Emily lächelte sie an und strich ihr die Haare aus den Augen. „Wann können wir nur zu zweit rumhängen?“, fragte sie.
Obwohl Amy oft in der Nähe war, waren sie immer von Menschen umgeben. Emily konnte sich nicht wirklich erinnern, wann sie sich das letzte Mal zu einem guten Gespräch getroffen hatten, und sie wusste, dass Amy jetzt jemanden brauchte, mit dem sie reden konnte.
„Chantelle ist morgen wieder in der Schule“, fügte Emily hinzu, „dann haben wir etwas mehr Privatsphäre. Wie wäre es mit einem Kaffee bei Joe, sobald wir sie abgesetzt haben?“
Amy nickte und Emily bemerkte den Ausdruck der Erleichterung in ihren Augen, wissend, dass sie endlich in der Lage sein würde, alles abzuladen, was sie gerade beschäftigte.
Sie trennten sich von Amy und Harry, alle umarmten sich zum Abschied und winkten, dann schlenderten sie erschöpft vom langen Tag zurück in die Pension. Selbst die Hunde schleppten ihre Pfoten.
„Ich bin müde“, sagte Chantelle und gähnte, als sie die Auffahrt entlanggingen.
Vor ihnen lag die Pension, die sich gegen den nachtblauen Himmel abhob. Die Fenster strahlten gelbes Licht aus und sahen wie funkelnde Sterne aus dieser Entfernung aus. Emily lächelte zufrieden. Die Pension zu sehen, gab ihr immer ein Gefühl von Frieden und sie fühlte sich wie zu Hause.
„Lass uns zuerst etwas zu Abend essen und dann kannst du auf dein Zimmer gehen“, sagte Emily. „Es ist dein erster Tag in der Schule morgen, also brauchst du einen guten Nachtschlaf.“
Chantelle sah ein wenig traurig aus. „Der Sommer ist schon vorbei?“
Emily nickte. „Ich befürchte ja, Süße. Aber keine Sorge, du liebst die Schule! Du wirst Bailey und Toby wieder jeden Tag sehen. Und Gail.“
„Wird Fräulein Glass noch meine Lehrerin sein?“, fragte Chantelle.
Emily schüttelte den Kopf. „Du wirst in einer neuen Klasse sein, mit einem neuen Lehrer. Macht dir das Sorgen?“
Chantelle hielt inne und ihr Ausdruck zeigte, dass sie darüber nachdachte. „Nein“, sagte sie schließlich. „Ich werde Fräulein Glass manchmal auf dem Spielplatz sehen.“
Emily lächelte und fing Daniels Blick auf. Er lächelte auch.
Sie gingen in die Pension, das Foyer war hell, warm und einladend. Bryony saß wie immer an der Seite der Lounge auf ihrer Lieblingscouch, umgeben von halb ausgetrunkenen Kaffeebechern. Sie sprang auf, als sie sie sah, ihre Metallarmbänder klingelten dabei, und eilte hinüber. Ihr Parfüm roch nach Gewürzen.
„Leute, ich kann es nicht glauben!“, schwärmte sie. „Eine Insel!“ Sie umarmte Emily. „Wisst ihr wie wenige Inseln es in der Hotellerie gibt. Das wird eine Goldmine!“
„Ich bin froh, das zu hören“, antwortete Emily. „Sonst wäre es vielleicht ein sehr teurer Fehler gewesen.“
Daniel und Chantelle gingen in die Küche, um Essen zu machen. Emily beschloss, während des Kochens in das Kinderzimmer zu gehen. Sie wollte eine andere von Charlottes Boxen durchsehen, ob es noch irgendwelche Spielsachen gab, die sie an das Baby weitergeben konnte.
Sie ging in das Babyzimmer und setzte sich auf den Boden neben einer der vielen Kisten, in denen die alten Spielsachen und Klamotten ihrer Schwester lagen, die von Dachboden heruntergebracht worden waren, wo sie seit Jahren sorgfältig gelagert hatten.
Diese Aufgabe war immer mit Melancholie gefärbt. Obwohl Emily spürte, dass Charlottes Geist bei ihr in diesem Haus war und sie auf sie und die Familie, die sie geschaffen hatte, lächelte, fühlte es sich immer ein bisschen so an, als ob sie mit jedem verstreichenden Tag mehr verschwand. Die Zeit sollte die Schmerzen lindern, aber Emilys Vermissen wurde täglich grösser, denn so lag das letzte Mal, dass sie miteinander gesprochen hatten, wieder ein bisschen weiter in der Vergangenheit.
