Wir hatten Glück, dass niemand verletzt wurde – oder umgebracht, dachte Riley. Dieser Refrain der Dankbarkeit ging ihr seit dem Tag ständig durch den Kopf.
Sie fragte sich, ob sie April länger hätte Hausarrest anordnen sollen – bis zu Weihnachten und Neujahr vielleicht. Doch nun war es zu spät ihre Entscheidung zu ändern. Sie musste konsequent bleiben. Auch das hatte Gabriela ihr beigebracht.
Riley schaute aus dem Fenster, als die Mädchen endlich das Haus verlassen hatten und zu ihrer Bushaltestelle gegangen waren. Sie dachte sich, wie sehr sie Halloween hasste. Sie war sich nicht ganz sicher, wieso.
Vielleicht gefiel ihr die Idee nicht, dass Kinder durch die Gegend liefen und so taten, als seien sie Monster. Nach Jahren der Arbeit in der Verhaltensanalyseeinheit, wusste Riley, dass die Welt auch so bereits mit zu vielen Monstern gefüllt war. Es kam ihr irgendwie pervers vor sich spaßeshalber auch noch eingebildete Monster dazu zu erfinden.
Natürlich verkleideten sich Kinder auch als positivere Figuren zu Halloween – als Superhelden, zum Beispiel. Doch das gefiel Riley auch nicht. So wie sie es sah, brauchte die Welt echte Helden, keine Schwindler in Umhang und Leggins. Überhaupt, es brauchte mehr Menschen, die bei den kleinen Dingen des Lebens heldenhaft sein konnten.
Zum Beispiel die Kinder in die Schule fertigmachen, dachte Riley lächelnd, als April und Jilly um die Ecke bogen und außer Sicht verschwanden.
In Wahrheit kam es Riley überhaupt nicht so heldenhaft vor, Verbrechen zu bekämpfen. Die alltäglichen Aufgaben des Mutterseins erschienen ihr oft sehr viel anspruchsvoller, als die Welt von tatsächlichen menschlichen Monstern zu befreien. Diese Verbrecher konnten oft gefangen werden, ihren Taten ein Ende bereitet werden. Die Arbeit einer Mutter war fortwährend und benötigte unermüdlichen Einsatz.
Nicht, dass ich eine besonders heldenhafte Erziehungsperson bin.
Doch zumindest hatte sie es an diesem Morgen geschafft, ihre Kinder durchs Frühstück und aus dem Haus und auf den Weg in die Schule zu bekommen. Da sie keinen unmittelbaren Fall auf der Arbeit hatte, hatte sie sich den Tag freigenommen.
Und sie hatte ganz besondere Pläne.
Sie lächelte, als sie daran dachte…
Ein Rendezvous.
Es erschien ihr komisch auf diese Art und Weise darüber zu denken, insbesondere, wenn sie daran dachte mit wem sie sich zum Mittagessen traf. Doch eine wichtige Beziehung in ihrem Leben hatte sich vor Kurzem unerwartet verändert. Und nun…
Gehen wir miteinander aus, nehme ich an.
Sie war froh, dass sie den Rest des Morgens hatte, um sich fertigzumachen.
Als sie in ihr Schlafzimmer ging, nahm sie ihr Handy vom Beistelltisch und sah, dass sie eine Sprachnachricht bekommen hatte.
Als sie die Nachricht abspielte, hörte sie eine bekannte grobe und heisere Stimme.
„Hey Agentin Paige. Van Roff hier. Rufen Sie mich zurück.“
Sie spürte ein scharfes Kribbeln der Erwartung und Sorge. Die Stimme des Anrufers hörte sich nicht so an, als hätte er gute Nachrichten.
Die Frage war, ob Riley gerade das hören wollte, was er zu sagen hatte.
Sie setzte sich aufs Bett und schaute auf ihr Handy, während sie versuchte zu entscheiden, ob sie in zurückrufen sollte oder nicht.
Van Roff war ein technischer Analyst in der FBI Außenstelle von Seattle. Riley hatte mit dem brillanten, übergewichtigen Computernerd in der Vergangenheit zusammengearbeitet, manchmal auch an nicht ganz rechtlich sauberen Aufgaben. Sie wusste, dass Van für sie bereit war die Regeln ab und an zu biegen und sogar zu brechen, besonders wenn das Problem, um das es sich handelte, ihn interessierte.
Jetzt war auch eins dieser Male.
Riley seufzte, als sie sich daran erinnerte, wie ihre damalige Partnerin Jenn Roston während des letzten Falls, an dem sie gearbeitet hatten, verschwunden war und nur eine rätselhafte Notiz hinterließ, die überhaupt nichts erklärte:
Riley,
es tut mir leid.
Jenn.
Es war damals ein schrecklicher Schock gewesen und hatte Riley Probleme mit ihrem Chef, Brent Meredith, bereitet, der mit gutem Recht vermutete, dass Riley mehr über Jenns Verschwinden wusste, als sie bereit war zuzugeben.
