Emily spürte, wie sich ihre Gefühle in ihr aufstauten und drohten, ihre Freude zu ersticken. Sie sah auf den Bildschirm ihres Handys hinab, auf dem sie die Nummer ihrer Mutter eingegeben, sich jedoch nicht getraut hatte, auf den Hörer zu drücken.
Bevor Emily die Möglichkeit hatte, über ihren Schatten zu springen und ihre Mutter anzurufen, hörte sie Fußschritte auf der Treppe hinter ihr. Als sie herumwirbelte, sah sie, dass Daniel und Chantelle auf sie zukamen. Daniel hatte dem kleinen Mädchen eines ihrer Vintage-Outfits angezogen – ein rostrotes Glockenkleid aus Kord zusammen mit einem schwarz-weißen Cardigan im Blumenmuster und einer dazu passenden Strumpfhose. Sie sah zauberhaft aus. Er selbst trug wie immer abgetragene Jeans und ein T-Shirt, sein Haar stand in alle Richtungen ab und sein Kinn wurde von Stoppeln umrandet.
„Wir wollten frühstücken gehen“, sagte Daniel. „Etwas Besonderes machen. Eine Art Frühstücksfeier.“
Emily steckte ihr Handy zurück in ihre Hosentasche. „Tolle Idee.“
Da war sie gerade noch einmal darum herumgekommen, ihre Mutter anzurufen. Doch Emily wusste, dass sie das nicht ewig würde aufschieben können. Früher oder später würde sie die scharfe Zunge von Patricia Mitchell zu spüren bekommen.
*
In der warmen Luft in Joe’s Diner hing der Geruch von Sirup. Die Familie ließ sich in eine der roten Plastiknischen sinken, wobei sie jedoch nicht umhinkam, die Blicke und das Geflüster um sie herum zu bemerken.
„Es wissen schon alle“, raunte Emily Daniel mit leiser Stimme zu.
Dieser verdrehte die Augen. „Natürlich tun sie das.“ Dann fügte er sarkastisch hinzu: „Es überrascht mich sogar, dass es so lange gedauert hat. Immerhin haben wir die Neuigkeit erst vor einem halben Tag verkündet und ich bin mir sicher, dass Cynthia Jones nur eine oder zwei Stunden braucht, um durch die ganze Stadt zu radeln und den neuesten Klatsch zu verbreiten.“
Chantelle kicherte.
Zumindest schienen die Blicke und das Geflüster freundlicher Natur zu sein, dachte Emily. Alle schienen sich für sie zu freuen. Trotzdem war es Emily ein wenig peinlich, dass sich alle Aufmerksamkeit auf sie richtete. Schließlich passierte es ja nicht alle Tage, dass man die Blicke aller Anwesenden auf sich zog, wenn man ein Waffelhaus betrat. In ihrem Kopf schwirrten immer noch die Fragen herum, die sich nach ihrem Gespräch mit Amy und Jayne in ihre Gedanken geschlichen hatten, und sie fragte sich, ob jetzt wohl ein günstiger Moment wäre, um einige von ihnen mit Daniel zu besprechen.
In diesem Augenblick trat der grauhaarige Joe mit einem Notizblock in den runzligen Händen zu ihnen an den Tisch.
„Ich höre, es gibt etwas zu feiern?“, sagte er lächelnd, während er Daniel auf den Rücken klopfte. „Wann ist denn der große Tag?“
Emily sah Daniel zögern. Er schien genauso verwirrt zu sein wie sie sich fühlte. Alle wollten Antworten auf Fragen, die sie sich selbst noch nicht einmal gestellt hatten.
„Das steht noch nicht fest“, stammelte Daniel. „Wir haben noch keine Details besprochen.“
Dann bestellten sie Waffeln und Pfannkuchen und nachdem Joe davongegangen war, um ihr Frühstück zuzubereiten, fasste Emily den Mut, Daniel ein paar Fragen zu stellen.
„Wann denkst du sollten wir einen Termin festlegen?“, wollte sie wissen.
Daniel sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Oh. Ich weiß nicht. Willst du das jetzt schon besprechen?“
In Emilys Kopf tauchte wieder Jaynes Warnung auf. „Wir müssen ja kein festes Datum ausmachen, aber sprechen wir hier über Monate oder nächstes Jahr? Willst du eine Sommerhochzeit? Oder doch lieber im Herbst, da wir ja in Maine wohnen?“
Trotz ihres Lächelns fühlte sie sich innerlich zerrissen. An dem Ausdruck auf Daniels Gesicht konnte sie erkennen, dass er noch gar nicht so weit in die Zukunft geplant hatte.
