Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Иличевский Александр Викторович 2 стр.


Auf seiner Etage wohnten Angestellte des Gartenbaugeschäfts auf dem Gelände des Timirjasew-Museums – schwermütige, unablässig fluchende Wießrussen, die sich freitagabends auf der Bank vor dem Haus volllaufen ließen. Sie wurden von der Geschäftsleitung immer wieder zwischen den Filialen hin und her geschoben, und so traf er heute die einen, morgen die anderen und übermorgen die dritten, und es kam ihm vor, als würden in der Einzimmerwohnung an die zwanzig Leute leben.

In der Wohnung direkt gegenüber wohnte eine sonderbare Familie. Die Frau war gläubig und erzog ihre zwei heranwachsenden Mädchen streng. Sonntags ging sie mit ihnen in die Kirche, von wo sie – alle drei mit Kopftuch und Rucksack, in grauen und lila Jäckchen sowie langen schwarzen Röcken, einander ausgesprochen ähnlich – im Gänsemarsch[11] zurückkamen. Die noch junge Frau blickte stets finster drein und grüßte nie. Ihren Mann, der ebenfalls keinen Gruß erwiderte[12], verdrosch sie wortlos oder ließ ihn nicht in die Wohnung, wenn er gelegentlich volltrunken nach Hause kam, die Tasche über der Schulter, eine Flasche Starkbier in der Hand und nicht gleich in der Lage, die ihm entgegenstürzenden Stufen zu bewältigen. Der Mann war schmächtig, hatte aber gewaltige, steife Finger mit dicken schwarzen Nägeln an kräftigen Phalangen, mit denen er seine Flasche wie einen Stift umklammerte, wenn er auf den Stufen neben der Wohnungstür friedlich wegdöste. Solche Hände hatte Koroljow als Kind bei den Arbeitern der Maschinenfabrik Roter Bauarbeiter gesehen, die sich an der Station Zement-Gigant in den verqualmten Einstiegsbereich des Fünf-Uhr-Vorortszuges drängten: Abends waren er und die anderen Jungs gerne aus dem Internat abgehauen und nach Kolomna gefahren, um in der Zoohandlung die Schwertträger oder Segelflosser zu beäugen.

Einmal setzte er sich zu dem dösenden Nachbarn auf die Treppe, nahm einen Schluck von dessen Bier und betrachtete lange wie gebannt diese Finger. Der Zug hatte stets vor der Brücke abgebremst, an der die Moskwa in die Oka mündet, unten krauchte winzig ein Häuschen mit einem Wachtposten vorbei, riesig ragten die Brückenträger empor, die Räder klopften und hallten plötzlich bedeutsam, ringsum ergoss sich frei der weite Fluss, darin die Tropfen der Kuppeln, die Kremlmauern, Gärten, Gemüsebeete, Feuerwachtürme … Da plötzlich ging die Wohnungstür auf, die Nachbarin schob Koroljow zur Seite, zog ihrem Mann das Portemonnaie und die Schlüssel aus der Tasche, zerrte ihm die Schuhe von den Füßen und verschwand wieder in der Wohnung. Im Sommer reichte sie die Scheidung ein, wechselte das Schloss, ihr Exgatte versuchte die Tür aufzubrechen, woraufhin sie mit einer Unterschriftenliste die Nachbarn abklapperte und Geld für den Einbau einer Gegensprechanlage sammelte. Im Herbst wohnte der Mann wieder bei ihr, die Mädchen hatten jetzt modische Haarschnitte, trugen keine tristen Kopftücher mehr und grüßten, doch die Haustür bekam immer noch jeder auf, der es wollte, denn die nötige Summe für die Gegensprechanlage war am Ende doch nicht zusammengekommen.

IV

Nadja und Wadja waren vorbildliche »Beiwohner«, so nannte Nailja Iossifowna die auf dem Treppenabsatz nächtigenden Obdachlosen. Sie hinterließen keinen Dreck, wenngleich in den Morgenstunden ein ordentlicher Mief im Treppenhaus hing, bis er von Tabakschwaden abgelöst wurde, die aus den Nasenlöchern der merkwürdigerweise ständig ein- und ausgehenden Weißrussen strömten. Die beiden hatten, wenn auch nicht ohne Kampf, die anderen Obdachlosen nach und nach vertrieben. Mittlerweile stand in einer Ecke des Treppenabsatzes ein abgenutzter Reisigbesen, den sie auf dem Müllplatz hinter der Banja an der Krasnaja Presnja aufgetrieben hatten. Damit fegte Nadja vor und nach dem Nachtlager sorgfältig den Treppenabsatz und morgens auch noch zwei Treppen abwärts und eine hinauf.

