„Fürst Harrish, der euch alles nimmt, so wie es die Adeligen tun“, sagte Raymond. Er wusste, dass es auch bessere, gütigere Adelige gab, wie den Grafen Undine, aber so viel er über ihren Herrscher wusste, war er keiner davon. „Wie oft sollen sie in eure Dörfer kommen und von euch stehlen, bevor ihr ihnen zeigt, dass es genug ist?“
„Das wäre ziemlich dumm von uns“, rief der Hufschmied zurück. „Er hat Soldaten.“
„Und wir haben eine Armee!“, erwiderte Raymond. „Ihr habt davon gehört, dass der alte Herzog gestürzt wurde? Nun, das waren wir, im Namen des rechtmäßigen Königs, Royce!“
In seiner Vorstellung hatte seine Stimme über den ganzen Platz gehallt. In der Praxis sah dies etwas anders aus und er konnte sehen, wie sich einige Menschen im Hintergrund bemühten, ihn zu verstehen.
„Du bist Royce?“, rief der Hufschmied. „Du behauptest also, der Sohn des alten Königs zu sein?“
„Nein, nein“, erklärte Raymond rasch. „Ich bin sein Bruder.“
„Also bist du auch ein Sohn des alten Königs?“, schlussfolgerte der Schmied.
„Nein, bin ich nicht“, sagte Raymond. „Ich bin der Sohn von Dorfleuten, aber Royce ist—“
„Nun, entscheide dich“, sagte die alte Frau, die ihn verlegen gemacht hatte. „Wenn Royce dein Bruder ist, dann kann er nicht der Sohn des alten Königs sein. Das ergibt keinen Sinn.“
„Nein, das habt ihr falsch verstanden“, sagte Raymond. „Bitte, hört mir zu, gebt mit eine Chance alles zu erklären und—“
„Und was?“, erwiderte der Hufschmied. „Dann wirst du uns sagen, warum wir Royce folgen sollen? Du wirst uns sagen, warum wir uns auf den Weg machen und in dem Krieg eines anderen sterben sollen?“
„Ja!“, sagte Raymond und realisierte schnell, wie das wohl klingen musste. „Nein, ich meine… es ist nicht der Krieg eines anderen. Es ist der Krieg von uns allen.“
Der Schmied schien davon nicht besonders überzeugt zu sein. Er kam nach vorne, um sich gegen den Brunnen zu lehnen. Jetzt war er kein Teil der Masse mehr, sondern richtete sich an die anderen.
„Wirklich?“, sagte er und blickte in die Menge. „Ihr alle kennt mich und ich kenne euch. Und wir wissen alle, wie die Adeligen kämpfen. Sie kommen und rekrutieren uns für ihre Armeen, dann versprechen sie uns alle möglichen Dinge, aber wenn alles vorbei ist, sind es wir, die tot sind. Und sie machen einfach wieder weiter mit dem, worauf sie Lust haben.“
„Royce ist anders!“, pochte Raymond.
„Warum ist er anders?“, konterte der Schmied.
„Weil er einer von uns ist“, sagte Raymond. „Er wurde im Dorf großgezogen. Er weiß, wie es hier ist. Ihm ist es nicht egal.“
Der Schmied spottete darüber. „Wenn es ihm nicht egal ist, wo ist er dann? Warum ist er nicht hier, anstelle des Jungen, der behauptet sein Bruder zu sein?“
Raymond wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiterzusprechen. Die Menschen würden ihm nicht zuhören, egal, was er sagte. Sie hatten bereits zu viele Versprechen von zu vielen anderen gehört, damals noch, bevor König Carris seinen Adeligen verboten hatte zu kämpfen. Das einzige, was sie vielleicht überzeugen konnte, war der Gedanke, dass Royce sich für sie einsetzen würde, und der Schmied hatte recht: Sie hatten keinen Grund ihm zu glauben, wenn er nicht einmal hier war.
Raymond zog sein Pferd an den Zügeln und ritt mit so viel Würde aus dem Dorf, wie er aufbringen konnte. Es war nicht viel.
Er machte sich auf den Weg zum nächsten Dorf und versuchte dabei nachzudenken, während er den Regen ignorierte, der immer stärker wurde.
Er liebte seinen Bruder, aber er wünschte sich, Royce hätte ihn nicht verlassen, um seinen Vater zu suchen. Zwar konnte Raymond verstehen, dass es ihrer Sache helfen würde, den alten König zu finden, doch Royce war derjenige, dem die Menschen folgten, und sie mussten ihn sehen, um sich ihm anzuschließen.
