„Sie werden heiraten! Sie werden heiraten!“
An der Türschwelle warteten Emily und Daniel ein paar Sekunden lang, bis Chantelles Worte bei allen durchgedrungen waren.
Dann beobachteten sie die überraschten Ausdrücke auf den Gesichtern ihrer Freunde und Nachbarn – von Cynthia, die übertrieben laut nach Luft schnappte, bis hin zu Vanessa, die sich eine Hand auf den Mund schlug.
Schließlich mussten alle breit grinsen. Yvonne und Keiran, Suzanna und Wesley, all die Menschen, die sie mittlerweile so gernhatte und ihre Freunde nannte, begannen zu klatschen.
„Herzlichen Glückwunsch!“, rief Yvonne und stürmte als erste auf Emily zu, um sie zu umarmen. Keiran folgte ihr auf den Fuß. Er schüttelte Daniels Hand und zog Emily in seine Arme, nachdem Yvonne sie gehen gelassen hatte. Alle überschütteten Daniel und Emily mit Umarmungen und Küssen, Glückwünschen und Freudensbekundungen. Emily konnte die Liebe der Gemeinschaft spüren, die sie umgab. Noch nie zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, so unterstützt zu werden. Warum um alles auf der Welt hatte sie sich Sorgen gemacht?
„Wir müssen auf das glückliche Paar anstoßen“, meinte Derek Hansen in seiner starken Bürgermeisterstimme.
Die Menschen begannen, ihre Gläser mit Champagner zu füllen. Emily bekam auch eines in die Hand gedrückt. Neben ihr füllte Serena ein Champagnerglas mit Cola, sodass Chantelle mit ihnen anstoßen konnte. Emilys Gedanken schwirrten wild umher, so überwältigt war sie vor Freude. Das alles fühlte sich wie ein Traum an.
Dann hoben alle Anwesenden ihre Gläser, wobei das Licht des Kronleuchters gespiegelt und tausend glitzernde Punkte an die Wände, auf den Boden und die Decke gezaubert wurden.
„Auf Emily und Daniel“, rief Bürgermeister Hansen. Anschließend fügte er an Daniel gewandt hinzu: „Und darauf, seine Seelenverwandte zu finden!“. In Emilys Richtung sagte er: „Und darauf, seinem Traum zu folgen.“
Alle jubelten und stießen miteinander an, während sich Emily die Tränen der Freude aus den Augen wischte.
So ein schönes Thanksgiving hatte sie noch nie erlebt.
*
Die Feier hielt bis spät in die Nacht an. Sie war erfüllt von Freundschaft und Freude und Emily war glücklicher als sie es je für möglich gehalten hatte. Zudem war sie überaus dankbar. Doch irgendwann kam die Feier zu ihrem Ende, die Gäste machten sich allmählich auf den Weg hinaus in die frische Nacht und schließlich legte sich Stille über die Pension.
Sogar als sie und Daniel ins Bett gingen, brummte Emilys Kopf immer noch vor lauter Energie. Ihre Gedanken wollten nicht stillstehen, weshalb sie sich immer wieder herumwälzte und nicht zur Ruhe kommen konnte.
„Kannst du nicht schlafen?“, fragte Daniel, dessen Gesicht zur Hälfte in dem flauschigen Kissen versunken war, auf dem er lag. Dann grinste er. „Ich auch nicht.“
Emily drehte sich zu ihm um und fuhr mit ihren Fingern über seine nackte, muskulöse Brust. „Ich muss die ganze Zeit an die Zukunft denken“, sagte sie. „Ich bin so aufgeregt.“
Daniel streckte seine Hand aus und strich damit über Emilys Wange. „Ich weiß, wie ich deine Gedanken ablenken könne“, meinte er. Dann drückte er seine Lippen auf ihre.
Emily ließ sich in den Kuss fallen, wobei sie spürte, wie alle Gedanken aus ihrem Geist wichen und sie sich völlig von ihren Gefühlen tragen ließ. Sie zog Daniel dichter an sich heran und spürte sein Herz neben ihrem eigenen schlagen. Daniel erweckte immer solch eine feurige Leidenschaft in ihr, doch was sie jetzt gerade empfand, hatte sie noch nie zuvor verspürt.
Plötzlich flog die Schlafzimmertür auf. Grelles Licht drang wie die Scheinwerfer eines Autos vom Flur her in das Zimmer. Sofort sprangen Emily und Daniel auseinander.
Auf der Türschwelle stand Chantelle.
„Ich kann nicht schlafen!“, verkündete sie, während sie hereinstürmte.
Emily lachte. „Dann geht es uns wohl allen gleich“, meinte sie.
