„Es wird alles gut gehen“, versicherte Ellington ihr, als er sie zur Tür brachte. „Meine Mutter ist absolut überwältigend, sie wird sich zu gut um Kevin kümmern. Und um mich. Gott, sie wird es genießen. Und vielleicht nie wieder gehen.“
„Das hilft nicht gerade.“
Ellington küsste sie auf den Mund. Es war ein Kuss, der noch länger auf ihren Lippen verweilte. Sie hatte sich in den letzten Monaten zu sehr daran gewöhnt. Manche würden sogar sagen, sie sei verwöhnt.
„Geh“, sagte er, während er ihr mit tiefgründiger Leidenschaft in die Augen sah. „Verlier dich für eine Weile in der Arbeit. Ich denke, das wird dir guttun. Wir werden hier sein, wenn du zurückkommst.“
Er gab ihr einen Klaps auf den Po, um die Ernsthaftigkeit seiner Stimme zu verdrängen. Sie liebten einander mit aller Kraft und das wussten sie. Aber keiner von beiden, und vor allem nicht Ellington, war je besonders gut darin gewesen, das auszudrücken.
Sie küssten einander noch ein letztes Mal und dann war Mackenzie im Flur und die Tür hinter ihr schloss sich. Sie hatte einen Rollkoffer bei sich, der klein genug war, um als Handgepäck durchzugehen. Sonst nichts. Langsam ging sie zum Fahrstuhl. Sie war mehr als bereit, zur Arbeit zurück zu kehren, aber vermisste ihre Familie jetzt schon.
* * *
Im Flugzeug versuchte sie, einen Film anzusehen, aber schlief, zu ihrer Überraschung, bereits nach fünfzehn Minuten ein. Als sie aufwachte, kündigte der Pilot gerade an, dass sie bereits im Landeanflug auf Seattle waren und sie hatte das Gefühl, man hätte ihr Zeit gestohlen. Auf der anderen Seite war sie sich nicht sicher, wann sie zum letzten Mal ein Nickerchen gemacht hatte. Obwohl sie sich in einem Flugzeug befand, war es angenehm gewesen.
Sie fragte sich, ob die Schuldgefühle, die das Nickerchen ausgelöst hatte, von ihren Gehirnbereichen Ehefrau, Mutter oder beiden zusammen getriggert worden waren.
Als das Flugzeug landete, war es 20.31 Uhr Ortszeit und der Himmel bewölkt. Ihr Flug war bereits in Washington DC um eine Stunde verspätet gewesen und ihre Ankunft in Seattle fand nun zu einer Uhrzeit statt, die sie dazu brachte, den Ermittlungsstart auf den nächsten Tag zu verschieben.
Sie sprach mit dem stellvertretenden Direktor des Regionalbüros, der sie tatsächlich anwies, sich direkt am nächsten Morgen mit einem Agenten am Tatort zu treffen. Ihr wurde der Name des Agenten – Ryan Webber – mitgeteilt und dann gefragt, ob sie alle aktuellen Informationen erhalten hatte. Sie bestätigte, die Unterlagen von Direktor McGrath in Washington in Empfang genommen zu haben. Als sie ihren Koffer auf die Rückbank des Mietwagens legte, waren sämtliche Formalitäten abgehakt.
Es war ein seltsames Gefühl, das sie nicht wirklich beschreiben konnte. Als sie den Wagen startete, überrollte sie eine Welle der Freiheit, die sie seit Kevins Geburt nicht mehr verspürt hatte. Sie realisierte, dass sie es wirklich schaffen und Familie und Karriere erfolgreich balancieren konnte. Sie war voller Aufregung (und vielleicht etwas Nervosität, aber nur von positiver Natur), den Fall anzupacken und störte sich sogar daran, bis zum Morgen warten zu müssen. Aber sie wünschte sich auch, Ellington bei sich zu haben. Sie nahm an, dass Tom Brady sich so fühlen musste, wenn er nicht von Bill Belichick trainiert wurde …
Guter Gott, Ellington färbt bereits auf mich ab, dachte sie und wischte den Vergleich weg. Aber sie konnte nicht anders, als zu lächeln.
Der Gedanke trieb sie an, schnell ins Motel zu kommen, um Ellington und Kevin über FaceTime anrufen zu können.
Doch vor allem musste sie auch damit beginnen, wie eine Agentin zu denken. Es fühlte sich ungeheuer komisch an, sich daran erinnern zu müssen. Auf dem Weg zum Parkplatz des Mietwagenverleihs hatte sie bereits die Unterlagen von McGrath durchgesehen und sich mit dem Büro in Seattle in Verbindung gesetzt.