Ohne ihn wusste Raymond nicht, ob er tatsächlich eine Armee für seinen Bruder zusammenstellen konnte.
Das bedeutete aber auch, dass es nur die Streitkräfte von Grad Undine gab, die sich der gesamten königlichen Armee entgegenstellen mussten, wenn König Carris zurückschlagen würde. Raymond wusste nicht, wie groß die Armee sein würde, aber da sie aus den Männern aller Fürsten im Land bestünde… sie hatten keine Chance.
Wäre Royce hier, so war sich Raymond sicher, dass er eine eigene Truppe zusammenstellen könnte. Aber so wie es war, hoffte er bitterlich darauf, dass Lofen und Garet mehr Glück hatten.
„Wir können es nicht dem Glück überlassen“, sagte Raymond zu sich selbst. „Nicht wenn es um so viele Leben geht.“
Er hatte bereits aus erster Hand miterlebt, zu was die Adeligen im Stande waren, wenn man sich ihnen widersetzte. Da waren die Galgen, die Folterungen auf dem Berg der Verräter und Schlimmeres. Auf jeden Fall würden sie jedes Dorf plündern und verwüsten, was den wenigen Überlebenden nur noch mehr Grund geben würde, sich der Revolte anzuschließen.
Raymond seufzte. Es gab keinen Weg das Unmögliche möglich zu machen: Sie brauchten Royce, konnten ihn jedoch nicht haben, während er nach seinem Vater suchte. Außer…
„Nein, das kann nicht funktionieren“, sprach Raymond zu sich selbst.
Aber vielleicht könnte es das. Es war nicht so, dass irgendjemand hier wusste, wie Royce wirklich aussah. Sie hatten vielleicht von ihm gehört und eine ungefähre Beschreibung bekommen, doch jeder wusste, dass solche Geschichten übertrieben waren.
„Das ist eine dumme Idee“, sagte Raymond.
Das Problem war, dass es seine einzige Idee war. Ja, es wäre gefährlich, denn Royce wurde von vielen gejagt. Ja, es würde später zu Problemen führen: Die Menschen würden sich hintergangen fühlen, wenn sie es herausfanden, manche würden sogar desertieren. Aber viele würden bleiben. Sie würden sich bereits zu verbunden mit ihrer Sache fühlen, sobald sie Teil einer Armee sind oder wären zu beschäftigt damit zu kämpfen, um darüber nachzudenken.
„Sie würden Royce vielleicht niemals aus der Nähe sehen“, grübelte Raymond.
Ihm wurde klar, dass er bereits eine Entscheidung getroffen hatte, ohne sie wirklich zu fällen, und er machte sich weiter auf den Weg zum nächsten Dorf. Er wählte eines, das ein paar Dörfer weiterlag, denn er wollte nicht, dass sich die Geschichte von Byesby verbreiten und sein Vorhaben verderben würde. Dieses Dorf war größer, besaß ein Gasthaus und einen großen Schuppen, der als Gemischtwarenladen diente. Es war so groß, dass die Ankunft eines Reiters nicht die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfes auf sich zog und die Menschen vor Erstaunen aus ihren Häusern trieb. Das bedeutete, dass Raymond sich auf seinem Pferd in die Mitte des Dorfplatzes stellen und solange rufen musste, bis die Leute zu ihm kamen.
„Kommt her. Hört mir zu! Ich bringe Neuigkeiten!“
Er wartete, bis sich die Menschen versammelt hatten, bevor er anfing zu sprechen.
„Es wird Krieg geben!“, sagte er. „Ihr habt die Geschichten gehört: Der Sohn des wahren Königs ist zurückgekehrt und hat den Herzog gestürzt, der seine eigenen Leute ausbeutet! Nun, es ist die Wahrheit und ich weiß, was ihr denken müsst. Ihr glaubt, dies ist nur ein weiterer Streit zwischen den Adeligen, der euch nichts angeht. Aber ich bin hier, um euch zu sagen, dass es euch sehr wohl etwas angeht. Das es diesmal anders ist.“
„Und warum soll das so sein?“, forderte ihn ein Mann aus der raunenden Menge heraus. Raymond spürte bereits, wie sich die Situation zu wiederholen begann.