„Darüber muss ich nachdenken“, sagte er unverbindlich.
„Ich will eine Sommerhochzeit“, warf Chantelle ein. „Am Hafen. Mit Daddys Boot.“
„Über was musst du denn nachdenken?“, hakte Emily nach, wobei sie Chantelle ignorierte. „Es gibt nur vier Optionen. Sonnenschein, stürmischer Wind, Schnee oder warme Brisen. Was ist dir lieber?“
Daniel schien von Emilys leicht scharfem Tonfall überrascht zu sein. Chantelle schien es genauso zu gehen.
„Ich weiß es nicht“, stammelte Daniel. „Alle davon haben ihre Vor- und Nachteile.“
Emily spürte, wie die Emotionen in ihr aufkochten. Hatte Jayne Recht? Hatte Daniel ihr einen Antrag gemacht, ohne davon auszugehen, dass es am Ende wirklich eine Hochzeit geben würde?
„Hast du schon jemandem davon erzählt?“, fragte Emily weiter.
So langsam bildeten sich vor Frustration Falten auf Daniels Stirn. „Es ist noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden her“, antwortete er, ohne seine Verärgerung zu unterdrücken. Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er dann hervor: „Können wir den Augenblick nicht einfach genießen?“
Chantelle sah mit besorgtem Blick zwischen Emily und Daniel hin und her. Sie stritten sich nicht häufig und dass sie es nun taten, schien sie offensichtlich zu beunruhigen.
Das kleine Mädchen so besorgt zu sehen, rüttelte Emily wach. Welche Probleme sie auch immer hatten, es war nicht fair, Chantelle mit hineinzuziehen. Diese Angelegenheit musste von ihr und Daniel gelöst werden.
„Du hast Recht“, sagte Emily seufzend.
Dann streckte sie ihre Hand nach der von Chantelle aus und drückte sie aufmunternd. In diesem Moment kam Joe mit einem Stapel Pfannkuchen an. Sofort begannen alle, still zu essen.
Emily frustrierte es, dass sie sich Jaynes und Amys Worte so zu Herzen genommen hatte. Das war einfach nicht fair. Gestern noch hatte sie auf Wolke sieben geschwebt.
„Kann Bailey ein Blumenmädchen sein?“, fragte Chantelle. „Und ich eine Brautjungfer?“
„Das wissen wir noch nicht“, erklärte Emily, wobei sie versuchte, ihre Gefühle im Zaum zu halten.
„Aber ich will mit dir zum Altar gehen“, fügte Chantelle hinzu. „Es wird doch einen Gang zum Altar geben, nicht wahr? Ihr werdet doch in einer Kirche heiraten?“ Das kleine Mädchen wühlte in ihrem Rucksack herum, aus dem sie kurze Zeit später einen rosa Notizblock und einen glitzernden Stift herausholte. „Lasst uns eine Liste schreiben“, verkündete sie.
Trotz ihrer unterschwelligen Sorge munterte es Emily auf, Chantelle so voller Organisiereifer zu sehen. Normalerweise war sie immer so ernst, fast schon erwachsen und ihrem Alter weit voraus.
„Als erstes braucht ihr einen Veranstaltungsort“, sagte sie mit strenger Stimme, die in Emily die Vorstellung auslöste, dass Chantelle eines Tages die Pension leiten würde.
„Du hast Recht“, stimmte Emily hinzu, deren Augen nicht von Daniel wichen. „Wir sollten uns zuerst einen Veranstaltungsort suchen und von diesem Punkt aus den Rest planen.“ Sie wollte sich ihre gute Laune um keinen Preis verderben lassen. „Lasst uns keine übereilten Entscheidungen treffen.“
Zum ersten Mal, seit sie Daniel mit ihren Fragen gelöchert hatte, schien dieser sich zu entspannen. Das Runzeln auf seiner Stirn verschwand, was Emily erleichtert bemerkte.
Durch das Fenster des Diners konnte Emily sehen, wie ein großer Baum im Stadtzentrum aufgestellt wurde. Bei all der Aufregung hatte sie den Christbaum der Stadt, der jedes Jahr am Tag nach Thanksgiving aufgestellt wurde, komplett vergessen. Als Kind hatte sie es sich immer angesehen, wenn die Familie die Winterferien in Sunset Harbor verbracht hatte. Sie erinnerte sich daran, dass die Lichter des Baums jedes Jahr am Abend angezündet wurden.
„Wir sollten uns heute Abend das Beleuchten des Baums ansehen“, schlug Emily vor.
