Daniel und Emily schlichen leise nach unten, denn sie wollten Chantelle nicht durch die quietschenden Dielen wecken.
„Ich würde unglaublich gerne mit dem Boot in den Sonnenuntergang fahren“, sagte Daniel. „Was meinst du dazu? Wie wäre es mit einem Date?“
Emily runzelte die Stirn. „Wir können Chantelle nicht einfach alleine lassen.“
Daniel begann zu lachen. „Dann ist es ja nur gut, dass Serena auf dem Weg hierher ist.“
Emilys Stirnrunzeln vertiefte sich. „Wie bitte?“
Daniel grinste nur. „Nun ja, während du nicht zuhause warst, habe ich mir die Freiheit genommen, einen Babysitter zu organisieren. Sie ist um sieben Uhr hier.“
Emilys Stirnrunzeln verwandelte sich in ein Grinsen. „Wirklich?“ Sie platzte fast vor Aufregung. Seit ihrem letzten richtigen Date mit Daniel war schon so viel Zeit vergangen und ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie sich eigentlich danach gesehnt hatte. Sie warf ihm die Arme um den Hals und drückte einen dicken Kuss auf seine Lippen.
„Ich sollte mich besser fertigmachen“, verkündete sie strahlend, während sie die Treppe hinaufeilte, um sich umzuziehen.
Serena kam um Punkt sieben Uhr in einer Wolke aus süß duftendem Parfum und künstlerischem Flair an.
„Jemand schaut zum Anbeißen aus“, sagte sie, als sie Emilys Outfit erblickte.
Emily wurde rot. Sie hatte noch nie sonderlich gut mit Komplimenten umgehen können. „Danke, dass du das hier machst“, meinte Emily. „Wir wissen es wirklich sehr zu schätzen, dass wir ausgehen können.“
„Kein Problem“, erwiderte Serena. „Ich freue mich schon darauf, mich zu entspannen und einen schnulzigen Roman zu lesen.“
Emily und Daniel gingen zur Tür, doch noch bevor sie hinaustreten konnten, stießen sie auf der Türschwelle mit jemandem zusammen. Es war Cynthias Freund Owen, der junge, schüchterne Klavierspieler, der schon einmal in der Pension gewesen war, um den antiken Flügel ihres Vaters zu stimmen, und Emily hatte ihm angeboten, vorbeikommen und spielen zu dürfen, wann immer er wollte.
„Oh, äh, tut mir leid. Wenn ihr gerade ausgeht, kann ich ein anderes Mal wiederkommen“, sagte Owen stotternd und mit unruhigen Händen, mit denen er seine Noten festhielt.
„Auf gar keinen Fall“, entgegnete Emily. „Du kannst reinkommen und spielen. Serena ist hier, du kannst also so lange spielen, wie du willst.“
Owen lächelte schüchtern und bedankte sich bei Emily, bevor er ins Wohnzimmer trat.
Als Emily und Daniel die Verandastufen hinabgingen, hörten sie Owens wunderschöne und gleichzeitig traurige Klaviermusik, die sie hinausbegleitete.
*
Das Wasser schlug gegen den Hafen, während Daniel Emily ins Boot half. Der Himmel war trotz der sich schnell nähernden Abenddämmerung immer noch blau.
„Wo geht’s denn hin?“, wollte Emily wissen, sobald sie sicher saß.
„Ich wollte eine weitere Insel erkunden“, antwortete Daniel.
Das erinnerte Emily an das letzte Mal, als sie dies vorgehabt und den gleichen Leuchtturm entdeckt hatten, der auf den Gemälden abgebildet war, die ihr Vater gesammelt hatte. Sie war sich sicher gewesen, dass sich in den Gemälden eine Art Hinweis befand, was es mit dem Verschwinden ihres Vaters auf sich haben könnte, doch wie die meisten anderen Spuren, denen sie gefolgt war, hatte auch diese in eine Sackgasse geführt. Sie hatte lediglich den Namen der bereits verstorbenen Künstlerin herausgefunden.
