KAPITEL DREI
Emily stand auf der Veranda, wo sie nervös auf Daniels Rückkehr wartete. Sie wrang die Hände, während in ihrem Kopf ihre größten Ängste herumschwirrten. Daniel hatte versprochen, genau das nicht zu tun, nämlich auf seinem Motorrad davonzufahren, ohne ihr Bescheid zusagen. Wenn er dieses Versprechen brach, bestand dann die Chance, dass er sie und seine Tochter im Stich ließ? War sein Tag mit Chantelle so schwierig für ihn gewesen, dass er beschlossen hatte, sie Emilys Fürsorge zu überlassen? Über solch schreckliche Vorstellungen wollte sie gar nicht nachdenken, sie wollte ihm vertrauen, aber er hatte sie schon einmal auf diese Weise im Stich gelassen.
Emily hielt sich am Türrahmen fest, um nicht umzufallen, ihr Atem kam stoßweise. Als Daniel zurückgekommen war, hatte es sich so angefühlt, als wäre er ein Soldat, der aus dem Krieg zurückkehrte. Nun, während Emily mit immer schwerer werdendem Herzen auf ihn wartete, fühlte es sich so an, als würde sie erneut auf den gleichen Soldaten warten.
In diesem Moment vernahm sie das Geräusch eines Motorradmotors in der Ferne. Sie lauschte angestrengt und mit wachsender Hoffnung. Das Geräusch wurde immer lauter, bis sie schließlich davon überzeugt war, dass Daniel wirklich nach Hause zurückkam. Vor lauter Erleichterung schloss sie die Augen und stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte.
Das Motorrad bog ab und fuhr die Einfahrt entlang, wobei sie von seinem Scheinwerfer direkt angeleuchtet wurde, was sie zusammenzucken ließ. Dann kam es zum Stehen. Der Motor wurde abgeschalten und wieder herrschte Stille um sie herum.
Sofort rannte Emily die Stufen hinunter, während Daniel seinen Helm abnahm. „Du bist wach“, sagte er mit einem Grinsen. „Ich war mir nicht sicher, ob die Nacht für dich heute schon gelaufen wäre.“ Doch als er Emilys Gesichtsausdruck sah, verschwand sein Lächeln.
„Du Idiot“, schnauzte sie. „Wo warst du denn?“
Daniel zog die Augenbrauen zusammen. „Ich habe einfach mal Gas gegeben. Ich war nur ungefähr fünfzehn Minuten weg.“
„Das geht so nicht“, schrie Emily. „Du kannst nicht einfach so abhauen. Ich hatte keine Ahnung, wo du warst.“
„Es tut mir leid“, stammelte Daniel. „Du warst eingeschlafen. Ich dachte, ich könnte eine schnelle Runde drehen.“
Emily holte erneut tief Luft in dem Versuch, sich zu beruhigen. Dann spürte sie, wie Daniel seine Arme um ihre Schultern legte.
„Du kannst nicht einfach so verschwinden“, stieß Emily hervor. „Okay?“
„Okay“, meinte er, während er sein Gesicht in ihr Haar drückte. „Das verstehe ich. Es tut mir leid.“
Noch lange, lange Zeit bleiben sie so stehen und umarmten sich unter dem Mond und den Sternen.
„Ich werde dich nicht verlassen, Emily“, sagte Daniel schließlich. „Du musst mir vertrauen.“
„Das machst du mir nicht immer einfach“, entgegnete Emily, während sie sich aus seinen Armen löste.
„Ich weiß“, lenkte Daniel ein. „Aber ich gehe nirgendwohin. Immerhin bin ich bei dir eingezogen, nicht wahr?“
Emily nickte. Das war ein Beweis, dass er es ernst meinte, aber es gab ihr keine vollständige Sicherheit.
Daniel fuhr fort: „Und während meiner Fahrt dachte ich über das Kutscherhaus nach, darüber, wie wir es in ein eigenständiges Ferienhaus umgestalten könnten, wenn du das möchtest. Ich werde die Arbeiten selber ausführen, als Dankeschön für alles, was du für mich und Chantelle tust.“
In Emily breitete sich wieder Wärme aus und der Kummer, der sich dort angesammelt hatte, schwand schließlich dahin.
„Es wäre eine tolle Einnahmequelle für dich“, meinte Daniel. „Und später, wenn Chantelle ein Teenager ist, könnte sie darin wohnen und somit ein bisschen Abstand von ihren langweiligen Eltern bekommen.“
Seine Worte berührten etwas tief in Emily. Daniel war nie dazu in der Lage gewesen, ihre gemeinsame Zukunft weiter als ein paar Monate am Stück zu planen. Jetzt sprach er schon in Jahrzehnten. Er bezeichnete sie als „Mom“. Zum ersten Mal sah er sie wirklich als eine Einheit, als zwei Hälften eines Teams.