Chantelle sprang zu Emily und Daniel ins Bett, wo sie sich in die Mitte kuschelte. Das brachte Emily unwillkürlich zum Lachen. Chantelle war das einzige auf der Welt, das ihr Liebesspiel mit Daniel unterbrechen konnte, ohne dass es sie frustrierte.
„Wenn du und Daddy verheiratet seid, bedeutet das dann, dass du für immer meine Mommy sein wirst?“, fragte Chantelle.
Emily nickte. Doch dann musste sie darüber nachdenken. Sie und Daniel hatten mit ihrem Freund Richard, einem Anwalt für Familienrecht, darüber gesprochen, ob sie Chantelle offiziell adoptieren konnten. Würde eine Heirat ihre Seite in dem Prozess gegen Chantelles leibliche Mutter stärken? Sheila war eine Drogenabhängige ohne eigene Wohnung, zwei Dinge, die bereits für Daniel und Emily sprachen. Würde ihre Heirat nun auch ihren Teil dazu beitragen?
Sie sah Daniel über Chantelles Kopf hinweg an, doch beide waren schon eingeschlafen. Der Anblick ließ Emilys Herz vor Freude beben. In diesem Moment beschloss sie, ihre Anstrengungen bei dem Rechtsstreit zu verdoppeln. Je früher, desto besser. Sie wollte um mehr als alles andere in der Welt eine richtige Familie sein. Und mit dem glitzernden Ring am Finger hatte sie das Gefühl, dass dieser Traum endlich in Reichweite gerückt war.
KAPITEL ZWEI
Am Morgen nach Thanksgiving wachte Emily voller Freude auf. Noch nie zuvor war sie so glücklich gewesen. Der wunderschöne Schein der Wintersonne drang durch die Spitzenvorhänge, was ihre Freude sogar noch vergrößerte. Nach einem kurzen Moment des Zweifels schloss Emily, dass sie nicht träumte, Daniel hatte ihr wirklich einen Antrag gemacht und bald würden sie heiraten.
Als ihr plötzlich klar wurde, was sie noch alles zu tun hatte, sprang sie aus dem Bett. Sie musste Anrufe tätigen! Wie hatte sie vergessen können, Jayne und Amy die Neuigkeiten zu verkünden? Und was war mit ihrer Mutter? Sie war so in dem Augenblick, in ihrer Freude und dem Feiern mit ihren Freunden gefangen gewesen, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte.
Schnell duschte sie sich und zog sich an, dann rannte sie mit ihrem Handy in der Hand hinaus auf die Veranda. Während sie durch ihre Kontakte scrollte, tropfte Wasser aus ihrem noch immer nassen Haar auf ihr Oberteil. Bei der Nummer ihrer Mutter angekommen, zögerte sie und ihre Finger begannen zu zittern. Sie hatte einfach nicht den Mut, auf den Hörer zu drücken. Sie wusste, dass ihre Mutter nicht so reagieren würde, wie sie es sich erhoffte; stattdessen würde sie Charlotte gegenüber argwöhnisch sein und annehmen, das Daniel Emily nur heiratete, um eine Mutter für sein Kind zu bekommen. Deshalb beschloss Emily, die Lage bei Jayne zu sondieren. Ihre beste Freundin sagte ihr immer geradehinaus, was sie dachte, doch in ihrer Stimme schwang nie diese Enttäuschung mit wie es normalerweise bei Emilys Mutter der Fall war.
Sie wählte Jaynes Nummer und lauschte dem Klingeln. Dann nahm jemand ab.
„Em!“, rief Jayne. „Ich habe dich auf laut gestellt.“
Emily hielt inne. „Warum das denn?“
„Wir sind gerade im Konferenzzimmer. Ames und ich.“
„Hi Emily!“, rief Amy fröhlich. “Geht es um das Jobangebot?”
Emily brauchte einen Moment, um zu verstehen, worüber sie redeten. Das Kerzenunternehmen, das Amy auf der Universität in ihrem Studentenzimmer gegründet hatte, florierte richtig. Sie hatte Jayne angestellt und setzte nun alles daran, Emily mit ins Boot zu holen. Keine von beiden konnte wirklich verstehen, warum Emily es vorzog, lieber in einer Kleinstadt als in New York zu wohnen, und warum sie sich dafür entschieden hatte, eine Pension zu führen, anstatt mit ihren zwei besten Freundinnen in einem protzigen Büro zusammen zu arbeiten. Und was sich ihrem Verständnis vollkommen entzog, war die Tatsache, dass sich Emily um das Kind eines anderen Mannes kümmerte (der noch dazu einen Bart trug!), ganz ohne die Absicherung, eines Tages eigene Kinder mit ihm zu bekommen.