Sie wusste auch, dass sie weitere Unterlagen zur Durchsicht bekommen hatte. McGrath und sein Assistent hatten ihr versprochen, ihr bis 18 Uhr Ostküstenzeit alles Wissenswerte per E-Mail zu schicken. Sie freute sich auf die Unterlagen, um sich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie sich am nächsten Tag mit dem zuständigen Agenten treffen würde. So besorgte sie sich die Einzelheiten eines Falles am liebsten: Unzensiert und unkommentiert.
Sie checkte knappe zehn Kilometer vom Flughafen in ein Motel ein und verlor keine Zeit. Noch bevor sie den Koffer auch nur geöffnet hatte, saß sie auf dem Bett, um Ellington anzurufen. Fast sofort antwortete er und sein Gesicht erfüllte den Bildschirm. Auch Kevin, der auf Ellingtons Schoss saß, was teilweise sichtbar. Kevin schien jedoch mehr daran interessiert zu sein, das Kinn seines Vaters zu erforschen.
„Hey Jungs“, sagte Mackenzie. „Ich habe es geschafft, ich bin in Seattle.“
„Gut“, sagte Ellington. „Ich werde den Kleinen bald ins Bett bringen. Er durfte heute etwas länger aufbleiben, damit er dich sehen kann, aber wie du siehst, hat er eine wichtige Angelegenheit mit meinem Kinn zu klären.“
„Kevin … hey Liebling.“
Langsam drehte sich ihr Sohn um und entdeckte ihr Gesicht auf dem Bildschirm. Sein kleiner Mund verwandelte sich in ein Lächeln und er klatschte gegen das Handy.
„Na endlich“, sagte Ellington. „Sag Gute Nacht zu Mommy.“
Die restlichen fünf Minuten der Unterhaltung waren, so Mackenzies Vermutung, die albernsten und lustigsten ihres Lebens. Doch am Ende des Anrufs fühlte sie sich gut, kraftvoll und bereit, den Fall in Angriff zu nehmen.
Mit dem Gedanken schaltete sie den Laptop ein und richtete sich einen kleinen Arbeitsplatz her. Sie bestellte chinesisches Essen, holte sich eine Soda aus dem Getränkeautomaten im Flur und verbrachte die nächsten Stunden damit, die Fallunterlagen zu studieren. Es gab nicht so viel wie erwartet, aber was sie las, war gerade dunkel genug, um den Regen draußen eine unheilvolle Aura zu geben.
Es gab zwei Opfer, die beide auf fast identische Weise umgebracht worden waren. Der größte Unterschied war, dass der jüngste Mord hier in Seattle stattgefunden hatte – der andere in Portland, Oregon. Die beiden Städte lagen weniger als drei Stunden voneinander entfernt, es war also nicht unmöglich, vor allem da vier Tage zwischen den beiden Fällen gelegen hatten.
Der jüngste Tatort befand sich in einem Parkhaus knapp zehn Kilometer von ihrem jetzigen Standort entfernt. Beim Opfer handelte es sich um die dreiundzwanzigjährige Sophie Torres, die Teilzeit als Kellnerin und als Model gearbeitet hatte. Erster Tatort war ein kleiner, öffentlicher Park in Portland gewesen. Das Opfer, Amy Hill, war in einem kleinen Brunnen gefunden worden. Sie war, wie Sophie Torres, mit einem harten Objekt im Gesicht getroffen worden. Es war zuerst unklar gewesen, ob die Schläge die Todesursache gewesen waren oder ob sie ertrunken war, da die Autopsie auch Anzeichen dafür lieferte.
Mackenzie machte sich einige Notizen, um Ähnlichkeiten und Unterschieden der Fälle festzuhalten. Es waren die Ähnlichkeiten, die am hervorstechendsten waren. Bei beiden Opfern handelte es sich um junge Frauen, die in den Augen der meisten Männer als gutaussehend betrachtet werden konnten. Sie waren beide ins Gesicht geschlagen worden, die Wunden und Blutergüsse ähnelten einander. Laut Fallakten nahmen die Forensiker an, dass in beiden Fällen ein Hammer verwendet worden war. Aufgrund der seltsamen Waffenwahl, dem Alter und dem Geschlecht der Opfer, wurden beide Morde als Arbeit derselben Person betrachtet.
