„Wie lange wirst du in der Stadt bleiben, Cris?“, fragte Bryn.
Keira hielt mit ihrer Arbeit inne und warf einen Blick über die Schulter. Sie und Cristiano hatten darüber noch nicht gesprochen. Ihre Beziehung war von Anfang an so stürmisch gewesen, dass sie überhaupt noch nichts geplant hatten. Sie hatten auch nicht besprochen, dass es in Bryns Apartment nur ein einziges Bett gab. Wo würden sie schlafen?
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete Cristiano. „Wir leben für den Augenblick. Nehmen jede Minute so, wie sie kommt.“
Keira atmete aus. Das war eine beruhigende Antwort.
Sie beendete schnell das Aufräumen und gesellte sich zu den beiden anderen. Bryn schenkte auch ihr ein Glas Wein ein.
„Ich denke, ihr beide solltet im Bett schlafen“, meinte sie und schob das Weinglas über den Tresen. „Auf die Couch passt ihr beide wohl nicht.“
„Im Ernst?“ Keira wunderte sich über diese großzügige Geste. So war Bryn eigentlich nicht. „Was wird mit dir?“
Bryn deutete Richtung Couch. „Ich schlafe sowieso meistens vor dem Fernseher ein. Wenn ich überhaupt zu Hause bin.“
Sie wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Keira stöhnte auf. Der Gedanke an Bryns zahlreiche Eroberungen bereitete ihr Unbehagen.
„Das ist sehr nett von dir“, sagte Cristiano. Offenbar hatte er den Unterton nicht mitbekommen.
„Eine eigene Wohnung zu finden, steht ganz oben auf meiner Liste“, erklärte Keira. „Ich verspreche, wir verschwinden so schnell wie möglich aus deiner Wohnung.“
Neben ihr versteifte sich Cristiano plötzlich. Er nippte an seinem Wein und hielt seinen Blick gesenkt. Warum verspannte er sich? Hatte sie etwas Falsches gesagt?
Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Dachte er etwa, sie würden sich eine gemeinsame Wohnung nehmen?
Wie peinlich konnte es denn noch werden? Keira kauerte sich auf ihrem Sitz zusammen. Das hatte sie damit ganz und gar nicht sagen wollen! Es wäre dumm, anzunehmen, Cristiano würde nach so kurzer Bekanntschaft mit ihr zusammenziehen wollen. Zumal sie nie über dergleichen geredet hatten. Sie wusste nicht einmal, wie lange sie ihn um sich haben wollte. Zwischen heute und für immer gab es ein sehr weites Feld.
Auf einmal erschien es ihr doch ein wenig übereilt, dass sie spontan gemeinsam ins Flugzeug gestiegen waren. Im Flieger hatte es sich noch gut angefühlt. Aber hier war sie zu Hause und alles fühlte sich ganz anders an. Dies war die Realität. Früher oder später würde sie ihren ganzen Mut zusammennehmen und mit ihm reden müssen, über all das, was eine Beziehung eine so große Distanz mit sich brachte. Aber sie wollte ihn eben auch nicht vergraulen.
Keira schwieg, ganz in Gedanken versunken, und nippte an ihrem Wein. Sie nahm an dem Gespräch der beiden nicht mehr Teil, beobachtete nur noch, wie Bryn kicherte und Bemerkungen über Cristianos wunderbaren Akzent machte, während sie ihn anhimmelte. Erst als sie ihre Hand ausstreckte, um über seinen Arm zu streichen, war Keira wieder hellwach. Zeit, dieses Schauspiel zu beenden. Sie gähnte laut.
Bryn zuckte überrascht zusammen, als hätte sie vollkommen vergessen, dass Keira auch noch da war.
„Bist du müde?“, fragte sie. „Du musst nicht meinetwegen aufbleiben. Immerhin bleibt dir nur ein Tag, um dich wieder zu akklimatisieren, bevor du wieder zur Arbeit musst.“
Normalerweise irritierte es Keira, wenn sie von ihrer Schwester so bemuttert wurde, aber gerade kam es ihr sehr gelegen. Und es war die beste Möglichkeit, Bryn loszuwerden.
Sie stand auf. „Tut mir leid, der Flug hat mich total erschöpft. Morgen können wir ausgiebig quatschen. Ich habe außerdem ein Geschenk für dich.“
Bryn grinste. „Großartig. Ich kann es kaum erwarten.“
Sie stand ebenfalls auf und sie umarmten sich. Dann schaute Keira Cristiano an, der noch immer saß.
„Kommst du?“, fragte sie.
Er sah überrascht aus, als hätte er nicht damit gerechnet, dass Keira ihn mit ins Bett nehmen wollte.