„Weil wir diesmal wirklich etwas verändern können. Weil es kein Streit zwischen Adeligen ist, sondern die Chance, eine Welt zu erschaffen, in der die Adeligen nicht mehr an der Macht sind und uns unterdrücken. Weil Menschen wie ihr denjenigen, die diesen Kampf begonnen haben, nicht egal seid. Menschen wie wir alle.“
„Ach ja?“, fragte der Mann. „Nun dann, Fremder, wer bist du und woher weißt du so viel darüber?“
Raymond holte tief Luft und wusste, dass er sich in diesem Moment entscheiden musste, ob er es tun wollte oder nicht. Sobald er seine Wahl getroffen hatte, konnte er sie nicht mehr rückgängig machen.
„Na komm“, verlangte der Mann. „Wie kommst du dazu zu behaupten, ein Adeliger aus der Ferne würde sich um uns scheren?“
„Das ist einfach“, sagte Raymond und dieses Mal schallte seine Stimme so laut über das Dorf, dass ihn jeder hören konnte. „Mein Name ist Royce und ich bin der Sohn von König Philip, dem wahren und rechtmäßigen König dieses Landes!“
Kapitel fünf
Royce kämpfte sich durch einen Wald und die Bäume begannen immer mehr ineinander zu verschwimmen, sodass es unmöglich war, einen Weg zu erkennen. Er hatte sich verlaufen und wusste genau, dass es den sicheren Tod bedeutete, hier verloren zu gehen.
Er schritt vorwärts, denn er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Die Bäume um ihn wurden immer enger. Ihre Äste peitschten in einem Wind, den er nicht spüren konnte und schlugen auf Royce ein. Sie zerkratzen seine Haut und nun folgten Äste, die mit Dornen bestückt waren und sich in seinem Fleisch vergruben. Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um weiterzukommen.
Warum wollte er eigentlich weiter? Er wusste nicht, wo er war, also warum sollte er sich weiter durch die Dunkelheit und die Unsicherheit des Waldes drängen? Seine Energie ließ nach, also warum sollte er sich nicht auf einem der Baumstämme niederlassen und sich ausruhen, bis—
„Wenn du stehen bleibst, stirbst du, Sohn.“ Die Stimme kam durch die Bäume und obwohl er sie nur in seinen Träumen gehört hatte, erkannte Royce sie sofort als die seines Vaters. Er drehte sich zur Stimme und folgte ihr.
„Vater, wo bist du?“, rief er und kämpfte sich weiter in die Richtung, aus der sie zu kommen schien.
Der Weg war hier noch härter. Es lagen umgefallene Bäume auf dem Boden und Royce fand es bei jedem Mal schwieriger, über sie zu springen. Aus dem Waldboden ragten Felsen heraus und nun musste er genauso viel klettern wie rennen, um sie zu überwinden. Die Strecke, die vor ihm lag, ließ sich nicht vom restlichen Wald unterscheiden und die Unwissenheit darüber, was dahinterlag, brachte Royce zur Verzweiflung.
Dann endlich sah er den weißen Hirsch, der ihn erwartungsvoll ansah und wartete. Mit derselben unerklärlichen Gewissheit, die er vorher schon gespürt hatte, wusste Royce, dass ihm das Tier den Weg zeigen würde. Er drehte sich um und folgte ihm.
Der weiße Hirsch war schnell und Royce musste seine ganze Kraft sammeln, um ihn nicht zu verlieren. Es fühlte sich an, als würden seinen Lungen explodieren und seinen Glieder von innen brennen. Doch er lief immer weiter durch das peitschende Geäst, bis er einen Platz erreichte, an dem der weiße Hirsch verschwand und durch eine Figur in einer Rüstung ersetzt wurde, die von weißem Licht umrandet war.
„Vater“, keuchte Royce. Es fühlte sich, als hätte er keinen Atem und keine Zeit mehr.
Sein Vater nickte und lächelte, dann deutete er aus unerfindlichem Grund empor. „Du musst jetzt gehen, Royce. Kämpfe, kämpfe dich zum Licht.“
Als er nach oben blickte, sah Royce ein Licht über sich und als er versuchte zu tun, was sein Vater ihm gesagt hatte, wurde es größer und größer…
* * *
Royce kam mit einem hustenden Atemzug zu sich, der gleichermaßen aus Wasser und Luft bestand. Er erbrach das Meerwasser und begann sich aufzurappeln, doch ein paar vorsichtige Hände hielten ihn davon ab. Royce kämpfte einen Moment lang dagegen an, bevor ihm klar wurde, dass Mark an seiner Seite war und seine Hände das Wasser aus Royce Magen pumpten.