Doch als Daniel und Emily in dieser Nacht zusammen im Bett lagen und sich in den Armen hielten, flackerten Emilys Ängste wieder und wieder auf. Daniels kleine Nummer mit dem Motorrad hatten ihre lange gehegte Angst vor dem Verlassenwerden wiederaufleben lassen. Noch vor wenigen Wochen hatte sie ein Leben ohne Daniel geplant. Und nun schien er es plötzlich sehr ernst mit ihr zu meinen. Konnte er wirklich so nahtlos und schnell umschalten? Und war das so, weil er erkannte hatte, wie wichtig ihm ihre Beziehung war?
Oder fühlte er sich nur wegen Chantelle in diese Richtung gedrängt?
*
Am nächsten Morgen wachte Emily früh und fast schon schreckhaft auf. Als sie bemerkte, dass Daniel neben ihr im Bett lag, entspannte sie sich wieder und ließ sich schwer atmend zurück in die Kissen fallen. Sie sollte bei Daniels Anblick neben ihr keine solche Erleichterung verspüren, sondern Zufriedenheit.
Sie blickte auf Daniels schlafendes Gesicht und spürte, wie sich all ihr Kummer auflöste. Es fühlte sich so richtig an, ihn hier wieder bei sich zu haben, mit ihm zusammen zu sein. Sie hätte seine Worte, dass er zu ihr zurückkommen würde, nicht in Frage stellen sollen. Und sie hätte wegen seiner Fahrt gestern Nacht nicht so überreagieren sollen.
Da Daniel immer noch fest schlief, beschloss Emily, ihn in Ruhe zu lassen. Er musste von der langen Fahrt und all den Emotionen erschöpft sein und den verpassten Schlaf nachholen. Sie war sich sicher, dass sie es schaffen würde, Chantelle anzuziehen und ihr alleine etwas zu Essen zuzubereiten. Dann könnte sie dem Mädchen die Hühner zeigen und anschließend könnten sie zusammen die Hunde am Strand Gassi führen.
Voller Vorfreude duschte sich Emily schnell und zog sich an. Sobald sie für den Tag bereit war, verließ sie ihr Schlafzimmer und den noch immer schnarchenden Daniel und öffnete die Tür zum Zimmer nebenan, wo sie jedoch erschreckt feststellte, dass Chantelles Bett leer war.
Emily spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in ihr breitmachte. Wo konnte das kleine Mädchen wohl sein?
Voller Panik begann Emily, eine Millionen Szenarien in ihrem Kopf durchzuspielen: Chantelle hatte die Tür zur Dachterrasse gefunden und war vom Dach gefallen; sie hatte eine der verlassenen, heruntergekommenen Scheunen hinter dem Haus gefunden und war von herunterfallenden Gebäudeteilen erdrückt worden; sie war dem Weg hinunter zur Küste gefolgt und war vom Meer verschluckt worden. Doch noch bevor Emily die Chance hatte, nach Daniels zu rufen, hörte sie ein Lachen von draußen.
Emily rannte zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Dort im Hinterhof spielte Chantelle mit Mogsy und Rain. Sie lachte, während die Hunde an ihr hochsprangen und aufgeregt um sie herumrannten. Chantelle trug immer noch das große T-Shirt, das Emily ihr am Abend zuvor zum Schlafen angezogen hatte. Ihre Füße waren komplett nackt.
Schnell eilte Emily zur Tür hinaus und rannte nach unten. Sie wollte Chantelle keine Angst einjagen, aber ebenso wenig hielt sie es für eine gute Idee, das kleine Mädchen alleine draußen spielen zu lassen und noch dazu, wenn es kaum angezogen war. Obwohl sie Sunset Harbor für einen sicheren Ort hielt, so war sie selber doch in New York City aufgewachsen und würde wegen der schrecklichen Dinge, die sich Menschen gegenseitig antun konnten, für immer eine gewisse Nervosität in sich tragen.
Emily streckte den Kopf zur Hintertür hinaus und rief nach Chantelle. Das kleine Mädchen schaute mit einem breiten Grinsen auf. Ihre Füße waren von dem Rennen auf dem feuchten Gras schon ganz grün.
„Komm rein, Schätzchen“, rief Emily. „Es ist Zeit für Pfannkuchen.“
„Ich will aber spielen!“, antwortete Chantelle.