„Äh, ja, sicher“, stammelte er.
„Du musst nicht“, beeilte sich Bryn zu erklären, „wenn du noch nicht müde bist. Wir können uns gern weiter unterhalten. Ich habe noch mehr Wein aus Neuseeland.“
Keira blickte Bryn finster an. Cristianos Blick huschte zwischen ihnen hin und her, als verstehe er nicht genau, wo er da reingeraten war. Schließlich stand er auf und schloss sich Keira an. Sie nickte zufrieden über ihren kleinen Sieg.
„Morgen“, sagte Cristiano zu Bryn. „Danke für den Wein.“
Keira fiel auf, dass er nicht ausgetrunken hatte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, ihn quasi mitzuschleifen, aber sie kannte ihre Schwester eben besser als er. Sie mit ihm allein zu lassen, barg ein nicht unerhebliches Risiko.
„Gute Nacht“, rief Keira Bryn zu und zerrte ihren Koffer ins Schlafzimmer.
Cristiano folgte ihr. Sobald sie beide im Schlafzimmer waren, schloss Keira die Tür hinter ihnen. Sie lehnte sich dagegen und atmete tief durch.
„Tut mir leid“, sagte sie und deutete durch die geschlossene Tür.
Cristiano wirkte amüsiert. „Verstehe ich nicht. Sie schien doch ganz nett.“
„Sie hat mit dir geflirtet.“ Keira schüttelte empört den Kopf.
Cristiano schien das nicht zu stören. „Es macht mir nichts aus.“
„Aber mir“, sagte Keira. „Sie ist meine Schwester. So etwas macht man nicht.“
Cristiano zuckte mit den Schultern. Er kam zu ihr und nahm sie in den Arm. „Du weißt doch, dass ich nur Augen für dich habe.“ Er hielt sie fest umschlungen.
„Ich mache mir auch keine Sorgen über dich“, antwortete Keira und entspannte sich ein wenig. „Sondern über all die anderen heißblütigen Frauen in der Welt.“
Ein Gedanke traf sie wie ein Keulenschlag. In Italien war Cristiano, auch wenn er sehr gut aussah, nur einer von vielen gewesen. Hier in New York war er eine exotische Kreatur, ein echter Italiener, ein Model, direkt dem Cover eines Modemagazins entsprungen. Ihre Heimatstadt barg eine Menge neuer Gefahren für ihre Beziehung, an die sie bisher gar nicht gedacht hatte.
Es gab dafür nur eine Lösung. Sie würde Cristiano von morgens bis abends beschäftigen, ihn ganztägig im Auge behalten müssen.
„Wir sollten morgen beizeiten aufstehen“, sagte sie und löste sich aus seiner Umarmung. Dann machte sie sich für die Nacht fertig. „Mir bleibt nur ein freier Tag bevor ich wieder arbeiten muss. Das wird eine anstrengende Sightseeing-Tour.“
Cristiano grinste. „Ich kann es kaum erwarten. Aber gehen jetzt nicht sofort schlafen, oder?“ Er blickte sie vielsagend an. „Ich war den ganzen Tag in einem engen Flugzeug eingepfercht. Ich habe eine Menge angestauter Energie.“
Keira grinste ebenfalls und griff nach dem Lichtschalter. „Was immer du wünschst“, murmelte sie, schaltete das Licht aus und tauchte das Zimmer in Dunkelheit.
KAPITEL DREI
Keira erwachte vom schrillen Klang ihres Weckers. 7 Uhr. Aber wegen des Jetlags und der Tatsache, dass sie und Cristiano nicht wirklich viel Zeit mit Schlafen im Bett verbracht hatten, fühlte es sich an, als sei es noch mitten in der Nacht. Nach einem Nickerchen tagsüber fühlte sie sich meist ähnlich neben der Spur.
Aber auch wenn sie körperlich etwas durchhing, war sie geistig doch hellwach und freute sich auf den Tag. Sie sprang aus dem Bett, voller Erwartung und mit reichlich Adrenalin. Sie sah auf Cristiano herab, der noch fest schlief.
„Aufwachen“, sagte sie, beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn.
Er öffnete die Augen. „Muss ich?“, fragte er gähnend. „Der lange Flug hat mich sehr erschöpft.“
„So so, der lange Flug war das also, ja?“ Keira zwinkerte ihm vielsagend zu.
Aber Cristiano war schon wieder eingeschlafen.
Sie entschied sich, ihn noch schlafen zu lassen, während sie sich für den Tag fertig machte.
