Plötzlich hatte Oliver einen Geistesblitz und ihm wurde klar, dass er dieses Zitat bereits kannte. Er fühlte ein seltsames Rattern in seinem Kopf, als würden sich darin kleine Rädchen drehen. Dann wurde ihm klar, woher er das Zitat kannte. Es stammte von Leonardo da Vinci. Und Oliver hatte nicht die Erinnerung an ein Buch oder eine mitgehörte Unterhaltung abgerufen – die Erinnerung war seinem eigenen Verstand entsprungen. Sein ratternder Kopf hatte Leonardo da Vincis Wissen abgerufen, ein Wissen, das Oliver bei seiner letzten Mission in Italien eingepflanzt worden war.
Der Schock saß tief. Im großen Chaos, das mit Esthers Rettung und dem erneuten Sprung in ein Portal einhergegangen war, hatte Oliver ganz vergessen, dass er nun Zugriff auf Leonardos Erinnerungen hatte. Er besaß nicht nur Signora Morettis unglaublichen Seher-Kräfte, die nun tief in den grauen Zellen seines Verstandes schlummerten. Nein, er besaß außerdem auch die Kräfte und die Intelligenz von niemand geringerem als Leonardo da Vinci! Und genau wie die Sprachfähigkeiten von Moretti in dem Moment erschienen waren, als er sie benötigte, präsentierte sich ihm nun auch Leonardos Gedankengut. Er fragte sich, welch andere Fähigkeiten er außerdem erworben hatte, in welchen Umständen er auf sie zugreifen konnte und in welcher Situation er sie benötigen würde. Italienisch sprechen zu können würde ihnen bei ihrem Aufenthalt in Italien mit Sicherheit von Nutzen sein.
Oliver konzentrierte sich wieder auf den jungen Galileo, der vor ihm auf der Tribüne stand. Oliver nahm an, dass er sich vermutlich in seinen frühen Zwanzigern befand. Sicherlich würde er die meisten, wenn nicht sogar alle, seiner großen Entdeckungen erst später machen. Oliver erinnerte sich an ein Kapitel in seinem Erfinderbuch. Galileo war demnach bereits um die vierzig Jahre alt gewesen, als er am Fallgesetz und den parabelförmigen Flugbahnen arbeitete und Mechanik, Bewegung, Pendel sowie andere mathematische Formeln untersuchte. In seinen Fünfzigern dann hatte er seine großen astronomischen Entdeckungen gemacht, Berge auf dem Mond und die Monde des Jupiters entdeckt. Schließlich hatte er die langgeglaubte Einstellung herausgefordert, dass die Erde das Zentrum des Universums sei und war dadurch in die Ungnade der Kirche gefallen.
Oliver durchkämmte seine Erinnerungen und versuchte, herausfinden, womit sich der junge Galileo in seinen Zwanzigern beschäftigt hatte. Es musste für ihn eine verlorene Zeit gewesen sein. Er verließ die Universität von Pisa ohne Abschluss, nachdem er zwischen Medizin, Mathematik und Philosophie hin und hergesprungen war. Oliver fragte sich, warum Professor Amethyst sie zu dem Galileo dieser Zeit geschickt hatte, bevor dieser auch nur eine wichtige Entdeckung gemacht hatte.
Oliver, Ralph und Hazel rutschten in die letzte Bankreihe. Als Galileo mit seiner Vorlesung begann, lehnte sich Ralph zu Oliver hinüber.
„Ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt.“
„Es ist Italienisch“, flüsterte Oliver zurück.
Ralph verschränkte die Arme. Hazel schmollte.
„Wie unfair“, sagte sie. „Ich würde nur zu gerne wissen, was er sagt. Kannst du übersetzen?“
Aber Oliver forderte sie auf, still zu sein. „Ich kann nicht übersetzen, wenn ich nicht verstehe, was er sagt.“
Hazel verzog ihr Gesicht und ließ sich zurückfallen, während sie ihre Arme auf dieselbe Weise verschränkte wie Ralph. Oliver hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie sich eine Stunde einer vermutlich unglaublich faszinierenden Vorlesung anhören mussten, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen.
