„In anderen Worten hat er also nichts zu verstecken, wenn es ums Geld geht.“
„Sieht so aus. Er ist sauber, so weit wir das beurteilen können. Aber ich werde wahrscheinlich trotzdem einige der von ihm angegebenen Nummern anrufen, nur um sagen zu können, dass sie geprüft wurden.“
„Ich habe außerdem keinen Vermerk zu einem Vorstrafenregister in Ihren Akten gesehen“, fügte Rhodes hinzu.
„Ja. Beide Fairchilds haben saubere Akten. Nichts. Nicht mal ein Strafzettel für zu schnelles Fahren.“
Chloe schaute zu dem Aktenordner auf dem Tisch vor ihr und unterdrückte ein Stirnrunzeln. Der Fall schien sich bereits jetzt von den Morden durch Erwürgen im letzten Jahr zu unterscheiden. Aber es gab immer noch einen Todesfall, der ungelöst war.
Sie starrte die Akte an, so als würde sie sie zwingen wollen, ihr Antworten zu geben. Sie kannte den Inhalt der Akte fast auswendig; sie erzählte die Geschichte von Jessie Fairchilds Mord in Formularen, Berichten, Notizen und Tatortfotos.
Und für den Moment schien der Verlauf noch ein offenes Ende zu haben.
Kapitel sieben
Chloe hatte vergessen, wie produktiv Autofahrten mit einem Partner sein konnten. Sie verließen Falls Church um 20:42 Uhr und fuhren zurück nach DC, wobei sie die vierzig Minuten jedoch nutzten. Bevor sie Falls Church überhaupt verlassen hatten, hatte Rhodes es geschafft, einen Manager von Intel Security ans Telefon zu kriegen. Intel war das Unternehmen des Sicherheitssystems, welches die Fairchilds auf ihrem Grundstück installiert hatten. Chloe hörte der Unterhaltung zu, während sie durch die Nacht zurück nach Hause fuhr. Sie lächelte ab und zu, wenn sie erkannte, wie gut Rhodes im Umgang mit Menschen war. Chloe hatte bemerkt, dass Rhodes während der Ermittlungen nur dann eine Frage stellte, wenn sie eine gute parat hatte. Sie war nicht diejenige, die Hunderte von Fragen stellte und darauf hoffte, dass eine ins Schwarze traf. Sie verhielt sich am Telefon genauso, während sie mit Intel Security sprach. Sie war höflich und freundlich, aber sie redete nicht um den heißen Brei herum. Daher fiel es Chloe schwer, all die Informationen zu erhaschen, die sie erhielt, weil sie nur Rhodes’ kurze und sachliche Seite des Gesprächs hörte.
Wenige Minuten später, als das Gespräch vorbei war, berichtete ihr Rhodes den Rest. Dabei bemerkte Chloe eine weitere von Rhodes’ Stärken. Sie machte umfangreiche Notizen, die sie oft nicht einmal benötigte. Das Gedächtnis dieser Frau war wie ein Schließfach, wenn es um Details ging.
„Okay, der Herr, mit dem ich sprach, sagte, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass letzten Freitagmorgen ein Alarm ausgelöst wurde“, sagte Rhodes. „Er hat sich auch die Zeitleiste der Dateneinträge angeschaut und sagte, er könne nicht sehen, dass der Alarm überhaupt ausgeschaltet wurde. Er wurde zu keinem Zeitpunkt von den Fairchilds abgeschaltet.“
„Hat er Ihnen Einzelheiten darüber gegeben, wie das System funktioniert?“
„Ja. Der Alarm wird ausgelöst, wenn die Tür mit Gewalt geöffnet wird. Sie mit einem Schlüssel zu öffnen schaltet den Alarm automatisch ab. Wenn die Tür von innen geöffnet wird, wird er ebenfalls abgeschaltet. Außer, wenn jemand das Türschloss knackt oder die Tür eintritt, wird der Alarm zusätzlich nur dann ausgelöst, wenn die Tür für mehr als zwanzig Sekunden offensteht.“
„Gab es in den paar Wochen, die sie dort gewohnt haben, irgendwelche Vorfälle, zu denen der Alarm losging?“
„Er sagte, dass auf ihrem Benutzerkonto zwei Vermerke zu finden sind. Beide stammen aus der ersten Woche, in der sie dort wohnten. Intel ruft einen an, wenn der Alarm ausgelöst wird. Bei beiden Anrufen sagte Mark Fairchild, dass sie vergessen hatten, die Tür vollständig zu schließen, als sie während des Umzugs Kisten und Möbel hineinbrachten.“
„Wie sieht es mit Fenstern aus? Funktioniert der Alarm auch für die Fenster?“