Nadja redete nicht viel, sie schämte sich für ihre Unfähigkeit. Dafür hörte sie für ihr Leben gern zu. Wadja hingegen ließ keine Gelegenheit aus, mit Worten nach dem Leben zu greifen, es zumindest ans Tageslicht zu lassen – als würde er dieser seiner Gabe Dankbarkeit zollen, indem er ihm seine Geschichten darbrachte und zugleich seine Kunstfertigkeit hegte und pflegte, die ihm so oft aus der Patsche geholfen hatte[13]. In schwierigen Situationen konnte er sich über die Sprache einen Zugang zu den Menschen ertasten, Vertrauen gewinnen[14] oder erschmeicheln: wenn er bettelte, wenn man ihn rausschmiss, wenn man im Ismailowski-Park Kampfhunde auf ihn hetzte, ihn mit Knüppeln zur Sammelstelle für Obdachlose jagte, wenn man ihn schier zu Tode prügelte; er wusste genau, dass man auf keinen Fall schweigen darf, wenn sie einen totschlagen wollen, man muss reden, zetern, ächzen, jammern, flehen, beschämen, weinen … Und je flüssiger und müheloser du das hinkriegst, desto größer die Chance, dass du überlebst.

Wadja bezeichnete Nailja Iossifowna, wenn er mit Nadja redete, als alte Hexe, er war überzeugt, sie köchle in ihrer Küche besondere Wurzeln, die gegen den Kropf halfen, sonst wären ihre Augen schon längst geplatzt. Koroljow traute er nicht über den Weg[15], im Gespräch mit Nadja nannte er ihn misstrauisch den Schecken. Der Spitzname kam wohl daher, weil Koroljow am Scheitel eine graue Haarsträhne hatte und sein Auto ein Jahr nach einem Unfall immer noch nicht neu lackiert war: Mit der Grundierung des neuen Kotflügels und den Flecken verschiedenfarbiger Spachtelmasse war es buntgefleckt wie eine politische Landkarte.

Nadja hatte zwar keine Angst vor Koroljow, aber seine strenge Stimme, sein Blick, die Tatsache, dass er sie mit seiner Aufpasserei nicht in Ruhe ließ, sie aber auch nicht vertrieb, und die Art und Weise, wie er sie heimlich beobachtete, plötzlich lautlos die Tür einen Spalt breit öffnete, wie er sie morgens anspornte, von wegen: Prima, dass ihr hier euren Dreck wegmacht, weiter so – all das trug ihm keine Sympathie ein. Sie wusste, wenn sie so einen auf der Straße sehen würde, den würde sie im Leben nicht anschnorren: Der gibt nichts.

Koroljows penetrante Nachbarschaft nötigte ihnen dennoch zaghaften Respekt ab. Sie hielt Nadja und Wadja durch fordernde Duldsamkeit sogar auf Trab[16], die beiden reagierten mit Eifer wie in einem Rollenspiel, ähnlich begeistert wie Kinder, die beim Krankenhausspielen auf Hygiene achten: Sie waschen sich die Hände auf jeden Fall bis hinauf zu den Ellenbogen, sie kochen Plastikspritzen aus, reiben Puppen mit Watte ab usw. Nadja halbierte mit einem Blick auf Koroljows Wohnungstür Wadjas abendliche Ration – auch wenn der anfangs um sich schlug.

»Vergiss es. Nein, kriegst du nicht. Ist doch peinlich vor den Leuten. Nein!«, zischte Nadja, wehrte die Prügel ab, stieß ihn mit dem Fuß weg und versteckte im Ausschnitt die Faust mit dem Fläschchen Apothekenalkohol, 100 ml zu siebzehn Rubel, zur äußerlichen Anwendung.

Nachdem Wadja sich einmal mit dieser Art von Symbolik abgefunden hatte, befolgte er sie mit Begeisterung: Das Eingebläute ging ihm in Fleisch und Blut über. Fast wäre er im Feuereifer verbrannt bei dem Versuch, Koroljows Nachbarn ins Gewissen zu reden[17], als der betrunken nach Hause kam und auf der Treppe hinfiel.

Wadja hinkte zu ihm hinunter. Der Mann lag auf dem Rücken.

»Was denn, Kumpel. Solltest mal ein bisschen kürzertreten. Komm, hoch mit dir …« Wadja beugte sich über ihn.

Der Mann stöhnte und reckte seinen Oberkörper der zu Hilfe geeilten Nadja entgegen; die Beine wollten ihm nicht gehorchen.

»Sachte, sachte, Kumpel. Immer mit der Ruhe!«, sagte Wadja beruhigend und zog ihn ein wenig vom Geländer weg.