Daniel startete den Motor und das Boot löste sich mit einem Ruck von der Anlegestelle. An diesem Abend war das Wasser ruhig und die Fahrt ausgesprochen sanft. Das Boot durchschnitt das Wasser ohne großen Widerstand. Emily hielt sich gut fest, es fühlte sich aufregend an, den Wind durch die Haare streifen zu spüren. Gleichzeitig war sie froh, kein Makeup aufgetragen zu haben.
Als sie das Ufer der Insel erreichten, die Daniel erkunden wollte, färbte sich der Himmel bereits rosa. Daniel sprang vom Boot und half Emily beim Herausklettern, dann spazierten die beiden Hand in Hand den Strand entlang. In der Ferne glitzerten die Lichter Sunset Harbors.
„Es ist so wunderschön“, sagte Emily verträumt. Sie hatte sich in den Ort mit ihrer Pension und dem kleinen Mädchen, das tief und fest darin schlief, verliebt.
„Glaubst du, Serena kommt zurecht?“, fragte Daniel.
„Solange Chantelle durchschläft, müssen wir uns keine Gedanken machen“, erwiderte Emily.
Daniel zögerte einen Augenblick. „Ich wollte dir danken“, sagte er dann mit zarter Stimme.
„Wofür denn?“, wollte Emily wissen.
„Dafür, dass du so wunderbar mit Chantelle umgehst. Und auch für alles andere. Ich habe dir einiges aufgelastet, das weiß ich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir an deiner Stelle so schnell verzeihen würde.“
Emily schluckte hart. Die Erinnerung an jene harten Wochen ohne Daniel schmerzte sie immer noch sehr, doch dass er nun anerkannte, was er ihr da angetan hatte, war aufbauend.
„Ich glaube nicht, dass ich wirklich eine Wahl hatte“, entgegnete Emily. Sie konnte das Zittern in ihrer Stimme hören. „Sobald ich dich mit ihr sah…das war alles, was ich jemals wollte, Daniel. Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut.“
Sie blieben stehen und Daniel drehte sie zu sich um, sodass sie sich ansahen. Dann wischte er mit seinem Daumen eine Träne von ihrer Wange und nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände.
„Ich liebe dich auch, Emily“, sagte er.
Dann drückte er seine Lippen auf ihre. Emily schmolz dahin, endlich fühlte sie wieder diese rohe Leidenschaft, die nur Daniel in ihr entzünden konnte. Sie schlang ihre Arme um ihn herum und strich mit ihren Händen über seinen ganzen Körper, wobei sie die gespannten Muskeln unter seinem Hemd spüren konnte. Endlich diese drei Worte, nach denen sie sich so gesehnt hatte, aus Daniels Mund zu hören, feuerte Emily Körper auf eine Weise an, wie es seit Jahren nicht mehr der Fall gewesen war. In ihrer Beziehung mit Ben war die Leidenschaft schon von Jahren verschwunden und trotz der wunderbaren Nächte, die sie mit Daniel verbracht hatte, verspürte sie nun zum ersten Mal solch ein Verlangen, solch ein Verzehren.
Als sie sich von ihm löste, brannten seine Augen vor Verlangen. Auf diese Weise hatte sie ihn noch nie zuvor geküsst.
„Ich will dich, Emily“, sagte Daniel atemlos. „Für jetzt und für immer.“
Emily streckte ihre Hand aus und zog Daniel an den Schlaufen seines Gürtels wieder zu sich heran. Sie wollte ihn neben sich, nahe bei sich haben. Sie wollte jeden Zentimeter von ihm spüren. Auf dieser einsamen Insel mitten im Sonnenuntergang konnte Emily an nichts denken, das sie mehr wollte als Daniel. Nur Daniel, komplett.
