„Welche Richtung?“, fragte Bolis und Royce zeigte in die Ferne. Es gab nur eine mögliche Richtung für einen provisorischen Untersatz wie ihren.
„Zurück zu den Inseln“, sagte er.
„Und dem Monster“, fügte Mark hinzu.
„Vielleicht haben wir Glück und kommen unbemerkt an ihm vorbei“, sagte Royce.
„Vielleicht hat es sich schon satt gefressen“, sagte Neave und ihrem Blick zu Folge hoffte sie, dass alle auf dem Schiff Teil der Mahlzeit geworden waren.
Royce wusste nicht, wie wahrscheinlich das war, doch es schien keinen anderen Weg zu geben; sie mussten versuchen, wieder zu den Inseln zu gelangen.
„Lasst uns gemeinsam rudern“, sagte er. „Bereit?“
Sie paddelten das Floß in Richtung der Inseln. Alle halfen mit, sogar Mathilde. Aber auch mit der Hilfe von allen war es schwierig, denn ihre Ruder waren nicht für den Zweck geeignet und die Wellen versuchten, sie immer weiter auf die hohe See zu ziehen. Royce wusste, dass das nicht passieren durfte. Da draußen würden sie entweder absinken, verdursten oder einer anderen Kreatur aus der Tiefe zum Opfer fallen. Ihre einzige Chance war an Land.
„Rudert stärker“, reif Royce und versuchte sie anzufeuern. „Wir machen Fortschritte.“
Das taten sie, aber nur langsam. Blickte er durch Embers Augen, so waren sie nur ein kleiner Punkt auf dem gigantischen Ozean. Der kleine Punkt bewegte sich in Richtung der Inseln, wenn auch kaum schneller, als er durch die Gezeiten bewegt worden wäre. Dennoch waren sie auf dem Weg und kamen immer näher an den Nebel und die Felsen und die restlichen Gefahren heran.
„Wir sind fast da“, sagte Mark und klang hoffnungsvoll. Aus der Vogelperspektive durch Embers Augen konnte Royce immer noch das zerklüftete Labyrinth sehen, das die Inseln umgab. Die wirbelnden Fluten wirkten festentschlossen, jedes Schiff zu verschlingen, das ihnen zu nahe kam.
Die erste Insel hatte eine sandige Küste, doch die Stränge waren umringt von Steinen und Riffen, mit einer Flut, die zu schnell hereinkam. Nachdem er alles gesehen hatte, dachte Royce, dass es wohl besser war, zu einer anderen Insel zu rudern und die erste komplett auszulassen, trotz der Gefahr, in der sie sich befanden.
Dann heulte Gwylim auf und seine lange, tiefe Warnung beunruhigte Royce. Er holte Ember zurück zu ihrem Floß und nutzte ihren Blick, um die Situation von oben zu begutachten. Jetzt konnte Royce einen Schatten im Wasser sehen, der auf sie zu kam…
„Das Monster!“, schrie er auf und kam wieder in seinen eigenen Verstand zurück, als das Biest aus dem Wasser stieg. Sein Körper wand sich wie ein Aal mit messerscharfen Flossen und seine Zähne leuchteten in der Sonne.
Direkte neben dem Floß ließ es sich ins Wasser fallen und die Welle traf sie so hart, dass das kleine Gefährt beinahe umkippte. Ein Teil von Royce vermutete, dass die Kreatur genau diese Absicht hatte; vielleicht hatte es herausgefunden, dass man die Menschen einfacher fressen konnte, sobald sie im Wasser waren.
Er zog sein Kristallschwert, denn er wusste nicht, was er sonst tun sollte.
Die Kreatur bäumte sich erneut im Wasser auf und Royce schlug nach ihr. Er konnte sie nur streifen, während sie über ihm thronte und nun blickte sie zu ihm herab, als wollte sie herausfinden, woher der plötzliche Schmerz kam. Mit knirschendem Kiefer ließ sie sich auf Royce herunter und er sprang soweit zurück, wie es das Floß erlaubte, während er zuschlug. Gwylim war an seiner Seite, sprang auf das Biest zu und verbiss sich in ihm.