Sie öffnete die Pappschachtel, darin roch es nach Staub. Wie die meisten Kisten war auch diese mit Kuscheltieren gefüllt. Es überraschte Emily, dass Charlotte so viele Stofftiere besessen hatte. Sie hatte kaum Erinnerungen an ihre Schwester, wie sie mit Bären oder Puppen spielte. Sie verbrachten die meiste Zeit damit, sich Welten vorzustellen und Theaterstücke zu spielen. Anders als bei ihren Zwillings-Stoffpuppen und Charlottes Lieblingsbär, Andy Pandy, konnte Emily sich nicht erinnern, dass sie jemals mit solchen Spielsachen gespielt hatten.
Aber als sie hineingriff und ein verblichenes pinkfarbenes Plüschtier hervorholte, spürte Emily einen plötzlichen Anflug einer Erinnerung. Sie drehte das Plüschtier in ihren Händen und sah, dass es ein Einhorn war, dessen einst schimmerndes Paillettenhorn jetzt ausgeblichen war.
„Sparkles“, murmelte sie laut, der Name des Spielzeugs erschien auf ihrer Zunge, bevor ihre Gedanken überhaupt in Gang kamen.
Dann fühlte sie plötzlich ein vertrautes wirbelndes Gefühl, das sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Sie tauchte ab in die Vergangenheit, in ihren alten Erinnerungen.
Die Rückblenden hatten begonnen, als sie zum ersten Mal in die Pension zurückgekehrt war. Zuerst hatte sie Angst gehabt, schreckliche Erinnerungen wie an die Nacht, in der Charlotte gestorben war, und die wütenden Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern. Aber dann, als die Zeit verstrichen war, als Emily diese verdrängten Erinnerungen verarbeitet hatte, hatte sie angefangen, einige der angenehmeren zu erleben. Zeiten, in denen sie und Charlotte zusammen gespielt hatten, sorglos gewesen waren. Diese Erinnerung erfüllte Emily mit einem Gefühl der Ruhe, und sie wusste, dass es ein angenehmer Flashback werden würde.
Charlotte und sie waren auf dem Dachboden, in einem der Räume, die ihr Vater mit Antiquitäten gefüllt hatte. Auf dem Boden neben ihnen war ein kleiner Globus aus Bronze, und Charlotte drehte ihn müßig mit einem Finger. Neben Charlotte saß Sparkles, das schöne Einhorn-Plüschtier. Brandneues, flauschiges Pink mit Paillettenhorn.
„Sparkles ist traurig“, sagte Charlotte zu Emily.
„Warum?“, fragte Emily neugierig, als sie die Stimme eines Kindes aus ihrem Mund hörte.
„Weil sie das letzte Einhorn ist“, erklärte Charlotte. „Sie hat keine anderen Einhornfreunde.“
„Das ist traurig“, antwortete Emily. „Vielleicht solltest du sie auf ein Abenteuer mitnehmen, um sie aufzuheitern?“
Charlotte schien sich auf den Vorschlag einzulassen. „Wo willst du hin, Sparkles?“, fragte sie ihr Spielzeug. Dann drehte sie die goldene Kugel und hielt sie mit einem spitzen Finger an. Er traf auf eine kleine Insel im Osten des amerikanischen Kontinents. „Sparkles will auf eine Insel reisen“, informierte Charlotte Emily.
Emily nickte. „In diesem Fall sollten wir besser ein Boot besteigen.“
Sie holten alte Stühle und Couchtische heraus, stöberten den Staub auf und rührten an dem Geruch von Schimmel, dann bauten sie alles so auf, dass sie ihre Vorstellung davon überzeugten, dass sie ein Boot gebaut hatten. Dann benutzten sie einen fadenscheinigen Vorhang als Segel und kletterten mit Sparkles in ihr Boot.
Emily konnte fast den Wind in ihren Haaren fühlen, als sie über den Ozean zu einem entfernten Ufer segelten. Charlotte benutzte ein Kaleidoskop als Teleskop und scannte den Raum, als suche sie.
„Land in Sicht!“, rief sie plötzlich.
Emily warf den Anker - in Wirklichkeit war es ein hölzerner Kleiderbügel, der an eine Vorhangschnur gebunden war. Dann sprangen sie vom Boot und schwammen zur Küste.
Keuchend vor Anstrengung begannen die beiden Mädchen, die Insel zu erkunden, stapften durch die Stapel von Antiquitäten und taten so, als wären diese ein Vulkan.
„Schau hier rein“, rief Charlotte Emily zu. „Da unten im Vulkan!“
Emily spähte hinter den Hutständer, auf den Charlotte zeigte. „Ich glaube es nicht!“, schrie sie spielerisch auf.