„Dem zufolge, was mir gerade mitgeteilt wurde, muss das System deaktiviert werden, wenn ein Fenster von außen geöffnet wird. Sie gaben einen Frühjahrsputz als Beispiel – wenn Fenster und Rahmen gründlich gereinigt werden. Wenn jemand dies beabsichtige, dann sollte man den Alarm zunächst ausschalten.“
„Aber Sie sagen, dass es in der letzten Woche keine verdächtigen Auslöser eines Alarms gab, richtig?“
„Nicht einen einzigen.“
„Also in anderen Worten“, sagte Chloe, „wer auch immer Jessie Fairchild getötet hat, ist nicht eingebrochen. Er wurde hineingelassen.“
„So scheint es.“
Es wurde still im Auto, während sie beide darüber nachdachten. Chloe wusste, was sie als Nächstes tun mussten. Bisher war alles, was sie wirklich über Jessie Fairchild wussten, dass sie, seit sie und Mark nach Falls Church gezogen waren, überlegte, sich in lokalen Gruppen und Organisationen zu engagieren. Da sie neu in der Stadt waren, hatten weder sie noch Mark bis jetzt Freundschaften geschlossen – und das bedeutete, dass die meisten Leute, mit denen sie sprechen würden, unzulänglich wären.
Sie dachte jedoch auch über eine Frage nach, die früher gestellt worden war. Hatten die Fairchilds ihr Heim in Boston vielleicht verlassen, weil sie vor etwas davonrannten? Wenn die Ermittlungen sie zurück zum Leben der Fairchilds in Boston bringen würden, dann könnte dieser scheinbar einfache Mordfall deutlich komplizierter werden.
„Keine Freunde, keine Familie vor Ort“, sagte Rhodes, als sie sich DC näherten. „Eine Schwester in Boston, beide Eltern verstorben. Wenn uns der Mord nach Boston führt…“
Chloe lächelte, erfreut darüber, wie sie beide anfingen, in die gleiche Richtung und mit der gleichen Geschwindigkeit zu denken. „Gab es in der Akte nicht eine Notiz zu einem Verwandten von Mark? Jemandem, der direkt außerhalb von Falls Church lebt?“
„Ja, sein Onkel. Aber so, wie ich es verstehe, ist er auf einer Art Reise. Im Urlaub, glaube ich.“
Sie antwortete mit einer Art von Gelassenheit, die Chloe denken ließ, dass Rhodes genau so über diese potenzielle Spur dachte wie sie – das es sowieso zu nichts führen würde.
Als sie sich ihrem Haus näherten, erlaubte Chloe sich allmählich, in persönlichere Gedanken zu versinken. Sie dachte ernsthaft darüber nach, Danielle anzurufen und sich für ihr gestriges Verhalten zu entschuldigen. Solche Unterhaltungen mit Danielle führten jedoch in der Regel zu einer sehr langen Diskussion und dafür hatte sie gerade nicht die Geduld.
Sie kehrten zum Hauptquartier des Büros zurück, tauschten das Geschäftsauto gegen ihre eigenen und verabschiedeten sich voneinander. Chloe dachte erneut an Danielle, bevor sie losfuhr; sie überlegte sogar kurz, zu ihr zu fahren – zu einer Wohnung, die sie mietete, die zwanzig Minuten von hier entfernt lag und in die sie gezogen war, damit ihr Ex-Freund nicht wusste, wo sie nun wohnte. Schlussendlich entschied sie sich dagegen. Sie wusste, dass zwischen ihr und Danielle alles wieder in Ordnung kommen würden – manchmal dauerte es nur etwas länger, bis sie sich beide wieder entspannt hatten. Trotzdem… sie hatte noch eine Stunde Zeit, bevor sie schlafen gehen müsste. Und dadurch, dass die Dinge im Fairchild Fall bis morgen stillstanden, gab es nur noch eine weitere Sache, die sie tun konnte. Der Gedanke daran schien ihr Inneres aufzuwühlen und ihr wurde leicht schlecht. Der Impuls war jedoch da und sie reagierte fast sofort darauf. Sie fuhr los und bog in Richtung der Wohnung ihres Vaters ab.
* * *
Sie hatte nicht die Absicht, ihn tatsächlich zu sehen, geschweige denn mit ihm zu sprechen. Aber sie musste sich selbst beweisen, dass sie in der Lage war, an seinem Haus vorbeizufahren. Wenn sie ihn überprüfen wollte, dann würde es irgendwann sowieso passieren müssen, also sprang sie am besten sobald wie möglich über ihren Schatten.