Chantelle sah von ihrem Notizblock hoch, der mittlerweile mit einer langen Liste an Stichpunkten in ihrer krakeligen Schrift gefüllt war. „Oh ja, bitte!“ Sie schien sich für die Sache zu begeistern.
„Natürlich“, meinte Emily. „Aber zuerst sollten wir unseren eigenen Baum aufstellen. Wenn die Stadt einen hat, dann braucht die Pension auf jeden auch einen. Was meinst du, Chantelle?“
Emily wurde bei dem Gedanken daran, dass in der Pension bald ein riesiger Christbaum stehen würde, ganz aufgeregt. Als Kind hatte ihr Vater immer nur einen kleinen Baum im Wohnzimmer aufgestellt, da sie ja immer nur die Ferien in dem Haus verbracht hatten. Aber jetzt, da es ihr Zuhause war, würde sie einen riesigen drei Meter hohen Baum in den Eingangsbereich stellen. Vielleicht würde er sogar dreieinhalb Meter hoch sein! Sie und Chantelle könnten ihn gemeinsam schmücken und mithilfe einer Trittleiter die obersten Äste dekorieren. Bei dem Gedanken daran wurde sie von kindlicher Aufregung erfüllt.
„Oh bitte, Daddy, können wir das machen?“, wollte Chantelle von ihrem Vater wissen, der seine Pfannkuchen still aß. „Können wir einen Christbaum aufstellen?“
Daniel nickte. „Sicher doch.“
„Und uns dann ansehen, wie der Baum in der Stadt beleuchtet wird?“
„Mhm.“
Emily runzelte die Stirn, denn sie fragte sich, was wohl in Daniel vorging, warum er sich nicht wie sie und Chantelle freute, sich so etwas Wunderbares mit der Familie anzusehen. Daniel war ihr selbst jetzt, da sie einen Ring am Finger hatte und mehr als bereit war, sich ihm ein Leben lang zu verschreiben, ein Rätsel. Sie fragte sich, ob sie jemals wirklich wissen würde, was in seinem Kopf vorging oder ob sie sich immer noch das gleiche fragen würde, wenn sie Mrs. Daniel Morey war.
KAPITEL DREI
Dorys Christbaumschule befand sich nur eine kurze Fahrt entfernt in einem Vorbezirk von Sunset Harbor. Die Familie fuhr zusammen in Daniels rostigem Pickup-Truck dorthin. Wo auch immer man hinsah, fand man noch Reste des Schnees von Thanksgiving und als Emily den Ring an ihrem Finger berührte, erinnerte sie sich an den Schnee, der um sie und Daniel herum zu Boden gefallen war, während er ihr einen Antrag gemacht hatte.
Sie bogen auf einen notdürftigen Parkplatz ein und sprangen aus dem Truck. Anscheinend hatten auch viele andere Familien die gleiche Idee gehabt. Überall standen Eltern herum, während ihre Kinder aufgeregt umherrannten und durch die Baumreihen sprangen.
Statt von Dory wurden sie von einem jungen Mädchen begrüßt, die an der Schwelle zur Pubertät stand, und die sich als Grace, Dorys Tochter, vorstellte. Ihr Haar war genauso blond wie das von Chantelle. Zudem trug sie eine mit Dollarscheinen gefüllte Bauchtasche sowie einen Notizblock, auf dem sie Rechnungen schreiben konnte.
„Diese Bäume sind zum Fällen bereit“, sagte sie mit einem selbstsicheren Lächeln, während sie auf das Kiefernfeld deutete. „Sie alle wurden vor sieben bis neun Jahren gepflanzt.“ Sie grinste Chantelle an. „Sie sind ungefähr so alt wie du, nicht wahr?“
Chantelle nickte schüchtern.
„Sobald ihr einen Baum findet, der euch gefällt“, fuhr Grace fort, „fällt ihr ihn und bringt ihn zu der Stelle, an der sie verladen werden. Dort wird euch mein Vater zusammen mit dem Baum zur Pressmaschine fahren, ihn einwickeln und dann könnt ihr ihn bei mir bezahlen. Wir verkaufen auch heiße Schokolade und geröstete Maronen, wenn ihr etwas Warmes haben wollt, während ihr euch umseht.“
Emily holte für jeden von ihnen eine heiße Schokolade in einem Styroporbecher und eine Tüte Maronen, die sie sich teilen konnten. Anschließend machten sie sich auf den Weg zu den Feldern. Chantelle rannte schon voraus, sie war aufgeregter als Emily sie je gesehen hatte.