Sie schlich ins Wohnzimmer, wo Bryn noch schnarchend auf dem Sofa lag. So leise wie möglich, um die schlafende Bestie nicht zu wecken, schlich Keira an ihrer Schwester vorbei und sprang schnell unter die Dusche, um die Anstrengungen der Reise und einen letzten Rest Italien abzuspülen.
Als sie zurück ins Schlafzimmer kam, schlief Cristiano noch immer tief und friedlich. Sie seufzte und beschloss, erst einmal ihre Schmutzwäsche in den Waschsalon an der Ecke zu bringen. Besser, sie verschwendete keine Zeit, wenn sie morgen wieder arbeiten musste.
Sie kippte ihren Koffer aus, packte die Sachen, die von letzter Nacht verstreut im Zimmer lagen, dazu, und eilte damit aus der Wohnung, die Treppe hinunter, auf die Straße.
Es war ein ziemlich kalter Morgen und sie fühlte sich beinahe nostalgisch. In den letzten beiden Monaten war sie so gut wie gar nicht in New York gewesen und es fühlte sich gut an, wieder daheim zu sein, all die vertrauten Geräusche, den Verkehr, die Gerüche, die Abgase zu erleben. Sie dachte mit Freude daran, dass bald Thanksgiving war, ihr liebster Feiertag. Dieses Jahr würde sie den mit Cristiano feiern können, was es zu etwas Besonderem machte. Vorausgesetzt, er blieb so lange.
Im Waschsalon war nichts los und Keira stopfte die Wäsche von mehreren Wochen in die Maschine, füllte Waschmittel ein und warf ein paar Münzen in den Schlitz. Sie hatte nicht viel Kleingeld dabei, weil sich keine Gelegenheit ergeben hatte, Geld zu wechseln, aber eine halbe Stunde war besser als nichts für die Wäsche.
Sobald die Maschine lief, kehrte Keira ins Apartment zurück. Sie wollte Cristiano wecken und ihn aus der Wohnung locken, weg von Bryns Klauen.
Aber zurück im Schlafzimmer sah sie, dass Cristiano immer noch fest schlief. Sie küsste ihn erneut und versuchte ihn zu wecken.
„Hey, schlafende Schönheit“, sagte sie fröhlich und laut. „Wir müssten langsam mal los.“
Cristiano stöhnte. „Können wir nicht einen faulen Tag im Bett verbringen? Wir sind wochenlang unterwegs gewesen. Wir haben uns einen entspannten Vormittag verdient, oder nicht?“
Keira schüttelte den Kopf, denn sie dachte an Bryn im anderen Zimmer. Sie mussten weg sein, bevor sie erwachte.
„Nein. New York erwartet uns!“
Cristiano gähnte und wandte sich von ihrer lauten Stimme ab. „Und es wird auch am Nachmittag noch da sein.“
„Aber morgens macht es mehr Spaß“, beharrte Keira und zog ihm die Decke weg. „Glaube mir, ich weiß Bescheid.“
Cristiano gab nach und stand frierend auf.
„Warum hast du es so eilig?“, stöhnte er.
„Weil es viel zu entdecken gibt.“ Sie zog schnell ein Paar Winterstiefel von Bryn an. Ihre eigenen Sachen waren irgendwo in einer Kiste verstaut, ihre Sachen aus Zachs Wohnung waren über mehrere Wohnungen verteilt, inklusive der ihrer Mutter, Shelbys Dachboden und Bryns Schrank. Selbst unter ihrem Schreibtisch bei Viatorum stand eine Kiste.
„Kann ich wenigstens vorher noch duschen?“, fragte Cristiano.
Keira kaute auf ihrer Unterlippe. Jede Minute, die sie hier vertrödelten, bedeutete, dass Bryn aufwachen und ihre Klauen in Cristiano schlagen könnte. Aber Keira konnte ihm wohl kaum die notwendigen menschlichen Bedürfnisse untersagen.
„Natürlich“, sagte sie übertrieben fröhlich. Sie ging an Bryns Schrank und holte ein flauschiges Handtuch heraus. „Hier“, sagte sie und reichte es ihm, zusammen mit Shampoo und Duschgel aus ihrem Koffer. „Die Dusche ist am Ende vom Flur.“
Er küsste sie und verließ das Zimmer. Keira ließ sich auf das Bett sinken. Sie war jetzt schon erschöpft. Das würde nicht leicht werden. Sie musste so schnell wie möglich eine eigene Wohnung finden. Möglichst gestern schon.
Aber dazu musste sie von Zach erst einmal die Kaution für ihre gemeinsame Wohnung zurückbekommen. Sie hatte nicht die geringste Lust, Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber es war in dieser Situation das geringere Übel. Sie schnappte sich ihr Handy und schickte ihm eine Nachricht.