Es griff erneut an und Royce wurde mit der enormen Kraft seiner Flossen weggeschleudert. Ohne die Rüstung wäre er wohl in zwei Stücke gerissen worden, aber auch so zwang ihn der Angriff in die Knie und raubte ihm den Atem.
Die Kreatur holte erneut aus und Royce wusste, dass er diesmal keine Chance hatte auszuweichen.
Dann war Bolis bei ihm und hielt seinen improvisierten Speer bereit. Er warf ihn wie eine Harpune auf einen Wal und zielte auf den Kopf der Bestie. Er traf die Seeschlage in einem ihrer massiven Augen und sie gab einen lauten Schrei von sich, der über den Ozean hallte. Als Reaktion darauf schlug sie auf Bolis ein und katapultierte ihn vom Floß.
Zu Royces Überraschung warf sich Neave auf den Boden, streckte ihm den Arm entgegen und versuchte ihn wieder auf ihr provisorisches Boot zu hieven.
Mark eilte ebenfalls zu den beiden und sie konnten den blutenden Ritter gerade noch aus dem Wasser ziehen, bevor das große Gebiss unter ihm hervorschoss. Royce kam herüber und stach mit seinem Kristallschwert wieder und wieder auf die Bestie ein, bis weiteres Blut floss.
Es war nicht genug; die Seeschlange war einfach zu groß, um mit ein paar Hieben getötet zu werden, selbst mit einem Schwert wie seinem.
Nun tauchte sie unter und Royce konnte sehen, wie sie sich zurückzog. Die Windungen ihres Körpers formten gleichmäßige Wölbungen im Wasser, als sie von Welle zu Welle schwamm.
„Das Biest flüchtet“, keuchte Bolis, der auf die Wunden an seiner Brust drückte.
Royce schüttelte den Kopf. „Es wird nicht so einfach aufgeben.“
„Aber es zieht sich zurück“, erwiderte der Ritter. „Wir haben gekämpft und es verwundet und nun sucht es sich eine leichtere Beute.“
„Royce schüttelte den Kopf. „Hier gibt es keine andere Beute und wir haben es nicht so stark verletzt. Es läuft nicht davon; es tankt nur neue Kräfte.“
Und tatsächlich sah Royce, wie sich das Biest umdrehte und aus der Ferne wieder in ihre Richtung kam.
„Rudert!“, sagte Royce. „Unsere einzige Chance ist zu rudern!“
Er schob das Kristallschwert in seine Halterung, griff nach dem Ruder und begann zum Ufer der ersten Insel zu paddeln. Jetzt war es ihm egal, ob sie von der Strömung mitgerissen werden würden. Die anderen rund um ihn schienen die Botschaft zu verstehen und ruderten um ihr Leben, egal wie verletzt sie waren.
Royce spürte den Moment, in dem die Strömung ihr Floß aufnahm und sie in Richtung des Ufers zog. Hinter ihnen brach der Kopf der Seeschlange durch die Wasseroberfläche und riss sein Maul weit auf, bereit sie zu verschlingen.
Er blickte durch Embers Augen herab und entdeckte einen Freiraum zwischen den Felsen, der von oben offensichtlich war, vom Floss aus jedoch von den Wellen verdeckt wurde. Royce deutete darauf.
„Rechts!“
Alle gaben ihr Bestes und sandten das Floß nach rechts, während die Strömung es nach vorne zog. Sie umschifften die Steine haarscharf und Royce spähte zurück. Die Seeschlange hatte sich in ihnen verfangen und wand sich zwischen den Felsen heraus, bevor sie umdrehte und wieder in der Tiefe verschwand.