„Das kannst du auch gleich“, erwiderte Emily, die sich immer noch Mühe gab, ruhig und nett zu klingen. „Zuerst brauchst du ein Frühstück. Dann, wenn du angezogen bist, können wir mit den Hunden zum Strand gehen und dort spielen. Wie hört sich das an?“
Chantelle schaute Emily mit zusammengezogenen Augenbrauen an und ihr Gesicht wurde immer röter. Zum ersten Mal bekam Emily einen kleinen Teil von den Problemen zu sehen, denen Chantelle begegnet war. In ihrem finsteren Gesicht sah sie Wut und Bitterkeit. Sie wusste, dass diese Emotionen nicht direkt gegen sie, sondern gegen diese schreckliche Welt, die schrecklichen Menschen, die das Mädchen gekannt hatte, und die schrecklichen Ereignisse, die es unglücklicherweise hatte durchleben müssen, gerichtet waren. All das kam wahrscheinlich erst jetzt, da Emily und Daniel Chantelle ein sicheres Umfeld gegeben hatten, in dem sie all die verschiedenen Seiten ihrer Persönlichkeit ohne Angst vor den Folgen entdecken konnte, aus dem Mädchen heraus.
Plötzlich neigte Chantelle ihren Kopf zur Seite und begann, laut zu schreien. Emily holte tief Luft. Unwillkürlich musste sie an die Tausenden Mütter denken, die sie schon in ihrem Leben gesehen hatte, deren Kinder einen Wutanfall bekamen. Ihre Gedanken kehrten zu dem erschöpften Ausdruck, einer Mischung aus Verlegenheit und Wut, zurück, der stets auf den Gesichtern der Mütter gelegen hatte. Doch sie wusste, dass sie auf keinen Fall die Fassung verlieren durfte, wenn sie wollte, dass Chantelle ihr vertraute und glücklich und ausgeglichen aufwuchs.
Deshalb schlenderte sie in den Garten und nahm Chantelles Hand. „Komm mit, Schätzchen“, sagte sie, so als ob ihr Trommelfell durch die Schreie des Mädchens nicht kurz vor dem Platzen stünden.
In diesem Moment bemerkte Emily jemand die Einfahrt entlangkommen. Trevor. Natürlich. Wie typisch für ihn, sich genau diesen Augenblick auszusuchen, um sie heimzusuchen.
„Was gibt es, Trevor?“, zischte Emily, die keinerlei Skrupel hatte, vor ihm die Fassung zu verlieren.
„Was denken Sie denn, dass los sein könnte?“, murmelte Trevor. „Es ist noch nicht einmal sieben Uhr morgens und dieses Kind veranstaltet hier draußen ein Theater. Sie beschneidet mein Recht auf Ruhe.“
Sofort verstummte Chantelle und griff nach Emilys Hand, fast schon wie eine Art Entschuldigung dafür, dass sie sie in Schwierigkeiten gebracht hatte.
„Wir sind noch in der Eingewöhnungsphase“, erwiderte Emily mit einem Seufzen, überrascht, wie wenig ihr Trevors Sticheleien in letzter Zeit ausmachten. „Und Chantelle geht ab morgen zur Schule. Es wird also nicht wieder vorkommen.“
„Es bleibt immer noch das Wochenende“, gab Trevor spöttisch zurück.
„Wir werden dafür sorgen, dass sie Sie nicht mehr vor sieben Uhr weckt“, seufzte Emily. „Nicht wahr, Chantelle?“
Doch als sie zu dem kleinen Mädchen hinabblickte, sah sie, dass Chantelle Tränen über das Gesicht liefen und sie vor lauter Angst zitterte. Sie in solch einem bekümmerten Zustand zu sehen, löste in Emily einen plötzlichen mütterlichen Instinkt, ihr Kind zu beschützen, aus.
Deshalb wandte sie sich plötzlich voller Wut und mir geröteten Wangen an Trevor. „Wissen Sie was, Trevor? Chantelle kann hier draußen spielen, wann immer sie will. Mein Haus, mein Kind, meine Regeln.“
Im ersten Moment schien Trevor von ihrem Gefühlsausbruch überrascht zu sein. Doch er fasste sich schnell wieder und kehrte zu seinem gewöhnlichen, spöttischen Ausdruck zurück. „Aber es ist nicht Ihr Kind, nicht wahr?“
„Sie steht unter meiner Betreuung“, schrie Emily. „Ich bin ihr Vormund und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sie vor solch niederträchtigen Menschen wie Sie zu schützen.“
Zum ersten Mal seit sie ihn kannte, sah Trevor gedemütigt aus. Emily hatte keine Lust mehr, Trevor noch weiter zuzuhören, weshalb sie Chantelle an deren Hüfte packte und sie hochhob. Das kleine Mädchen zitterte so sehr, dass es Emily vor Kummer den Magen umdrehte. In ihrem kurzen Leben hatte Chantelle schon so viel durchgemacht und das letzte, was sie jetzt brauchte, war das Ungeheuer Trevor Mann zu erleben.