*
Die Sterne glitzerten über ihnen. Die Wellen des Meeres brachen sich sanft an der Küste. Emily lag in Daniels Armen, ihr Kopf ruhte auf seiner warmen, nackten Brust. Sie konnte seinen Herzschlag hören, der von ihrem Liebespiel noch immer kräftig schlug. Unter ihren Fingerspitzen fühlte sich seine Haut heiß an.
Emily stützte sich auf einen Ellbogen. „Wir sind schon sehr lange weg“, sagte sie. „Wir sollten wahrscheinlich besser zurückgehen.“
Daniel holte tief Luft, so als ob er diesen Ort nur ungern verlassen würde. Emily wusste genau, wie er sich fühlte. Sie wünschte sich ebenfalls, dass dieser magische Moment nie vorüberging. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie zuhause, in der Pension, noch viele weitere magische Momente erleben konnten. Nun, da sie eine Familie waren, würden Millionen Momente voller Spaß und Glück auf sie warten.
Emily legte sich zurück in den Sand und beobachtete, wie Daniel sich wieder anzog. Dabei wurde sie von einer Welle des Glücks überrollt. Die Sterne standen nun endlich gut für sie.
Emily zog sich ebenfalls an und strich sich die Haare glatt, in der Hoffnung, ihr zerzaustes Aussehen auf die Bootsfahrt zu der Insel zu schieben, anstatt auf das, was sie und Daniel gerade getan hatten.
Daniel stieg in das Boot und half Emily, neben ihm hineinzuklettern.
„Wenn Chantelle in der Schule ist, sollten wir in diesen einen Antiquitätenladen gehen. Ich war zwar noch nie dort, aber ich habe gehört, dass es dort ausgezeichneten Schmuck gibt, vor allem wunderbare Ringe.“
Emilys Herz begann, schneller zu schlagen. Deutete Daniel etwa gerade einen Antrag an? Auf der Insel hatte er ihr gesagt, dass er für immer mit ihr zusammen sein wollte, und jetzt sprach er von Ringen. Emily hatte noch gar nicht an eine Heirat mit Daniel gedacht. In ihrer Beziehung hatte es bereits so viele Hochs und Tiefs gegeben, sodass sie solche Gedanken stets verdrängt hatte.
Doch nun, während sie in dem Boot saß und das Meer in Richtung der Stadt, die sie so sehr liebte, überquerte, erkannte sie, wie sehr sie die Aussicht, mit Daniel sesshaft zu werden, begeisterte.
Zum ersten Mal schlug der Gedanke, dass Daniel ihr einen Antrag machen könnte, in ihrem Kopf Wurzeln.
KAPITEL FÜNF
„Bist du bereit für deinen ersten Schultag?“, wollte Emily von Chantelle wissen, während sie sich über den Esstisch beugte und die leeren, mit Krümeln übersäten Teller einsammelte.
Chantelle sah auf und nickte, doch auf ihrem Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck. Emily hatte auf so einem jungen Gesicht noch nie solch eine erwachsene Miene gesehen. Natürlich würde es Chantelle etwas verunsichern, auf eine neue Schule zu gehen, das war Emily klar. Aber dass das Mädchen wegen der ganzen Sache so ernst wirkte, versetzte ihrem Herzen einen Stich. Sie hoffte, dass sie Chantelle dabei helfen konnte, sich wohler zu fühlen, sich zu entspannen und ihr Leben wie ein normales sechs Jahre altes Mädchen zu genießen.
In diesem Moment kam Daniel in die Küche. Heute trug er ein kariertes Hemd, das in seiner Jeans steckte. Außerdem hatte er sein Haar zurückgekämmt und den Bart gestutzt. Emilys Herz schwoll bei seinem Anblick vor Stolz an, denn sie wusste, welche Anstrengungen er unternommen hatte, nur, um am Schultor einen guten Eindruck zu machen.
Daniel ging zu Emily hinüber und küsste sie.
„Da schaut aber jemand elegant aus“, meinte Emily mit einem Grinsen.