Der kräftige Kieferduft weckte in Emily Weihnachtsgefühle. Sie freute sich schon darauf, ihr erstes Weihnachten zusammen mit Daniel und Chantelle, ihrer Familie, am Kamin zu feiern. Es würde das erste Weihnachten von so vielen sein, die da noch kommen mochten.
Sie und Daniel folgten Chantelle Hand in Hand, ohne ein Wort zu verlieren. Dann lehnte sich Emily an Daniel.
„Was denkst du, wie alt Grace ist?“, fragte sie.
„Elf, zwölf“, schätzte Daniel. „Warum?“
„Einfach so“, erwiderte Emily. „Sie erinnert mich an Chantelle. Deshalb stelle ich mir vor, sie sie wohl sein wird, wenn sie älter ist.“
Vor ihnen rannte Chantelle zwischen den Baumreihen umher, wobei sie immer wieder anhielt, um ihr Höhe, Astdichte und Farbfülle zu bewerten, bevor sie zum nächsten Baum sprang. Emily konnte sich sehr gut vorstellen, wie sich Chantelle als älteres Kind mit einem Klemmbrett in der Hand bei ihrem ersten Job das Taschengeld aufbesserte.
Doch während Emily über die Zukunft nachdachte, wanderten ihre Gedanken auch wieder in die Vergangenheit zurück. Chantelle, die Charlotte so sehr glich, erinnerte Emily auch an den Verlust ihrer Schwester, und an die Tatsache, dass diese niemals aufwachsen und in den Weihnachtsferien einen Job annehmen würde. Vor vielen Jahren war Charlotte durch eben diese Baumschule gesprungen, voller Versprechen und endloser Möglichkeiten, doch dann war ihr Leben von einem Moment auf den nächsten ausgelöscht worden.
Emily richtete ihren Blick nach vorne auf Chantelle, die sich in ihren Gedanken jedoch in Charlotte verwandelt hatte. Dann spürte Emily, wie sie selbst immer kleiner wurde, bis sie wieder in ihrem Kinderkörper steckte. Plötzlich wurden ihre Hände von Handschuhen gewärmt. Schnee fiel um sie herum und legte sich auf die Äste der Kiefern. Emily streckte ihre kleine behandschuhte Hand aus und schüttelte an einem der Äste. Sofort schoss eine Schneewolke in die Luft, dann verstreute sich der weiße Puder. Vor ihr lachte Charlotte sorglos und fröhlich, ihr warmer Atem zeichnete sich deutlich in der Luft ab. Sie trug ebenfalls Handschuhe und ihre knallroten Lieblingsstiefel bildeten einen starken Kontrast zu dem Weiß.
Emily beobachtete, wie Charlotte unter dem größten Baum der ganzen Schule anhielt und voller Staunen nach oben sah.
„Ich will den hier!“, rief das kleine Mädchen.
Emily ging schnell zu ihr, wobei sie in ihrer Eile den Schnee aufwirbelte. Als sie Charlotte erreichte, sah sie ebenfalls zu dem riesigen Baum hinauf. Er war atemberaubend, so groß, dass sie kaum die Spitze sehen konnte.
Das Geräusch von knirschenden Fußschritten im Schnee lenkte Emilys Aufmerksamkeit von dem Baum ab und sie warf einen Blick über ihre Schulter. Dort in langen Schritten kam ihr Vater auf sie zu.
„Ihr Mädchen müsst ein wenig langsamer sein“, schnaufte er, als er bei ihnen ankam. „Ich hätte euch fast verloren.“
„Wir haben den Baum gefunden!“, rief Emily begeistert.
Charlotte stimmte mit ein und beide sprangen auf und nieder und deuteten nach oben.
„Der ist aber ein bisschen groß“, meinte Roy.
Heute sah er erschöpft aus. Deprimiert. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe.
„Er ist nicht zu groß“, widersprach Emily. „Die Decken sind sehr hoch.“
Charlotte hielt wie immer zu ihrer Schwester. „Er ist nicht zu groß! Können wir ihn bitte mitnehmen, Daddy?“
Roy Mitchell rieb sich mit einer Hand gereizt über das Gesicht. „Fordere meine Geduld nicht heraus, Charlotte“, schnauzte er. „Such dir etwas Kleineres aus.“
Emily sah, wie Charlotte zusammenzuckte. Keine von beiden mochte es, ihren Vater wütend zu machten, doch keine von ihnen wusste, wie sie das geschafft hatten. Es schien, als würden ihn in dieser Zeit die kleinsten Dinge wütend machen. Er war immer von irgendetwas abgelenkt und sah ständig über seine Schulter nach Schatten, die nur er sehen konnte.