Emily trug Chantelle nach drinnen und schlug die Hintertür mit Schwung zu. Noch nie zuvor hatte sie solch eine starke Gefühlsexplosion, ein Verlangen, das unter ihrem Schutz stehende, kleine Mädchen zu lieben und zu beschützen, verspürt.
„Es tut mir leid!“, schluchzte Chantelle, sobald sie drinnen waren. Dabei drückte sie Emily so fest, dass diese Angst hatte, ihr Hals könnte brechen.
„Chantelle, es ist schon in Ordnung“, erwiderte Emily mit sanfter Stimme. „Trevor regt sich wegen allem auf. Und du wusstest ja schließlich nicht, dass du ihn aufwecken würdest. Frage uns in Zukunft aber besser um Erlaubnis, bevor du hinausgehst, ja? Ist das in Ordnung?“
Chantelle nickte überschwänglich, so als ob sie dadurch zeigen wollte, wie sehr sie alles wiedergutmachen wollte.
„Meine Mommy wollte immer, dass ich draußen spiele“, erklärte Chantelle schluchzend. „Sie mochte es nicht, wenn ich im Weg war.“
Emilys Herz zog sich zusammen. Das arme Mädchen muss so verwirrt gewesen sein, als Emily ihr befohlen hatte, rein zu kommen. Sie fühlte sich schlecht, solch gemischte Signale zu senden.
„Nun ja, Daniel und ich wollen immer mit dir spielen“, sagte Emily. „Okay?“
Chantelle nickte. Schließlich hörte sie auf zu weinen und Emily stellte das kleine Mädchen wieder auf ihre Füße.
Dann gingen sie zusammen in die Küche, die Daniel gerade betrat. „Was ist los?“, wollte er wissen. „Ich habe jemanden weinen gehört. Hast du dir wehgetan, Chantelle?“
Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf.
„Ich sagte Chantelle gerade, dass du oder ich mit ihr spielen wollen, wenn sie hinausgeht, weshalb sie einen von uns fragen soll, um sie zu begleiten“, erklärte Emily, während sie im mit ihrem Blick zu verstehen gab, nicht weiter nachzubohren.
Er schien zu verstehen, was sie ihm sagen wollte, und nickte. „Nun ja, ich bin froh, dass alle wieder glücklich sind“, sagte er. „Soll ich uns Frühstück machen?“
Chantelle nickte begeistert und setzte sich zusammen mit Emily an den Tisch, um auf ihr Essen zu warten.
„Also“, meinte Daniel, als er sich kurze Zeit später mit einem Stapel Pfannkuchen zu ihnen setzte. „Was sollen wir heute machen, die Schule fängt ja erst morgen an?“
Emily war ratlos und an dem Ausdruck auf Daniels Gesicht konnte sie erkennen, dass es ihm genauso ging. Keiner von beiden hatte je zuvor auf ein Kind aufgepasst und sie beide spürten den Druck, dafür zu sorgen, dass Chantelle so viel Spaß wie möglich hatte, um ihren schrecklichen Start ins Leben wiedergutzumachen.
„Ich glaube, Chantelle würde gerne mit den Hunden irgendwohin gehen“, sagte Emily mit Blick auf das kleine Mädchen, um zu sehen, ob dieses damit einverstanden war.
Chantelle nickte.
„Ich habe eine Idee“, meinte Daniel. „Sind Jason und Vanessa gestern nicht mit Baby Katy zum Apfelpflücken zur Fall Farm gegangen? Was haltet ihr davon?“
„Ich war noch nie auf einer Farm!“, keuchte Chantelle. „Gibt es dort Tiere? Ich liebe Tiere! Am liebsten mag ich Schweine. Gibt es dort Schweine?“
Emilys Augen weiteten sich. Sie hatte Chantelle noch nie so viele Worte auf einmal sprechen gehört. Die Vorstellung, Zeit mit den Tieren zu verbringen, lockte sie aus ihrem Schneckenhaus.
„Dort gibt es einen Streichelzoo“, erwiderte Emily. „Mit Hasen und Meerschweinchen.“
„Hasen!“, rief Chantelle. „Hasen mag ich sogar noch viel lieber!“