Blut tropfte aus der Nase auf die Stufen, die Tropfen hüllten sich ringsum in Staub. Wadja brachte ihn zur Wohnungstür, die Frau ließ ihn rein – und dann ging’s los: Die Tür flog wieder auf, der zu sich gekommene Nachbar, die Lippe blutig, schüttete Azeton auf die Treppe und die dort liegenden Obdachlosen.

»Drecksgesindel!«, brüllte er, lehnte sich gegen die Wand und ratschte mit durchnässten Streichhölzern. »Ich fackel euch alle ab!«

Steppe, Berge, Kloster

V

Wadjas Lebensgeschichte war so ausgedacht wie wahr. Er hatte sich derart tief in seine Fantasiegespinste hineingelebt, dass ihm schon vor langer Zeit jegliche Grenzen des Faktischen abhandengekommen waren. Wenn ein irritierter Gesprächspartner eine Unstimmigkeit bemerkte, reagierte er mit arglosem Wahrheitsglauben:

»Wer soll das jetzt noch wissen. So ist das eben manchmal.«

Die Biografie – eine Hieroglyphe des Lebens – ist der einzige Besitz der Obdachlosen. Sie hegen und pflegen die eigene Geschichte, wie Menschen von jeher sakrale Texte bewahrt und nachgeschliffen haben. Zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, ist der Zauberrubel, mit dem sie sich gemeinhin einen Platz unter ihresgleichen erkaufen – die Ration Tabak, Alkohol, Essen, Wärme. Je dichter, unerwarteter und reicher diese Flunkerei verwoben ist, je mehr Schnörkel und Komponenten die Hieroglyphe hat, desto mehr bekommt man. Die Stummen, die nicht gut erzählen können, nicht amüsieren, aufwühlen oder Interesse wecken, werden von den anderen »Klotz« genannt.

Es ist falsch zu glauben, dass Menschen, die nie Zeitung gelesen und nie ferngesehen haben, echtes Wissen über die Welt besitzen. Doch der Mythos, den sie mit ihren Verirrungen nähren, ist einzigartig. Folgt man den bald skurril märchenhaften, bald schlicht unglaublichen Peripetien, kann man eine verblüffende Wahrheit über die Welt ans Licht bringen[18]. Zwar wird sie – wie alle anderen Wahrheiten – eine barbarische Projektion der nichtexistenten höchsten Wahrheit sein (sein Schatten entstellt einen Gegenstand oft bis zur Unkenntlichkeit), doch ist es nahezu unmöglich, sie zu ignorieren, anders als die allgemein anerkannte Projektion, die an eine Lüge grenzt, als eine nicht von innen heraus entwickelte, sondern von außen aufgezwungene Kategorie.

Wo zum Beispiel konnte man sonst so was zu hören bekommen, was Wadja ganz beiläufig einem neuen Bekannten erzählte. Dass in Gagra ein alter Mann, so ein gruseliger Typ – seine Hände sahen aus, als wären es nicht seine, schwarz wie Kohlen, gangränös, aber vollkommen biegsam, tödlich konnte er damit zupacken, mit zwei Fingern einem die Gurgel rausreißen – dass dieser Alte also, wohl ein Grieche, wer will das heute noch wissen, erzählt hätte, das Muttermal auf Gorbatschows Stirn wäre so lange gewachsen, bis es wie Russland aussah. Wenn man nämlich mal auf den Globus schauen würde, würden Maße und Form übereinstimmen, eins zu eins. Nur, als der Fleck ausgewachsen war, wäre es mit seiner Macht vorbei gewesen. Und wer ihm jetzt die Haut vom Schädel abziehen würde, der würde Russland in seine Gewalt bringen.

Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu:

»Viele wollten diesem Griechen, diesem Alten, die Hand küssen. Hab ich selbst gesehen. Er hat aber nicht alle gelassen, nicht alle waren seiner würdig. Doch wenn du sie ehrerbietig geküsst hast, dann wird nie im Leben etwas an dir verfaulen, als wärst du verzaubert.« Wadja machte den Mund auf und klackte mit dem Fingernagel gegen seinen abgebrochenen Schneidezahn.

»Hast du sie denn geküsst?«

»Nee. Wurde nichts draus. Der Alte hat mich nicht gelassen. Na ja«, seufzte Wadja.

Stumm, wie sie war, wäre Nadja allein auf sich gestellt zum Dahinvegetieren und schnellen Tod verdammt gewesen. Aber Wadjas Redseligkeit reichte locker für zwei.