Gibt es was Neues wegen der Kaution? K
Wider besseres Wissen fügte sie am Ende ein Kuss-X hinzu. Sich bei Zachary einzuschmeicheln passte ihr zwar nicht, aber wenn sie dadurch schneller an ihr Geld kam, sollte es ihr recht sein.
Sie lugte durch die Tür ins Wohnzimmer. Die Jalousien waren noch runter gelassen und das Zimmer lag im Dunkeln. Man hörte die Dusche am Ende des Flurs und Bryns Schnarchen. Zum Glück hatte Cristiano sie nicht aufgeweckt, als er hier durch gegangen war.
Keira wurde langsam ungeduldig. Cristiano ließ sich ganz schön viel Zeit. Sie sah auf die Uhr. Ihre Wäsche wäre gleich schon fertig. Sie wollte im Waschsalon sein, bevor der Waschgang zu Ende war und die Maschine automatisch aufging. Man musste es den Gelegenheitsdieben in der Gegend nicht noch extra leicht machen. Auch Sonntagmorgen um halb acht konnte man nicht vorsichtig genug sein.
Sie verließ erneut die Wohnung und eilte zum Waschsalon. Jetzt waren ein paar Leute da, Frauen mittleren Alters, die dem späteren Ansturm zuvorkommen wollten.
Keira sammelte die warme, feuchte Wäsche wieder ein. Sie hatte nicht genug Kleingeld für den Trockner, daher würde sie die Sachen in der Wohnung aufhängen.
Sie machte sich auf den Rückweg. Es fühlte sich gut an, normale Dinge des Alltags zu tun, wie ein ganz normaler Mensch. Nicht die Reisejournalistin in einem aufregenden fremden Land zu sein. Auch von so tollen Dingen konnte man offenbar zu viel bekommen.
Ihr Handy vibrierte in der Tasche, gerade als sie die Treppe zum Apartment hinaufging. Zach hatte geantwortet. Mit nicht unerheblicher Anspannung las sie seine Antwort.
Bon jour, Keira! Ich bin beruflich in Frankreich. Morgen fängt eine Konferenz an und dauert eine Woche. Können wir über das Geld reden, wenn ich wieder da bin?
Sie seufzte frustriert. Sie verstand nicht einmal, was es da noch zu reden geben sollte, und dann musste sie auch noch eine Woche darauf warten? Er musste es ihr doch einfach nur überweisen. Aber natürlich würde er es ihr nicht so leicht machen.
Den Blick noch auf das Handy gerichtet, betrat sie Bryns Apartment und wurde überrascht von dem Gelächter, dass sie hörte. Erstaunt blickte sie auf.
Alles war verändert. Die Jalousien waren hochgezogen, das Licht war an, die Kaffeemaschine blubberte. Bryn stand in der Küche und wirkte sehr wach für jemanden, der die Nacht durchzecht hatte. Cristiano lehnte mit dem Rücken an der Anrichte, von seinem nackten Oberkörper liefen noch Wassertropfen, um die Hüfte hatte er ein kleines Handtuch geschlungen, mehr nicht.
„Was geht hier vor?“, fragte Keira irritiert.
Bryn blickte sie an und runzelte angesichts von Keiras paranoidem Tonfall amüsiert die Stirn. „Ich mache Kaffee. Wo warst du denn?“
„Ich war im Waschsalon.“ Sie hielt das feuchte Bündel Wäsche hoch. „Ich war nur zwei Minuten weg.“
Zwei Minuten hatten offenbar ausgereicht, damit Bryn mehr als nur ein Auge auf Cristianos Adonis-Körper werfen konnte.
„Schatz“, sagte Keira betont deutlich an ihn gewandt. „Wir sollten uns anziehen. Wir müssen los.“
„Aber wir haben doch sicher noch Zeit für einen Kaffee, oder nicht? Während du die Wäsche zum Trocknen aufhängst?“
Keira ließ die Tasche einfach auf den Boden fallen und bemühte sich um einen lockeren Ton, während sie ihn an den Schultern packte und Richtung Schlafzimmer schob.
„Aber ich möchte dich ins beste Kaffee von New York ausführen“, sagte sie. „Frisch gemahlener Kaffee, um Längen besser als das Zeug aus Bryns Maschine.“
„Oh … okay …“ Cristiano leistete keinen Widerstand. „Aber … deine Sachen?“
Während sie Cristiano ins Schlafzimmer schob, warf Keira ihrer Schwester über die Schulter einen Blick zu. Sie war offenbar amüsiert von der Szene gerade. Keira blickte sie streng an, eine Warnung, die Finger von Cristiano zu lassen.