Charlottes Augen waren weit aufgerissen. „Es ist der Rest der Einhörner“, sagte sie. Dann sprach sie hastig zu Sparkles. Ihr Gesicht fiel zusammen. „Sparkles will in den Vulkan hinunter, um bei ihnen zu sein“, sagte sie zu Emily.
„Oh“, sagte Emily, ein wenig traurig. „Obwohl das bedeutet, uns zu verlassen?“
Charlotte sah ihr geliebtes Einhorn an und nickte. „Sie sagt, das ist ihre Heimatinsel. Sie vermisst ihr Zuhause sehr und all ihre Freunde. Sie möchte hier leben. Aber wir dürfen kommen und sie besuchen.“
„Dann ist es okay“, sagte Emily.
Sie banden ihre Cardigan-Ärmel zusammen, um eine Schleuder für Sparkles zu machen. Dann ließen sie das Einhorn hinter den Möbeln hinunter und ließen es dort liegen.
„Bist du traurig, dass du auf Wiedersehen sagen musst?“, fragte Emily Charlotte, als sie zurück in ihr provisorisches Boot stiegen.
Charlotte schüttelte den Kopf. „Nein. Weil ich weiß, dass ich sie wiedersehen werde.“
Emily schnellte plötzlich in den heutigen Tag zurück. Sie hielt Sparkles fest an ihrer Brust und der Kopf des Plüschtiers war feucht von ihren Tränen. Auf der einen Seite war sie verzweifelt traurig, weil sie wusste, dass Charlotte nie wieder die Chance hatte, Sparkles zu sehen. Aber der andere Teil von ihr fühlte sich beschwingt vor Freude. Das Spielzeug war ein Zeichen von Charlotte, da war Emily sich sicher. Sparkles war auf der Insel hinter den Möbeln zurückgeblieben, bis zu diesem Moment völlig vergessen, war vielleicht sogar speziell für diesen Moment bestimmt gewesen.
Sie umarmte Sparkles fest, dann legte sie sie auf das Regal mit Blick auf Baby Charlottes Krippe. Sie fühlte, wie sich der Kreis des Lebens fortsetzte, und lächelte, wissend, dass Charlotte einmal einen Schutzengel haben würde, der ihren Schlaf bewachte.
*
Emily kuschelte sich neben Daniel ins Bett. Es war ein langer und ermüdender Tag gewesen, und sie driftete schnell in den Schlaf ab.
„Ich kann nicht glauben, dass wir eine Insel besitzen“, murmelte sie in die Dunkelheit, während sie einzuschlafen begann. „Meine Zukunft sieht gar nicht so aus, wie ich es einmal gedacht hätte.“
Daniel stieß ein schläfriges Lachen aus. „Wie das?“
„Nun, ich hätte nie gedacht, dass ich verheiratet und schwanger sein würde. Ich hätte nie gedacht, dass ich Chantelle oder diese Pension haben würde.“ Sie streichelte Daniels Brust, die sich langsam auf und ab bewegte.
„Ich hätte auch nie gedacht, dass ich Chantelle oder die Pension haben würde“, antwortete er.
„Aber du bist glücklich, dass es so ist?“
„Natürlich.“
„Bist du glücklich, dass wir noch ein Mädchen haben werden?“
Er küsste ihre Stirn. „Ich bin sehr glücklich“, versicherte er ihr.
„Und dass unsere Tochter morgen wieder zur Schule muss, wo es ihr fabelhaft geht?“
Daniel lachte wieder. „Ja. Ich bin froh, dass es Chantelle in der Schule gut geht.“
Emily lächelte zufrieden. Der Schlaf schien bereit zu sein, sie zu nehmen.
„Ich bin nur traurig wegen einer Sache“, sagte sie.
„Welcher Sache?“
„Dass mein Vater nicht da sein wird, um alles mit uns zu genießen.“
Daniel wurde still. Sie spürte, wie sich seine Arme um sie schlossen.
„Ich weiß“, sagte er. „Ich bin deswegen auch traurig. Aber lass uns die Zeit nutzen, die wir noch mit ihm haben. Lass uns sicherstellen, dass jeder Tag so gut ist, wie es nur geht. Lass uns jeden Tag zu etwas Besonderem machen.“
Emily nickte bestätigend. „Ich denke, heute ist uns das gelungen“, sagte sie gähnend. „Wir haben schließlich eine Insel gekauft. So etwas passiert nicht jeden Tag.“
Sie spürte, wie Daniels Brust von seinem Lachen erzitterte. Sie drückte sich noch fester gegen ihn, überglücklich und voller Liebe. In die Arme des anderen gewickelt, synchronisierten sich ihre Herzschläge. Sie schliefen einstimmig in perfekter Harmonie, zwei von Liebe vereinte Menschen.