„Wie wir hier sehen können“, sagte Galileo und zeigte auf das Gemälde einer Frau, die ein blau-rotes Kleid trug und ein kleines Wesen in den Händen hielt, „wurde die Figur diagonal im Raum positioniert. Ihr Kopf dreht sich in Richtung der linken Schulter, die dem Betrachter am nächsten ist. Dadurch bleibt die Rückseite ihres Kopfes sowie die rechte Schulter im Schatten. Zur selben Zeit ruht ihre rechte Hand auf der Flanke des Hermelins. Das Hermelin, sowie ihre Nase, ihr Gesicht und ihre linke Schulter werden beleuchtet. Der Künstler vermittelt also den Eindruck der Lichtstreuung. Wir nehmen dadurch Distanz und Position in Relation zum Licht wahr.“
Dame mit dem Hermelin, dachte Oliver. Der Name des Gemäldes tauchte urplötzlich in seinem Kopf auf.
Hazel beugte sich zu Oliver. „Das ist ein Gemälde von da Vinci“, sagte sie.
Natürlich.
Und wieder hatte er eine Erinnerung abgerufen, die zu denen gehörte, die da Vinci in seinem Verstand verankert hatte. Doch dieses Mal fühlte sich die Erinnerung instinktiver an, als ob sie nicht nur aus Information, sondern auch aus Gefühl bestünde. Melancholie pochte in Olivers Brust, als ihm bewusst wurde, dass der Mann, dessen Wissen, Erinnerung und Emotion er in sich trug, in dieser Zeit bereits verstorben war. Und obwohl Oliver wusste, dass alles gleichzeitig passierte, dass Zeit nicht linear war, machte es ihn dennoch traurig, als er daran dachte, dass der brillante Leonardo in diesem Moment der Geschichte nicht unter ihnen weilte. Sein geniales Gehirn lebte nur in den Nischen von Olivers Verstand.
Eine Hand auf seiner brachte Oliver zurück in die Wirklichkeit. Er sah zur Seite und blickte in Hazels ernste, graue Augen.
„Machst du dir Sorgen um Esther?“, flüsterte sie mit weicher Stimme.
Oliver lachte traurig. „Jetzt schon.“
„Ups, tut mir leid“, antwortete Hazel, als sie ihren Fehler bemerkte. Sie runzelte die Stirn. „Woran hast du dann gedacht? Du sahst furchtbar aus.“
Oliver verzog den Mund. Er wollte Hazel nicht belasten, aber er wusste auch, dass es ihm auf lange Sicht nicht guttun würde, dieses Geheimnis für sich zu behalten.
„Da Vinci“, sagte er und versuchte, so leise wie möglich zu sein, um die konzentrierten Studenten um sie herum nicht zu stören. „Ich kann ihn fühlen.“ Er klopfte gegen seinen Kopf. „Hier oben.“
Hazels Augen wurden groß. „Du meinst, sein Wissen?“
„Sein Wissen. Seine Erinnerungen.“ Oliver bewegte seine Hand, sodass seine Finger über seinem Herzen ruhten. „Seine Gefühle.“
„Große Güte“, antwortete Hazel schockiert.
Da beugte auch Ralph sich zu ihnen. „Worüber redet ihr?“, fragte er wesentlich lauter, als die beiden anderen es gewesen waren.
Mehrere Schüler, die auf der Bank vor ihnen saßen, drehen sich wütend um und hielten die Finger auf die Lippen. „Psst!“
Ralph wurde rot vor Scham und versank in seinem Sitz. Er verschränkte die Arme und wirkte leicht angesäuert, weil er nicht in das Geheimnis eingeweiht worden war.
Die drei Freunde blieben für die ganze Vorlesung. Hazel saß aufrecht und neugierig da. Ralph dagegen war unglaublich gelangweilt. Einmal war er kurz davor, einzuschlafen.
Oliver selbst durchlebte verschiedene Sinneswahrnehmungen. Gedanken und Emotionen, die Leonardo gehörten, zupften an ihm, als Galileo die Theorie der Perspektive in der Kunst diskutierte. Es war mehr als seltsam und Oliver atmete erleichtert auf, als die Vorlesung endlich vorbei war.
Als die Studenten den Raum verließen, gingen die Kinder in die gegenteilige Richtung: die Stufen hinunter und auf Galileo zu.
„Verzeihung“, sagte Oliver, dem die italienische Sprache problemlos über die Lippen kam. „Signor Galilei?“
„Seid ihr nicht ein bisschen zu jung für meinen Unterricht?“, sagte Galileo und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß.
„Wir sind nicht in Ihrer Klasse“, erklärte Oliver ihm. „Wir sind Seher.“
Er hatte entschieden, sofort zum Punkt zu kommen. Professor Amethyst hatte sie aus gutem Grund an diesen Ort und in diese Zeit geschickt und jeder große Erfinder, den sie auf vorherigen Missionen bereits getroffen hatten, war entweder ein Seher gewesen oder hatte zumindest von ihnen gewusst. Es machte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden.