Seine Wohnung befand sich weniger als eine halbe Stunde vom Hauptquartier entfernt und weniger als zwanzig Minuten von ihrer Wohnung, wenn man aus einer anderen Richtung kam. Es war 22:08 Uhr, als sie auf den Parkplatz fuhr. Sein Haus war weniger eine Wohnung als vielmehr ein Stadthaus… die Art von Reihenhaus, das direkt neben dem nächsten stand, wie in einem Wohnkomplex. Sie kannte das Auto, das er fuhr – ein abgenutzter Ford Focus – und es stand direkt vor seiner Wohnung geparkt. Das Licht im Wohnzimmer war an.
Sie hielt an, ohne zu parken, schaute auf das Licht und fragte sich, was er wohl gerade tat. Schaute er Fernsehen? Oder las er? Sie fragte sich, ob er Visionen aus seiner Vergangenheit hatte, wenn er das Licht ausschaltete, um sich bettfertig zu machen… von seinen Töchtern, seiner toten Frau. Sie fragte sich, ob die Folter und Qual, denen er sie alle ausgesetzt hatte, ihn manchmal nachts nicht schlafen ließen.
Das hoffte sie zumindest.
Wut stieg in ihr auf. Die Emotion durchströmte sie wie heiß injiziertes Gift, bis sie bemerkte, dass ihre Hände das Lenkrad so fest umklammerten, dass ihre Knöchel weiß wurden.
Vielleicht sollte ich einfach hineingehen, dachte sie. An seine Tür klopfen und es alles rauslassen. Ihn wissen lassen, dass ich weiß, was er getan hat… dass ich Moms Tagebuch gelesen habe…
Es war verlockend genug, sodass sie das Gefühl hatte, ihr Herz würde aus ihrer Brust springen. Ein angenehmer, kleiner Adrenalinstoß strömte in ihren Blutkreislauf, während sie darüber nachdachte.
Aber natürlich konnte sie nicht hineingehen. Noch nicht…
Chloe fand den nächstgelegenen freien Parkplatz und nutzte ihn, um zu wenden. Sie machte sich auf den Weg nach Hause und wurde sich erst an der nächsten Ampel darüber bewusst, dass sie das Lenkrad immer noch im Todesgriff umklammert hielt.
Kapitel acht
Es war für Danielle augenöffnend gewesen, festzustellen, dass sie wieder arbeitslos war, nachdem ihre letzte Beziehung geendet hatte. Der Kellnerinnen-Job und der zu-gut-um-wahr-zu-sein Traum, eine eigene Bar zu führen, hatten sie für ein paar Monate über Wasser gehalten, aber hier war sie nun wieder, ohne Mann und ohne jegliche Art von bedeutungsvollem Job.
Sie hatte immer gute Arbeit geleistet, wenn es darum ging, ihre Verachtung für einen Scheißjob zu verbergen, aber in diesem Fall war es besonders schwierig. Sie arbeitete als Barkeeperin in einem Strip-Club – allerdings war die Chefetage fest entschlossen, es nicht als „Strip-Club“ zu bezeichnen. Sie bevorzugten entweder nur „Club“ oder „Gentlemen’s Lounge“. Für Danielle war es egal, wie man es nannte. Tatsache war, dass sich gerade eine Frau auf der Bühne befand, die rhythmisch ihren Arsch vor dem Gesicht eines Mannes hin und her wackelte, wobei ein beschissenes Lied von Bruno Mars erklang. Sie stellte den Mojito fertig, den ein Kunde gerade bestellt hatte (im Ernst, wer bestellt einen Mojito in einem Strip-Club?) und reichte ihn ihm. Er war ungefähr fünfzig und als er das Getränk entgegennahm, bemühte er sich nicht, die Tatsache zu verbergen, dass er auf ihre Brüste starrte. Er lächelte sie an und nahm einen Schluck von seinem Cocktail, wobei sein Blick nie ihre Brüste verließ.
„Du solltest auf der Bühne stehen, weiß du das?“, sagte er. Endlich schaute er ihr in die Augen – vielleicht damit sie in seinem betrunkenen Blick sehen konnte, dass er es ernst meinte.
„Wow. Den hab ich noch nicht gehört. Was für ein einzigartiger Anmachspruch.“
Verwirrt lächelte der Mann sie schließlich verachtend an, entfernte sich von der Bar und setzte sich auf einen Platz näher an der Bühne.