In der Zwischenzeit sah sich Royce nach weiteren Steinen um. Sie waren bereits so nahe an der Insel, dass es keine Hoffnung mehr gab, irgendwo anders hinzugehen, und die Strömung zog sie unaufhaltsam voran. Ihre einzige Chance war es, den Felsen so gut es ging auszuweichen.
„Links!“, rief Royce.
Sie vergruben ihre Ruder in den Fluten und schafften es, weitere Felsen zu umschiffen, doch nun lag das Riff vor ihnen und Royce sah keinen Weg daran vorbei.
„Haltet euch fest!“, rief er den anderen zu und sah, wie sie sich am Floss anhielten, bevor sie auf die ersten Spitzen am Untergrund aufschlugen. Royce wurde vorwärts geschleudert und bereits zum zweiten Mal befand er sich heute im Wasser und kämpfte damit zu schwimmen.
Mark hatte recht gehabt, was die Rüstung betraf – es sollte unmöglich sein, darin zu schwimmen, und doch erschien es nicht schwieriger als in normaler Kleidung. Er schwamm an die Oberfläche und schaffte es, sie zu durchbrechen, während ihn die Strömung weiterzog.
Der Ozean spuckte sie mit einer enormen Gewalt an Land und Royce sah den Sand auf sich zukommen, als ihn eine weitere Welle an den Strand spülte. Sie ließ ihn dort zurück und er ächzte unter Schmerzen, konnte jedoch die anderen am Sand liegen sehen. Bolis und Mathilde bluteten, Neave und Mark wirkten zerschrammt und selbst Gwylim wirkte erschüttert von dem Erlebnis, obwohl Royce gesehen hatte, wie schnell er sich heilen konnte.
„Wir sind am Leben“, sagte Mark und Royce konnte die Verwunderung in der Stimme seines Freundes hören. Er fühlte sie auch, gemeinsam mit dem Hochgefühl, dass seine Freunde in Sicherheit waren.
Nein, nicht in Sicherheit.
Sie waren am Leben, so viel stimmte, doch als er einen Blick auf das Wasser warf, erkannte Royce, dass das Floß in viele Stücke gebrochen war, die nun von den Wellen davongetragen wurden. Es gab keinen Weg, um zurückzukommen oder auf eine andere Insel zu gelangen. Sie hatten es auf eine der Sieben Inseln geschafft, doch nun schien es, als würden sie hier feststecken.
Kapitel sechs
Dust marschierte in Richtung der Docks und die Zeichen füllten die Welt rund um ihn. In der Formation der Vögel erkannte er, dass er diesen Weg nehmen musste. Das Sprudeln eines Flusses verriet ihm, dass er den Ozean überqueren musste.
Dann waren da die Bilder von Royce, die er immer vor sich sah, wenn er seinen Augen schloss.
Sie waren da, seitdem er den Rauch des Priesters eingeatmet und in die Zukunft geblickt hatte. Er wusste, was passieren würde, wenn das Schicksal nicht abgeändert wurde, hatte die Gewalt, den Schmerz und den Tod gesehen.
„Und ich entscheide mich“, sagte Dust zu sich selbst. Es dauerte einen Moment, bis die Seltsamkeit dieses Moments eingesickert war. Er war ein Angarthim und war auf der Welt, um jene Zukunft wahrwerden zu lassen, die die Priester vorherbestimmt hatten, und Menschen in die Dunkelheit nach dem Leben zu führen, die sterben mussten. Angarthim trafen keine Entscheidungen, versuchten nicht das Schicksal zu verändern.
„Die Priester haben es zuerst getan“, flüsterte Dust. Er sah nach oben und suchte nach einer Bestätigung dafür, dass seine Taten die richtigen waren. Er fand sie in der Art, wie sich die Wolken zu einem Bildnis der heiligen Bücher formten.