Er sah, wie die Augen des jungen Mannes wissend flackerten. Doch Galileo spielte dumm.
„Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet“, sagte er und sammelte seine Papiere zusammen.
„Ich denke, das tun Sie“, forschte Oliver weiter. „Wir wurden nach Florenz geschickt. Von Professor Amethyst. Vielleicht kennen Sie ihn? Er leitet die Schule für Seher. Wir haben den Auftrag, das Feuerzepter zu finden. Haben sie zufällig davon gehört?“
Galileo schob seine Dokumente nun so eilig in seine Tasche, dass Oliver klar war, dass er etwas wusste. Etwas, das er aus unbekannten Gründen nicht besprechen wollte.
„Noch nie davon gehört“, behauptete er und sah Oliver nicht länger in die Augen.
Oliver hatte die starke Vermutung, dass Galileo ihn anlog, auch wenn er nicht verstand, warum. Vielleicht war er kein Seher. Doch er hatte etwas Ungewöhnliches an sich.
Oliver entschied sich dafür, kühn zu sein. „Wir kommen aus der Zukunft“, sagte er.
„Ach tatsächlich?“, sagte Galileo. Er hielt inne. „Dann erzählt mir von etwas, das noch nicht erfunden wurde, um es zu beweisen.“
Oliver zögerte. Er wusste, wie hauchdünn das Gleichgewicht war. Wie vorsichtig sie sein mussten, um die Balance nicht zu stören. Dass ein kleiner Fehler katastrophale Auswirkungen haben konnte.
„Das kann ich nicht“, sagte er.
„Ha“, antwortete Galileo. „Wie ich es mir gedacht habe. Ihr lügt.“
„Das tun wir nicht“, sagte Oliver. „Fordern Sie mich zu etwas anderem heraus. Stellen Sie mir eine Frage, die nur Leonardo da Vinci beantworten könnte.“
Hazel zupfte ihn an seinem Ellbogen. „Oliver, was tust du?“
„Keine Sorge. Ich habe alles unter Kontrolle“, sagte Oliver aus dem Mundwinkel heraus.
„Okay“, sagte Galileo und klopfte sich nachdenklich ans Kinn. „Der Herzog von Valeninois hat bei da Vinci eine Karte der Stadt von Imola in Auftrag gegeben. Wann war das?“
Oliver durchkämmte seinen Verstand nach da Vincis Erinnerungen. „1502“, sagte er.
Galileo runzelte die Stirn. „Glückstreffer.“
„Fragen Sie mich etwas anderes“, forderte Oliver. „Und ich werde beweisen, dass es nicht geraten war.“
„Okay“, sagte Galileo. „Vielleicht eine Frage zur Geometrie. Erzähle mir von den fünf Konzepten.“ Er grinste hinterlistig, da er davon ausging, dass Oliver auf keinen Fall dazu im Stande war, diese Frage korrekt zu beantworten.
Wieder zapfte Oliver den Teil seines Verstandes an, der ihm von da Vinci geschenkt worden war. „Punkt, Linie, Winkel, Fläche und Körper.“
Galileo sah erstaunt, aber auch beeindruckt aus. „Und was ist am Punkt so besonders?“
„Na“, sagte Oliver, „er hat weder Höhe noch Breite, Länge oder Tiefe, weshalb er als unteilbar kategorisiert wird. Er nimmt im Raum keine Dimension ein.“
Er zitierte nun da Vinci selbst, während er die exakten Worte des Erfinders aus seinem Verstand herauskramte. Hazel wirkte vollkommen fassungslos. Ralph dagegen schien es etwas besorgniserregend zu finden, dass Oliver auf so viel Wissen zugreifen und dieses jederzeit anzapfen konnte.
Doch darum ging es nicht, dachte Oliver. Er sah Galileo an, um zu erkennen, ob er den Mann überzeugt hatte. Dieser schien die drei Kinder genaustens zu betrachten.
Endlich sah Galileo Oliver in die Augen. „Und warum wolltet ihr mich sehen?“
„Wir sind Seher“, sagte Oliver. „Aus der Zukunft. Wir glauben, dass Sie uns dabei helfen können, das sogenannte Feuerzepter zu finden.“
Galileo hielt für einen Moment inne und verzog die Augenbrauen. „Vielleicht solltet ihr mit mir mitkommen“, sagte er.