Hätten sich die Morde in derselben Stadt zugetragen, würde auch Mackenzie keine Zweifel hegen. Aber die dreistündige Entfernung und die Tatsache, dass Sophie Torres direkt vor ihrem Wagen umgebracht worden war, riefen bei Mackenzie Fragen auf.
Als sie die verfügbaren Unterlagen gelesen und ihr Hähnchen Süß-Sauer samt Pepsi verschlungen hatte, wandte sie sich wieder ihren eigenen Notizen zu. Es gab nicht genug, um ein bedeutsames Profil zu erstellen, sie würde also am nächsten Tag tiefer graben müssen. Die E-Mail von McGrath verriet ihr, dass sie mit einem Agenten des Büros in Seattle zusammenarbeiten würde und ihn um acht Uhr am jüngsten Tatort treffen sollte. Obwohl ihr das nicht gefiel, hatte sie Verständnis dafür. Sie hoffe nur, mit jemandem zusammen zu arbeiten, der ihr gegenüber nicht stur oder aufsässig war, weil sie aus DC kam.
All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie sich entschied, Feierabend zu machen. Sie duschte und lag noch vor 23 Uhr im Bett. Doch ihr voller Kopf erlaubte es ihr nicht, vor Mitternacht einzuschlafen. Immer wieder glaubte sie, von Kevins Weinen geweckt zu werden, da dieser noch immer mindestens ein Mal pro Nacht gewickelt werden musste.
Doch das Hotelzimmer blieb ruhig und das einzige Geräusch stammte von dem prasselnden Regen draußen. Endlich nickte sie ein und die leere Betthälfte neben ihr irritierte sie nur ein bisschen. Ja, sie vermisste Ellington, aber sie glaubte, dass es gut war, sich hin und wieder etwas Raum zu gönnen. Als sie endlich einschlief, war es ein fester Schlaf und zum ersten Mal seit etwa acht Monaten schlief sie durch.
Kapitel vier
Mackenzie war erst einmal in Seattle gewesen und zwar für eine zweitägige Konferenz. Damals war es sonnig gewesen und der Himmel blau. Sie hatte geglaubt, dass das alte Klischee des immer verregneten Seattles unverhältnismäßig sei. Doch als sie an diesem Morgen aufwachte und kurz nach sieben Uhr das Motel verließ, war der Himmel wolkenverhangen und es regnete so leicht, dass es kaum als Nieselregen bezeichnet werden konnte. Doch die Luft fühlte sich nass an und eine dünne Schicht Nebel schien alles zu umgeben. Es war kein Problem, zu verstehen, warum eine Musikrichtung mit dem Namen Grunge aus einer Stadt wie dieser stammte.
Im Starbucks gegenüber holte sie sich einen Kaffee und fuhr dann zum Parkhaus, wo Sophie Torres ermordet worden war. Es befand sich in einem Teil der Stadt, der nicht vom Berufsverkehr verstopft war und, so vermutete sie, zwischen dem Gebiet um Downtown und der geschäftigeren Seite der Stadt beherbergt zu sein schien.
Als sie dort ankam, fuhr sie mit ihrem Wagen in die hintere Reihe der zweiten Parkebene – genau wie in den Fallunterlagen beschrieben. Sie erkannte einen schwarzen Crown Vic, der horizontal vor dem Parkplatz stand, um diesen abzusperren. Ein Mann stand an die Motorhaube gelehnt. Hin und wieder nippte er an seinem Kaffee, während er in die Leere starrte.
Mackenzie fand den nächstbesten Parkplatz und stieg aus. Der Mann drehte sich zu ihr, lächelte und drückte sich dann vom Wagen weg.
„Agent White?“, fragte er.
„Das bin ich“, sagte Mackenzie.
„Wie schön, dich kennen zu lernen. Ryan Webber, zu Diensten.“
Als sie sich mit Handschlag begrüßten, bemerkte Mackenzie, dass sein Lächeln sie etwas abschreckte. Sein Blick hielt ihr Gesicht fest und sein breites Grinsen erinnerte sie an Heath Ledgers Joker-Portrait. Webber schien Ende zwanzig zu sein, genau wie sie. Er wirkte geschniegelt, sein dunkles Haar passte zum Schnitt des Anzugs im FBI-Stil. Er war zurechtgemacht und spielte seine Agenten-Rolle gut. Ja, er schien das perfekte Abbild der männlichen Agenten zu sein, die man üblicherweise im Fernsehen zu sehen bekam.