„Nicht wirklich“, sagte Emily. „Es geht um…“ Sie verstummte, denn ihr Mut schwand dahin. Dann riss sie sich zusammen. Sie hatte nichts, wofür sie sich schämen musste. Auch wenn ihr Leben eine andere Richtung eingeschlagen hatte als das ihrer zwei besten Freundinnen, war daran überhaupt nichts falsch. Ihre Entscheidungen waren ihre Sache und sollten respektiert werden. „Daniel und ich werden heiraten.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte zunächst einen Moment lang Schweigen, dann ertönte schrilles Kreischen. Emily zuckte zusammen. Sie konnte sich ihre Freundinnen geradezu mit ihren perfekt manikürten Nägeln, ihrer durch die Feuchtigkeitscreme nach Rose und Camille riechenden Haut und ihrem glänzenden Haar vorstellen, wie sie von ihren Stühlen aufsprangen.
Durch den Lärm konnte Emily ausmachen, dass Jayne „Oh mein Gott!“ und Amy „Alles Gute!“, schrien.
Sie seufzte erleichtert auf. Ihre Freundinnen hielten zu ihr. Das war eine Sorge weniger.
Schließlich ebbte das unverständliche Kreischen ab.
„Du bist aber nicht schwanger, oder?“, fragte Jayne, die wie immer kein Taktgefühl besaß.
„Nein!“, rief Emily mit einem Lachen.
„Jayne, halt den Mund“, schimpfte Amy. „Erzähl uns alles. Wie hat er um deine Hand angehalten? Wie sieht der Ring aus?“
Emily erzählte ihnen vom Strand, den Liebeserklärungen im Schnee und dem wunderbaren, perlenbesetzten Ring. Ihre Freundinnen seufzten an genau den richtigen Stellen. Emily spürte, dass sich die beiden für sie freuten.
„Wirst du seinen Namen annehmen?“, bohrte Jayne weiter nach. „Oder einen Doppelnamen führen? Mitchell-Morey ist ganz schon umständlich. Wie wäre es mit Morey-Mitchell? Emily Jane Morey-Mitchell. Hmm. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Vielleicht solltest du einfach deinen eigenen Namen behalten, findest du nicht? Das wäre immerhin eine aussagekräftige, mutige und feministische Entscheidung.“
Emilys Gedanken schwirrten, während Jayne in ihrer üblichen aufgedrehten Weise vor sich hin brabbelte und ihr kaum eine Pause ließ, um eine ihrer Fragen zu beantworten.
„Wir sind aber schon deine Brautjungfern, oder?“, endete Jayne auf ihre typische, direkte Art.
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, gab Emily zu. Jayne und Amy mochten zwar in der Tat ihre ältesten Freundinnen sein, doch seit ihrem Umzug nach Sunset Harbor hatte sie auch hier neue Freunde gefunden. Dazu gehörten Serena, Yvonne, Suzanna, Karen und Cynthia. Und was war mit Chantelle? Es war Emily wichtig, dass sie eine tragende Rolle bei der ganzen Sache spielte.
„Wo findet das ganze denn statt?“, wollte Jayne wissen, die die Tatsache, dass Emily sie beide nicht als Brautjungfern in Betracht gezogen hatte, ein wenig verärgerte.
„Das weiß ich auch noch nicht“, sagte Emily.
Plötzlich wurde ihr klar, wie viel Arbeit noch vor ihnen lag. Es gab noch so viel zu organisieren. So viel zu bezahlen. Auf einmal war sie von der ganzen Sache überwältigt.
„Meinst du, es wird eine große Hochzeit oder ehr eine kleine?“, warf Amy ein. Ihre Frage war nicht so emotional beladen wie die von Jayne, doch trotzdem lastete ihr eine gewisse negative Stimmung an. Emily fragte sich, ob Amy immer noch wegen ihrer geplatzten Verlobung mit Fraser sauer war. Vielleicht nahm sie es Emily übel, einen Ring und einen Verlobten zu haben, während sie selbst beides verloren hatte.
„Wir haben noch keine Details besprochen“, erklärte Emily. „Es ist alles noch so neu.“
„Aber du träumst schon seit Jahren davon“, entgegnete Amy.
Emily runzelte die Stirn. Es stimmte, sie hatte schon lange davon geträumt, zu heiraten. Aber sie hatte sich nie vorgestellt, wie ihr Leben verlaufen würde. Die Liebe, die sie mit Daniel teilte, war einzigartig und unerwartet und ihre Hochzeit würde genauso sein. Sie musste alles noch einmal überdenken, damit es für sie beide perfekt war und zu ihrer besonderen Beziehung und ihrem Leben passte.