VI

Seine Geschichte entsprang zwei Flussarmen: einem hauptstädtischen und einem südrussischen, vorbei an Bergen und Steppe. Den ersten Arm entlang floss Wadja, eingestimmt auf den jeweiligen Gesprächspartner, in voller Fahrt einer ungewissen Mündung entgegen: Ob nun als Sohn des Wärters im Neujungfrauenkloster zur Welt gekommen oder aber von dem dortigen Diakon als Waise aufgenommen – seine Mutter war jedenfalls verstorben. Er hatte eine zwanglose Kindheit gehabt, herrlich waren die Weite des Flusses, das Angeln und die Floßfahrten, die Eidechsen auf den warmen Steinen am Friedhof, die Nachtigallen im Flieder und in den Linden am Teich, die Laubhütten auf den Sperlingsbergen oder unter den Trägern der Metrobrücke am Andreas-Kloster; der Dämmerduft der Abende, das scheinheilig heruntergeleierte Gehaspel des Diakons während der Salbung bei der Taufe, das rote Gesicht des Popen, der alle ohne Ausnahme am Schlafittchen auf den rechten Weg zog, vom Milizionär bis zum Restaurator. Bald saß er zum ersten Mal ein: Er ging schon auf die Berufsfachschule für Autokranführer (der mennigrote Schriftzug IWANOVEZ auf dem dicken gelben Kranausleger, ein Gewirr von Hebeln im Fahrerhäuschen, welchen sollte man da nehmen?!). In der Nähe des Klosters lungerten immer Devisenschieber und Ikonendealer herum – die zahllosen ausländischen Touristengruppen (braungebrannte, johlende Hutzelmännchen, klapperdürre Omas mit lilafarbenen Pusteblumen über Ästuarien aus runzligem Lächeln) lockten die einen wie die anderen hierher. Sie köderten ihn, fragten: Wovon träumst du? Und stellten ein Motorrad in Aussicht. Wadja fackelte nicht lang und schleppte Ikonen raus. Der Diakon (oder Wärter) versuchte nicht, den Stiefsohn herauszuhauen, und ließ ihn gehen mit Gott. Er bekam fünf Jahre, war zahm, nach dreien wieder frei und lebte dann jenseits der Hundertkilometergrenze: in der Ortschaft Peski bei Woskresensk, Hilfsarbeiter in einer Zementmühle, Zerleger auf der städtischen Mülldeponie, einmal hätten ihn fast die Ratten zerfetzt, er harrte auf einem Bulldozer aus, Lagerprüfer in einem Stahlbetonwerk, überall wurde er entlassen, zog von Wohnheim zu Wohnheim, wurde auch von dort verjagt. So ging es dahin. Im Winter Gelegenheitsjobs als Maurer: Schweineställe, Kuhställe, Zäune. Im Sommer in südlichen Gefilden: In Gagra fügte er sich ins Tagelöhnern. Satt wurde man: Chasch, Lawasch und Tschatscha*, Körbe voller Weintrauben, das Hochland, die Sonne, das Meer (das er fürchtete wie eine Axt). Die Pässe nahm man ihnen ab, Arbeit gab es gegen Futter, Schlafen in der Scheune, nachts ließen sie die Hunde los: kein Weglaufen, kein Rauskommen. Zum Ende der Saison wurden sie – drei junge Tagelöhner – einmal zu Tisch gebeten, die Banja war schon eingeheizt. Der Hausherr trank viel, sehr viel, und bot ihnen seine Frau an. Die bediente bei Tisch, schwarzes Kopftuch, dürr, nicht mehr ganz jung. Ihre Züge versteinerten, der Blick verschloss sich dem Unvorstellbaren, sie gab keinen Laut von sich. Als sie ausgetrunken hatten, lief Koljanytsch ihr verlegen hinterher – und der Hausherr folgte den beiden anderen in die Scheune. Mit Gewehr. Ließ seine Hosen runter und legte an. Schwankte, hob den Kopf vom Kolben, der Mund stand offen, darin wälzte sich mühselig die dicke Zunge. Nur knapp gelang die Flucht. Ein Glück, dass ihn die Hose fesselte, er schoss und traf nicht, zerfetzte das Scheunendach, die Tür flog aus den Angeln. Dann ab die Post, im Dunkeln, durch die Schluchten, weg von den Hunden, bei Tagesanbruch landeten sie am Meer und trampten weiter bis Noworossijsk. So verlor Wadja seinen Pass. Dazu noch die Wirren der Perestroika, Flüchtlinge aus allen Ecken des Landes*. Sich neue Papiere zu besorgen, kam ihm nicht mal in den Sinn. Nur wenn ihm jemand an den Kragen wollte[19], war er fähig, etwas zu unternehmen und sich Gedanken zu machen. Und auch dann keine allzu großen.

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