindigkeit unterschätzt, doch diesen Fehler würde er kein zweites Mal machen. Er ging in die Hocke, hob sein Schwert senkrecht über seinen Kopf – und sah zu, wie die Kreatur sich selbst aufspießte.
Nachdem er sie abgeschüttelt hatte, ging er in die Knie und schwang sein Schwert auf niedriger Höhe über dem Boden. Dabei schlug er zwei Sandläufern gleichzeitig die Beine ab, die auf ihn zukamen; dann drehte er sich um und stieß sein Schwert nach hinten, wobei er dem einen in den Magen stach, bevor er auf seinem Rücken landen konnte.
Die Kreaturen griffen ihn aus allen Richtungen an und Kendrick fand sich inmitten einer heißen Schlacht wieder, Brandt und Atme auf der einen, Koldo und Ludvig auf der anderen Seite. Instinktiv kehrten die fünf einander den Rücken zu und bildeten einen engen Kreis; Rücken an Rücken schlugen, stachen und traten sie, und hielten die Kreaturen auf Abstand während sie einander gegenseitig Deckung gaben. Im gleißenden Sonnenlicht kämpften sie immer weiter. Kendricks Schultern schmerzten, und überall war Blut. Alle waren von der langen Wanderung und dem endlosen Kampf erschöpft. Sie hatten keine Kraftreserven mehr, keinen Ort, an den sie fliehen konnten und kämpften ums nackte Überleben. Die wütenden Schreie der Kreaturen hallten über die Ebene während sie überall um die Männer herum fielen. Kendrick wusste, dass sie vorsichtig sein mussten; es war ein langer Weg zurück, und wenn auch nur einer von ihnen verwundet werden würde, wäre das fatal.
Während er kämpfte, konnte Kendrick in der Ferne einen Blick auf den jungen Kaden erhaschen, und war erleichtert zu sehen, dass er noch am Leben war. Er sträubte sich an Händen und Füßen gefesselt und von mehreren Sandläufern festgehalten. Sein Anblick motivierte Kendrick und erinnerte ihn daran, wofür sie überhaupt hierhergekommen waren. Er kämpfte wütend, verdoppelte seine Bemühungen, und versuchte sich den Weg durch die Kreaturen zu bahnen, um zu Kaden zu gelangen. Es gefiel ihm nicht, wie sie mit ihm umgingen, und er wusste, dass er ihn erreichen musste, bevor sie ihm etwas Schreckliches antaten.