Daniel warf einen Blick auf Chantelle. „Bist du bereit für deinen großen Tag?“, fragte er.
Emily bemerkte, dass Chantelle heute in Daniels Gegenwart etwas entspannter schien. Vielleicht lernte sie endlich, ihm zu vertrauen. Nachdem sie aus ihrem Leben in Tennessee gerissen worden war, begann sie nun, sich einzuleben und ihn als einen Menschen zu sehen, auf den sie sich verlassen konnte, der sie nicht im Stich lassen würde.
„Kommst du mit, Daddy?“, fragte sie.
Emily bemerkte den erleichterten Ausdruck auf Daniels Gesicht.
„Natürlich“, antwortete er.
„Keiner von uns würde das verpassen wollen“, fügte Emily hinzu.
Chantelle lächelte verschmitzt, sie sah zu gleichen Teilen stolz und schüchtern aus.
Zusammen verließen sie das Haus und stiegen in Daniels Pickup Truck. Während sie die mit Bäumen gesäumten Straßen entlangfuhren, sah Chantelle zum Fenster hinaus, wobei sie einen angespannten und nervösen Eindruck machte. Und als sie schließlich vor dem putzigen Gebäude aus roten Ziegeln anhielten, war sie ganz blass und in sich gekehrt.
„Es wird dir gefallen“, sagte Emily, während sie ihr die Hand tätschelte. „Ich weiß, dass es am Anfang etwas einschüchternd ist, aber sobald du einmal drinnen bist und alle Kinder und Lehrer getroffen hast, wird alles in Ordnung sein.“
Chantelle sah mit ihren großen, blauen Augen an und es war klar, dass sie die Situation sie überforderte.
Emily stieg aus und ging zur Hintertür des Pickups. Dann nahm sie Chantelles Hand, drückte sie aufmunternd und half ihr beim Aussteigen. Währenddessen liefen andere Kinder mit deren Eltern auf dem Gelände herum. Eine Gruppe Kinder spielte in einem Berg herabgefallener Blätter und ein paar Jungen jagten sich über den Rasen. Um ehrlich zu sein, fühlte sich Emily angesichts dessen selbst ein bisschen überfordert. Sie hatte nie sonderlich viel Zeit mit Kindern verbracht und vor allem nicht mit großen Gruppen von ihnen. Der Lärm war unbeschreiblich, sogar noch schlimmer als an dem Wochenende, an dem Gus und seine Gruppe an aufgedrehten Siebzigjährigen in der Pension gewohnt hatten.
Emily sah zu Daniel hinüber. Er schien ebenfalls etwas verloren zu sein. Unwillkürlich musste sie lachen, als sie an das Bild dachte, dass sie zu dritt abgaben – alle hatten sie große Augen und machten einen verwirrten Eindruck.
In diesem Augenblick kam eine junge Frau mit einem einladenden Lächeln auf sie zu. Sie trug eine Hose mit weitem Saum, dazu eine fliederfarbene Strickjacke und flache Schuhe – ein Outfit, an dem man Emilys Meinung nach sofort erkannte, dass sie Lehrerin war. Sie stupste Daniel an und beim Anblick seiner eingeschüchterten Miene, die Chantelles Gesichtsausdruck fast perfekt widerspiegelte, entschlüpfte ihr ein lautes Kichern. Vor einem Lehrer zu stehen, war anscheinend für alle Moreys ein erschreckendes Erlebnis.
„Hi, Ich bin Miss Glass“, stellte sich die junge Frau vor, während sie ihnen ihre Hand entgegenstreckte.
Emily übernahm die Führung und schüttelte die Hand der Lehrerin. Dabei fiel ihr auf, wie weich die Hände der anderen Frau doch waren und welch perfekt manikürten Nägel sie hatte.
„Ist das hier Chantelle?“, fragte Miss Glass, während sie ihre Aufmerksamkeit zusammen mit ihrem ultrasüßen Lächeln auf das kleine Mädchen richtete.