Die Priester hatten versucht, etwas zu verändern, das Schicksal umzulenken, um ihre eigene Vernichtung aufzuhalten. Jetzt verliefen die Dinge schon lange nicht mehr so, wie es das Schicksal vorhergesehen hatte, und jemand musste eine Entscheidung für alle treffen. Und dieser jemand war Dust.
„Ich werde es aufhalten“, sagte er. „Die kommende Zerstörung wird aufgehalten werden. Ich werde die Welt besser machen.“
Um das zu tun, musste er natürlich Royce aufhalten. Dust hatte die zahlreichen Formen der Zukunft gesehen, alle verschiedenen Möglichkeiten beobachtet. Er hatte nur wenige gesehen, in denen die Dinge gut verliefen, doch in zu vielen hatten die Taten von Royce zu einem Krieg und noch Schlimmerem geführt: Sie hatten eine Welle der Zerstörung freigesetzt, die verhindert werden musste.
Die Angarthim waren keine Helden; viel eher dachten die meisten, die von ihnen wussten, dass sie Monster und Mörder waren, ohne zu verstehen, dass sie nur die rechte Hand des Schicksals waren.
„Ich höre immer noch auf das Schicksal“, sagte Dust. Nur war es jetzt so, dass er nicht nur einen einzelnen Weg von den Priestern aufgezeigt bekam, sondern sich alle möglichen Formen der Zukunft vor ihm ausbreiteten und er wählen musste. Alle diese Möglichkeiten schienen zu den Docks zu zeigen.
Er ging in die Hafenstadt und die Menschen starrten ihn an, weil Menschen immer starrten. Kinder zeigten auf ihn und einige schreckten zurück. Ein paar Männer legten ihre Hände auf ihre Waffen und es gab eine Zeit, in der Dust sie dafür niedergeschlagen hätte. Die Zeichen des Todes würden über ihnen stehen und dann…
„Sie standen nicht über Royce“, flüsterte Dust zu sich selbst und versuchte es zu verstehen. Sie waren gemeinsam in einem Wald gewesen, er und der Junge, dessen Taten sowohl die alte Ordnung stürzen als auch Zerstörung bringen würden. Sie waren dort gewesen und nichts hatte ihm gesagt, dass er ihn zur Strecke bringen sollte.
Er verstand es nicht.
„Ich werde ihn finden“, sagte Dust.
Die Leute starrten ihn weiter an. Es war unvermeidbar auf Grund seiner grauen Haut und den aufwendigen Tätowierungen, die aus Runen und Symbolen der Weissagung bestanden. Es gab keinen Weg für ihn, jemals normal zu sein, doch vielleicht konnte er besser als normal sein.
Dust saß in der Mitte des Hauptplatzes und hatte hier ausreichend Freiraum, denn niemand wollte in seiner Nähe sein. Er machte es sich bequem, kreuzte die Beine und zog einen kleinen Beutel mit Runensteinen hervor. Er versuchte sich an diesem Ort zu entspannen, doch seine Gedanken hörten nicht auf zu rotieren. Dies war so anders, als der typische Ablauf, wenn er versuchte, die verschiedenen Formen der Zukunft zu sehen.
Er warf die Runensteine immer wieder, suchte nach Mustern darin, suchte nach Antworten. Wenn Dust irgendetwas von dem Pulver der Priester gelernt hatte, dann war es, dass die Zeichen alleine nichts bedeuteten: Sie gaben nur der Kraft eine Form, die tief in ihm steckte.
Aber welche Kraft auch immer in ihm war, hatte derzeit nichts zu sagen. Dust konnte nichts in den Mustern lesen. Runen für Erfolg oder Niederlage, für das Tun oder Nichtstun saßen nebeneinander, sodass Dust sie nicht unterscheiden konnte, nicht wählen konnte, nicht entscheiden konnte. Sollte er den Ozean überqueren und nach Royce suchen oder sollte er hierbleiben und die Dinge an Land lösen?