„Sorry“, sagte Webber. „Ich sollte das vermutlich gleich loswerden: Ich bewundere dich unheimlich und verfolgte deine Karriere schon bevor du zum FBI gewechselt bist. Der Vogelscheuchen-Killer … alles. Ich hatte an der Akademie eine Gruppe von Freunden und … naja, du warst wie eine Art Rockstar für uns. Und als du zum FBI beordert wurdest, hatten wir auch das Gefühl, es schaffen zu können. Weißt du, was ich meine?“
Mackenzie spürte, wie sie rot wurde, aber sie kämpfte dagegen an. Manchmal vergaß sie, wie bekannt sie mit manchen ihren Fällen geworden war. Ganz zu schweigen von ihrem eher unorthodoxen Einstieg beim FBI, der definitiv bewundernswert war.
„Nun, das weiß ich zu schätzen. Und ja, ich hatte großes Glück. Aber das ist alles Schnee von gestern. Heute bin ich wie jeder andere Agent. Dieselbe Arbeitsmenge, dieselben Regeln, dasselbe Leben. Verheiratet, ein Kind.“
„Wow. Du hast Kinder?“ Er schien es kaum glauben zu können. Mackenzie war sich nicht sicher, warum er wie ein Kind aussah, der gerade die Wahrheit über den Weihnachtsmann herausgefunden hatte.
„Bisher nur das eine.“ Die Unterhaltung schien eine seltsame Richtung anzunehmen, also sah sie an ihm vorbei zum Parkplatz. „Ist das der Tatort?“
„Genau“, sagte er. „Hast du Zugang zu allen Fallakten bekommen?“
„Das habe ich“, antwortete sie.
Webber öffnete die Fahrertür seines Wagens und zog ein iPad aus der Mittelkonsole. Er öffnete die digitalen Kopien der Unterlagen – dieselben, die Mackenzie am Abend zuvor gelesen hatte – und ging auf den Parkplatz zu.
„Gibt es Neuigkeiten? Oder vergrabene Infos, die die offiziellen Akten nicht beinhalteten?“, fragte Mackenzie.
„Nun, ich weiß, dass die Akten indizieren, dass sie vermutlich nicht ausgeraubt wurde. Wir haben jetzt die Info, dass das definitiv nicht der Fall war. Wir haben ihre Bankkonten und Kreditkarten durchleuchtet, um sicherzugehen, dass in ihrer Handtasche nichts fehlte. Es hat außerdem keine Geldabhebungen oder anderweitig verdächtigen Aktivitäten bezüglich ihrer Sozialversicherungsnummer oder anderen Kontoinformationen gegeben. Wenn sie also ausgeraubt worden war, hält der Killer an seinem Diebstahl fest.“
„Genau wie in Portland?“
„Scheint so“, sagte Webber. „Es gab keine Anzeichen dafür, dass Amy Hill etwas abhandengekommen ist und auch ihre Kontodaten sind unverdächtig.“
„Hattest du bereits die Möglichkeit, dir die Leiche anzusehen?“
„Nein, noch nicht. Wir haben erst gestern spätnachmittags das Okay vom Gerichtsmediziner gekriegt. Aber ich denke, dass uns die Fotos vom Tatort alles sagen, was wir wissen müssen.“
„Ja. Und ich denke, dass die Vermutung stimmt, dass ein Hammer als Tatwaffe verwendet wurde.“
„Ah, aber es gibt nun Beweise, dass das erste Opfer mit einem Eichenast angegriffen wurde.“
„Das klingt … wahllos.“
„Das dachte ich auch. Aber die Beweise sind da. Risse in der Haut, die beim zweiten Opfer nicht zu erkennen sind und Holzspuren in den Wunden, die sich als Eiche herausstellten. Oh, hey – gestern Abend haben wir eine Überwachungskamera gefunden, eineinhalb Häuserblöcke weiter, die eine vermummte Person bei der Verfolgung unseres Opfers zeigt. Ich habe einen Blick auf die Aufnahmen geworfen und sie geben leider nicht viel her. Eine Person in einer Regenjacke mit Mütze bekleidet, die Ms. Torres von ihrem Arbeitsplatz, dem Imbiss, bis hierher zum Parkhaus gefolgt ist. Was mich angeht, gibt es keinen Zweifel, dass es sich bei der vermummten Person um den Mörder handelt, aber das Video gibt nicht mehr her als die verdammte Regenjacke.“
Mackenzie war leicht irritiert, dass all diese Informationen in den Unterlagen, die sie erhalten hatte, fehlten. Aber ihr war bewusst, dass das Büro nichts für spontan entdeckte Fakten konnte.
„Wer hat die Aufnahmen gemacht?“