„Kannst du uns zumindest ein Datum nennen?“, wollte Jayne wissen. „Unser Kalender ist randvoll.“
Emily stammelte. „Ich weiß es noch nicht.“
„Der Monat tut’s für jetzt auch“. Jayne gab nicht auf.
„Den kann ich euch auch noch nicht sagen.“
Jayne seufzte frustriert auf. „Wie wäre es mit dem Jahr?“
So langsam wurde Emily ungehalten. „Ich weiß es einfach nicht!“, schrie sie. „Ich habe mir um all das noch keine Gedanken gemacht!“
Nun herrschte Stille. Emily konnte sich die Szene bildhaft vorstellen: Ihre Freundinnen, die in ledernen Bürostühlen an einem riesigen Glastisch saßen, wechselten einen Blick, während Emilys Stimme aus dem Telefon zwischen ihnen dröhnte und sich in dem ausladenden Konferenzzimmer multiplizierte. Sie krümmte sich innerlich vor Verlegenheit.
Dann brach Jayne die Stille. „Pass bloß auf, dass die Verlobung nicht zu einer von denen wird, die niemals enden“, sagte sie mit neutraler Stimme. „Du weißt ja, wie manche Männer sind. Man könnte meinen, sie hätten bei ihrem Antrag gar nicht bedacht, dass danach eine Hochzeit erwartet würde. Sie denken wohl, dass sie sich ihr restliches Leben lang entspannt zurücklehnen können und niemals auf der gestrichelten Linie unterschreiben müssen.“
„So ist das nicht“, widersprach Emily angespannt.
„Wenn du meinst“, entgegnete Jayne schnippisch. „Aber du solltest ihn auf jeden Fall auf einen Termin festnageln. Und wenn er den Anschein macht, die Verlobung immer weiter hinauszuziehen, dann pack deine Sachen und lauf davon.“
Emily ballte ihre Hand zu einer Faust. Sie wusste, dass sie sich von Jayne – einer ewigen Bindungsphobikerin, die noch nie in einer längeren Beziehung gewesen war – nicht vorschreiben lassen sollte, wie sie sich zu fühlen hatte, doch ihre Freundin hatte gewisse Zweifel in ihr gesät. So unsinnig sie auch waren, konnte Emily doch spüren, dass sie noch tagelang an Jaynes Worten knabbern würde.
„Ich habe eine Idee“, schaltete sich Amy diplomatisch ein. „Warum kommen wir dich nicht besuchen, um mit dir anzustoßen und dir bei den Planungen zu helfen?“
Trotz ihrer leichten Verärgerung über Jaynes Worte, gefiel Emily die Vorstellung, dass ihre Freundinnen vorbeikommen und ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen würden. Wenn sie erst mal hier in Emilys Revier waren, dann würden die beiden mit eigenen Augen sehen, welche Liebe sie und Daniel verband. Dann würden sie sehen, wie glücklich sie war und sie folglich mehr unterstützen.
„Das wäre wunderbar“, sagte Emily.
Nachdem sie ein Datum ausgemacht hatten, das allen passte, legte Emily auf. Doch dank Jaynes Worten schwirrten ihre Gedanken wild umher und die Flamme der Aufregung in ihrem Inneren war ein bisschen gedämpft worden. Diese Gefühle vermischten sich mit der Tatsache, dass sie immer noch den gefürchteten Anruf bei ihrer Mutter hinter sich bringen musste, der mit Sicherheit alles andere als gut verlaufen würde. Sie hatte versucht, ihre Mutter zu Thanksgiving einzuladen, doch die Frau hatte es als Beleidigung aufgefasst. Nichts, was Emily tat, war je gut genug für Patricia Mitchell. Wenn sie sich schon bei Amys und Jaynes Fragen unwohl gefühlt hatte, dann würden die ihrer Mutter sie am Boden zerstören.
Und das war gerade einmal ihre Familie! Wenn sie dann noch Daniels Seite dazurechnete, verstärkten sich ihre nagenden Ängste. Warum musste es den Rest der Welt überhaupt geben? In Sunset Harbor erschien Emily alles perfekt. Doch außerhalb der Stadtgrenze gab es missbilligende Freunde und problematische Mütter. Und abwesende Väter.
Zum ersten Mal seit dem Antrag dachte Emily an ihren Vater, der nun schon seit zwanzig Jahren vermisst wurde. Erst vor kurzem hatte sie einen Stapel Briefe im Haus gefunden, die bewiesen, dass er noch lebte. Anschließend hatte ihr Nachbar Trevor Mann betätigt, Roy vor ein paar Jahren auf dem Grundstück gesehen zu haben. Ihr Vater lebte, doch selbst dieses Wissen änderte nichts. Emily hatte immer noch keinen Weg gefunden, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sie zum Altar führte, war also praktisch nonexistent.