Ja, es hatte mehr als ein Dutzend Kerle gegeben, die offensichtlich verblüfft waren, dass sie hinter der Bar und nicht auf der Bühne stand. Ihr Manager war einer von ihnen. Und obwohl Danielle in der Vergangenheit mehr als genügend erniedrigende Jobs ausgehalten hatte, zog sie eine Grenze, wenn es darum ging, ihre Kleidung für betrunkene Männer auszuziehen, damit diese ihr einen Fünfer in den Tanga stecken konnten.
Sie wusste, dass dies nur ein vorübergehender Job war. Das musste es sein. Sie wusste jedoch nicht, was sie tun würde, um hier herauszukommen. Vielleicht würde sie endlich das College abschließen. Sie hatte noch anderthalb Jahre vor sich… und obwohl sie fast dreißig sein würde, wenn sie ihren Abschluss machte, wäre es zumindest etwas.
Nicht, dass man die Vorteile dieses Berufs verachten sollte. Sie hatte den Job seit einem Monat und arbeitete vier Nächte pro Woche. In ihrer zweiten Woche hatte sie alleine in Trinkgeld mehr als siebenhundert Dollar verdient. Aber es war die Atmosphäre und das Gefühl des Clubs. Selbst wenn die Goth-Girls auftraten und zu Musik tanzten, die Danielle wirklich mochte, hatte sie das Bedürfnis, so schnell wie möglich hier rauszukommen.
Dazu kam die Tatsache, dass die Tänzerinnen, wenn sie an die Bar kamen oder sie ihnen hinter der Bühne begegnete, überraschenderweise gar nicht unglücklich aussahen. Und wenn sie sie dabei beobachtete, wie sie ihre Fünfziger und Hunderter zusammenfalteten, so als handle es sich um Taschentücher, war der Gedanke, auf der Bühne zu stehen, gar nicht so schlimm.
Das war mehr als alles andere ein Grund dafür, dass sie diesen Ort so schnell wie möglich verlassen wollte.
Sie schaute die Bar entlang und bemerkte, dass immer weniger Leute in der Menge waren. Es befanden sich fünf Leute an der Bar, von denen drei – ein Mann und zwei Frauen – sehr eng beisammen standen und dabei vermutlich Pläne für ihre Sonntagnacht schmiedeten. Danielle schaute auf ihre Uhr und stellte überrascht fest, dass es 23:50 Uhr war. Noch eine Stunde und sie würde Feierabend machen… sie konnte nach Hause gehen und bis mittags schlafen – etwas, das sie das letzte Jahr über vermisst hatte, da sie versucht hatte, eine verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden. Eine verantwortungsbewusste Erwachsene, die viel zu abhängig von einem Mann gewesen war, aber trotzdem eine verantwortungsbewusste Erwachsene.
Sie begann, die Tropfschalen unter den Zapfhähnen abzuwischen und die Schnapsflaschen zu zählen, um eine aktualisierte Bestandsliste für ihren Vorgesetzten zu erstellen. Sie war in der Mitte der Tequila-Reihe angekommen, als sie ihren Namen hinter sich hörte.
„Hey, Danielle.“
Es war eine Männerstimme. Sie versuchte, sie einzuordnen. Nur wenige Männer, die regelmäßig in diesen Club kamen, hatten sich die Mühe gemacht, sich an ihren Namen zu erinnern. Sie runzelte die Stirn, da sie nicht in der Stimmung für unbeschwertes Flirten war, auch wenn es ein ordentliches Trinkgeld bedeutete.
Sie drehte sich um, wobei sie ihr freundlichstes Gesicht aufsetzte. Ihr Gesichtsausdruck erstarrte, als sie den Mann sah, der an der Bar saß.
Es war ihr Vater. Er sah nicht nur fehl am Platz aus, wie er so vor ihr an der Bar saß – aber sein Anblick in einem Strip-Club fühlte sich unwirklich an. Zu seiner Verteidigung sah er jedoch unglaublich unbehaglich aus.
Das Wort Dad lag ihr auf der Zunge, sie schluckte es jedoch hinunter. Sie würde ihm nicht die Befriedigung geben, ihn das zu nennen. Stattdessen kam die Frage, die am nächsten lag, zuerst aus ihrem Mund.
„Was zum Teufel machst du hier?“
„Ich bin hergekommen, um dich zu sehen“, sagte er. Er beugte sich vor, als würde er versuchen, sich so weit er konnte, von den zwei Frauen, die ein paar Meter hinter ihm oben ohne auf der Bühne standen, zu entfernen.
„Lass mich dir noch eine Frage stellen“, sagte Danielle. „Woher wusstest du, dass ich hier arbeite?“