Kapitel acht
Professor Amethyst stand in der bebenden Schule. Sie war vollständig evakuiert, nur er war noch da. Aber er konnte nicht einfach fliehen. In der sechsten Dimension befanden sich unzählige Schriftrollen, Bücher, Artefakte und Waffen. Bevor auch er der Schule den Rücken kehren konnte, musste er den Raum sichern und alles wegschließen. Wenn die Sehertechnologien in falsche Hände gerieten, könnte das das Ende der Welt bedeuten.
Es gab jedoch ein großes Problem. Professor Amethyst hatte nahezu all seine Kräfte aufgebraucht. Erst hatte er das Wurmloch im Kapok-Baum heraufbeschworen, durch das seine Belegschaft und die Schüler evakuiert wurden. Dann kreierte er das zweite Portal für Oliver Blue und seine Freunde, projizierte schließlich seine Stimme durch die Vortexe der Zeit und teilte das Portal in zwei Tunnel. Der alte Mann war erschöpft. Und weil die gewaltigen Beben die Schule zum Einsturz brachten, war auch der Aufzug – mit Überschallgeschwindigkeit, genau wie er ihn erfunden hatte – kaputt. Professor Amethyst, der es gewohnt war, innerhalb von Sekunden durch die fünfzig Stockwerke zu sausen, musste die Treppe nehmen. Er musste alle fünfzig Stockwerke besteigen, um die sechste Dimension zu erreichen. Er hatte keine Ahnung, wie seine zerbrechlichen, alten Knie diese Herausforderung überstehen sollten. Aber er hatte keine Wahl. Er musste sicherstellen, dass keine der Waffen oder Erfindungen jemals in die Welt gelangen konnten.
Er begann seinen Aufstieg. Er hatte es lediglich auf den Treppenabsatz des ersten Stockwerks geschafft, als er einen furchtbaren Lärm aus dem Foyer unter ihm hörte.
Professor Amethyst eilte zum Balkon und spähte nach unten ins Hauptatrium. Viele der Äste des Kapok-Baums waren bereits zerstört, genau wie die Verbindungsgänge, die sie gestützt hatten. Der Boden war voller Schutt. Doch dort, zwischen den Klumpen aus Putz und Beton und dicken Ästen, sah Professor Amethyst ein glühendes, flackerndes Licht.
„Ein Portal“, sagte er laut.
Er wusste, was das bedeutete. Es existierten nur einige wenige Seher, die diese Kraft besaßen. Und er konnte nur an eine Person denken, die in die Schule einbrechen wollte.
Und so war es. Das Portal wurde immer grösser, bis es weit genug war, damit eine Schülerschar herausklettern konnte. Sie alle trugen die unverwechselbare schwarze Uniform von Madame Obsidians Schule für Seher.
Professor Amethysts Augen wurden schmal vor Wut. Magdalena Obsidian war einst, vor vielen Jahren, seine beste Schülerin gewesen. Ihr Verstand war mächtig und grenzenlos. Ein Verstand, der seinem eigenen Konkurrenz machte. Eine Intelligenz, die ihresgleichen nur in Newton fand. In da Vinci. In Oliver Blue. Er hatte die junge Seherin fördern wollen, doch die Missionen, auf die er sie geschickt hatte, sorgten dafür, dass ihr Verstand explodierte. Sie wollte mehr. Mehr Wissen, mehr Zugriff, mehr Artefakte. Und sie wollte das Wissen der Zukunft auf die Vergangenheit anwenden.
Zuerst war ihr Vorhaben bewundernswert gewesen. Sie wollte die Voraussicht der Zukunft nutzen, um der Menschheit die Fehler der Vergangenheit zu ersparen. Fast jeder junge Seher, den Professor Amethyst unterrichtet hatte, stellte ihm dieselbe Frage: „Warum können wir die Vergangenheit nicht ändern?“ Aber während die meisten jungen Seher die Pflicht der Seher akzeptierten, der Führung des Universums zu folgen und die Risse und Kluften in der richtigen Reihenfolge zu reparieren, hatte Magdalena Obsidian sich geweigert. In ihrem idealisierten Verstand sollten Ereignisse neu geschrieben werden – ob das Universum es so entschieden hatte oder nicht.
„Die Aufgabe eines Sehers ist es, die Welt auf den Pfad der geringsten Zerstörung zu leiten“, erinnerte sich Amethyst daran, ihr einst in seinem Buero erzählt zu haben. Sie hatten an seinem Kamin gesessen, sie war lediglich zwölf Jahre alt gewesen. „Wir können Hitler nicht auslöschen, aber wir können ihn davon abhalten, eine Atombombe in seinen Besitz zu bringen. Wir können die großen Weltkriege nicht stoppen, aber wir können die Verluste minimieren.“