„Vorsichtig“, sagte sein Freund. „Du wirst das Floß zum Kippen bringen.“
Das „Floß“, von dem die Rede war, bestand aus einem Teil des Schiffsmasts, der im Chaos abgebrochen war und sich mit anderen Stücken Treibholz verwickelt hatte. Nun bildete er eine Art schwimmende Plattform, die in den Wellen aufgetrieben wurde.
Bolis, Neave und Mathilde knieten auf dem provisorischen Schiff, während Gwylim in etwas Entfernung am Rand lag und Ember über ihnen flog. Mathilde hatte eine offene Wunde an ihrer Seite, die von einem Messer oder einem Stück Holz stammen konnte. Das Blut lief ins Wasser, während Neave sie versorgte und Stücke des zerrissenen Segels zu Verbänden schnitt. Sir Bolis war damit beschäftigt, hastig ein Stück Metall an einem passenden Holz zu befestigen und eine einfache Harpune zu bauen. Von seiner eigenen Rüstung und seinen Waffen fehlte jede Spur.
Royce blickte schnell an sich herab und sah, dass er das Kristallschwert immer noch bei sich hatte, während er auch noch die Rüstung trug, die er aus dem Turm von Graf Undine genommen hatte.
„Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, darin zu schwimmen“, sagte Mark, „aber du hast es geschafft. Du bist wie ein Korken herausgeploppt und ich konnte dich herausziehen.“
„Danke“, sagte Royce und streckte seinem Freund die Hand entgegen.
Mark drückte sie fest. „Nach den unzähligen Malen, bei denen du mich gerettet hast, brauchst du dich nicht zu bedanken. Ich bin nur froh, dass du überlebt hast.“
„Zumindest bisher“, sagte Bolis vom Bug ihres notdürftigen Floßes aus. „Wir sind immer noch in Gefahr.“
Royce sah sich um und versuchte zu erkennen, was außerhalb des Floßes geschehen war. Er konnte sehen, dass sie wieder aufs Meer zurückgewaschen worden waren, sodass die Sieben Inseln erneut nur als kleiner Punkt in der Ferne erschienen. Der Ozean brodelte, als würde ein Sturm aufkommen. Ihr Floß knarrte unter den Strapazen.
„Vergiss den Speer“, sagte Royce. „Wir müssen uns darauf konzentrieren, das Floß zusammenzubinden.“
„Du hast das menschenfressende Monster nicht gesehen“, sagte Bolis. „Es muss so ziemlich jeden Seemann umgebracht haben, der im Schiffswrack gefangen war. Dieser Seeschlange will ich nicht unbewaffnet begegnen.“
„Und willst du ihr im Wasser begegnen, wenn unser Floß zerfällt und absinkt?“, erwiderte Royce. Er hatte die Kreatur gesehen, vor der Bolis Angst hatte, und wusste wie gefährlich sie war, doch in diesem Moment könnte sie der Ozean genauso gut umbringen.
An den Masten waren Seile befestigt und Royce deutete auf eines von ihnen. „Jeder schnappt sich ein Stück Seil, das noch nicht mit anderen Dingen verworren ist, und bindet damit das Floß zusammen. Das ist unsere Priorität, dann paddelt solange, bis wir an Land sind, dann kommen die Waffen.“
„Das sagst du so leicht“, beschwerte sich Bolis, doch er folgte seinen Anweisungen. Neave und Mark taten es ihm gleich. Als Mathilde versuchte zu helfen, sackte sie in sich zusammen und verzog das Gesicht schmerzvoll.
„Wir schaffen das alleine“, sagte Royce. „Wie schlimm ist es?“
„Ich werde es überleben“, sagte Mathilde. „Zumindest… glaube ich das.“
„Warum darf sie sich hinsetzen und ausruhen?“, fragte Bolis.
Neave war in Sekundenschnelle vor ihm und hielt einen Dolch in der Hand. „Nenn mir einen Grund, weshalb ich dich nicht ausweiden und den Fischen zum Fraß vorwerfen sollte, Eindringling.“
Royce wollte sich bereits zwischen sie stellen, doch Gwylin war schneller. Die Masse des Bhargirs drängte die beiden auseinander.
„Wir können es uns nicht leisten zu kämpfen“, sagte Royce. „Wir müssen zusammenarbeiten oder wir werden ertrinken.“
Sie murrten, doch sie widmeten sich wieder der Arbeit und schon bald wirkte das Floß deutlich stabiler als zuvor. Mathilde war bereits im Sitzen dabei, eine Planke mit einem längeren Stück Holz zu verknüpfen, um eine Art Ruder zu bauen. Royce tat es ihr gleich und schon bald hatten sie für jeden ein eigenes Ruder.