KAPITEL VIER
Emily nahm einen letzten Schluck von ihrem entkoffeinierten Kaffee und stellte den Becher auf den Küchentisch. Sie hatte tief geschlafen, war aber ziemlich groggy aufgewacht, weil der Wecker eine ganze Stunde früher geklingelt hatte als während der Sommerferien - und sie hätte wirklich von richtigem Koffein profitieren können. Es war wahrscheinlich das, worauf sie sich am meisten freute, sobald Baby Charlotte da war; dass, was sie am meisten vermisste und wonach sie am meisten verlangte. Sie sah neidisch zu Daniel, der ihr gegenübersaß und seinen Kaffee trank.
„Also los, Schatz“, sagte Emily schließlich und sah Chantelle an. „Es ist Zeit, zur Schule zu gehen.“
Chantelle saß mit gesenktem Kopf über den Einzelteilen einer Uhr, ihre Zunge ragte aus einem ihrer Mundwinkel, so konzentriert war sie. Ihre leere Schüssel Müsli stand neben ihr, achtlos weggeschoben, so dass sie ihrer Aufgabe nachgehen konnte.
„Kann ich nicht noch fünf Minuten haben?“, fragte sie so versunken in ihrer Aufgabe, dass sie nicht einmal aufschaute. „Ich muss nur noch herausfinden, wo dieses Zahnrad hingehört.“
Seit ihrer Rückkehr aus England war Chantelle entschlossen, eine Uhr wie die von Opa Roy zu bauen. Emily fand es sehr süß, dass Chantelle von ihrem Großvater so begeistert war, aber es brach ihr gleichzeitig das Herz. Sie und Daniel hatten Chantelle noch nichts von der Krankheit von Opa Roy erzählt. Das Mädchen würde völlig zerstört sein, wenn sie ihn verlor. Sie alle würden es sein.
Daniel übernahm das Kommando. „Nein, tut mir leid, Süße. Du musst pünktlich da sein, um deine neue Lehrerin und deine neuen Klassenkameraden kennenzulernen.“
Chantelle legte ihren Schraubenzieher mit einem widerwilligen Seufzer nieder. „Na gut.“
Emily wünschte, sie könnte Chantelle davon überzeugen, ihre schmierige, ölige Arbeit irgendwo anders zu machen - in der Garage, oder im Schuppen, oder einfach überall sonst, wenn es nur nicht der Küchentisch war. Aber Chantelle wollte nichts davon hören. Opa Roy hat seine Uhr am Frühstückstisch repariert, also musste es Chantelle genauso machen!
Sie alle gingen zusammen zum Pick-up, Daniel nahm den Fahrersitz, weil Emily es zu unbequem fand, ihren wachsenden Bauch hinter das Lenkrad zu quetschen. Chantelle hüpfte in ihren Autositz auf der Rückbank.
„Ich kann nicht erwarten, bis Baby Charlotte mit uns zur Schule fährt“, sagte sie und warf einen Blick auf den Babysitz, den sie kürzlich installiert hatten (natürlich auf Amys Anweisung hin, weil man nie weiß, wann das Baby sich entschied zu kommen und das letzte, was du tun möchtest ist, mit einem komplizierten Sitz zu hantieren, während du dich in den schmerzhaften Klammern der Kontraktionen befindest).
„Ich auch“, sagte Emily und legte ihre Hände auf ihren festen Bauch. Er schien mit jedem Tag der verging unbequemer zu werden.
„Zuerst wird sie nur für die Fahrt mitkommen, aber es wird nicht lange dauern, bis sie mit dir durch diese Tür gehen wird“, sagte Daniel mit einem Kichern. „Sie wird im Kindergarten sein, bevor wir es uns versehen.“
Emily wurde bei diesem Gedanken wehmütig. Sie wusste was Daniel meinte, diese Zeit verging so schnell, dass sie jeden Moment würdigen sollten, weil er ihnen durch die Finger rinnen würde wie Sand, der durch die Sanduhr rinnt. Aber die Zukunft, auf die Daniel anspielte, war auch eine, in der ihr Vater längst gestorben war. Er wäre nicht da, wenn Charlotte in den Kindergarten kam. Er würde niemals die zahlreichen Fotos sehen, die Emily von den beiden Mädchen machen würde, wenn sie zusammen in die Schule gehen würden, Hand in Hand. Diese Zukunft, die sie auf der einen Seite kaum erwarten konnte, wäre auch auf der anderen Seite voller Trauer. Sie wäre eine andere Person, die sich durch den Verlust von Roy irreparabel verändert hätte.