Jenn hatte Riley anvertraut, dass sie von einer sinisteren Pflegemutter großgezogen worden war, die sich selbst „Tante Cora“ nannte und die die Kinder in ihrer Obhut darauf trainierte, Meisterkriminelle in ihrer eigenen kriminellen Organisation zu werden.
Jenn hatte es geschafft Tante Coras Klauen für lange genug zu entkommen, um eine brillante und vielversprechende junge Agentin der FBI Verhaltensanalyseeinheit zu werden. Riley war die einzige Person gewesen, der Jenn jemals von ihrer düsteren Vergangenheit erzählt hatte. Riley wusste auch, dass Jenn immer noch ab und zu von Tante Cora hörte und dass die diabolische Frau versuchte, Jenn wieder ihrem Einfluss zu unterwerfen.
Nachdem der Fall gelöst war, hatte Riley ein Päckchen erhalten, dass Jenns Dienstmarke und Waffe, sowie eine weitere rätselhafte Notiz enthielt:
Ich habe es versucht.
Da hatte Riley begriffen, dass Jenn zurück in Tante Coras dunkle Welt gekehrt war. Riley hatte Jenns Marke und Waffe pflichtbewusst an Brent Meredith weitergegeben, der bereits einen Kündigungsbrief von ihr erhalten hatte.
Soweit Meredith wusste, war also Jenns Beziehung zur Verhaltensanalyse vorbei. Er hatte kein Interesse daran herauszufinden, wo sie hin war und wieso. Es war ihm gleich, ob er jemals wieder ihren Namen hören würde.
Aber Riley konnte nicht anders, als zu hoffen, dass sie Jenn vielleicht irgendwie erreichen könnte – ihr vielleicht sogar helfen könnte, sich endgültig von Tante Cora zu befreien.
Riley hatte sich um Hilfe an Van Roff gewandt, weil sie sicher war, dass dieses Rätsel interessant genug war, dass er bereit wäre für dessen Lösung seine beträchtlichen Fähigkeiten einzusetzen.
Und nun meldete er sich bei ihr.
Ich sollte herausfinden, was er zu sagen hat, dachte sie.
Sie wählte Van Roffs Nummer und er hob direkt den Hörer ab.
„Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Sie, Agentin Paige“, sagte Van.
„Konntest du irgendetwas herausfinden?“, fragte Riley.
„Überhaupt nichts“, sagte Van. „Sie haben erwähnt, dass ich vielleicht irgendetwas in der Personaldatenbank finden könnte – irgendetwas über das Kinderheim, in dem sie aufgewachsen ist.“
Riley nickte und sagte: „Jenn hat mir erzählt, dass darüber etwas in ihren Personalunterlagen stand. Das Kinderheim ist vor langer Zeit geschlossen worden, aber ich dachte, dass vielleicht irgendeine Information darüber dir einen Hinweis darauf verschaffen könnte – “
Van unterbrach sie: „Agentin Paige. Es gibt keine Personalunterlagen. Irgendjemand hat sich in die FBI Files gehackt und Jenn Rostons Personalunterlagen gelöscht. Es ist so, als hätte sie nie für das FBI gearbeitet.“
Riley wurde schwindelig vor Schock.
Van fuhr fort: „Irgendjemand will, dass niemand herausbekommen kann, was mit ihr passiert ist. Und wer auch immer dieser ‚irgendjemand‘ ist, er hat formidable Hacker-Fertigkeiten. FBI Datensätze zu vernichten ist eine ganz schöne Leistung.“
„Was ist mit der Adresse, die ich dir gegeben hatte?“
Riley meinte die Absenderadresse auf dem Päckchen mit der Waffe und der Dienstmarke, das sie bekommen hatte – eine Adresse in Dallas, Texas.
„Die ist erfunden“, sagte Van. „So eine Adresse gibt es nicht. Und ich habe alles versucht, um herauszufinden, ob sie womöglich noch in Dallas ist. Ich kann sie dort nicht finden, oder sonst wo. Es ist so, als sei sie von der Erdoberfläche verschwunden.“
Riley fühlte Resignation.
„Ok“, sagte sie. „Danke, Van.“
„Nichts zu danken.“
Dann fiel Riley etwas anderes ein.
„Van, ich habe dir einige Dinge über Jenn erzählt, die niemand wissen darf. Ich hoffe du wirst –“
Van unterbrach sie mit unpassend fröhlicher Stimme.
„Naja, es war so schön, dass Sie angerufen haben, Agentin Paige. Ich weiß es sehr zu schätzen. Ich freue mich, dass wir in Kontakt bleiben und schauen, wie es einander geht.“
Riley musste etwas lächeln. Sie wusste, dass es Van Roffs Art und Weise war ihr zu sagen, dass dieses ganze Gespräch in seinen Augen nie stattgefunden hatte. Sie konnte sich auf Van immer verlassen, was Geheimnisse betraf.
„Auf Wiederhören, Van“, sagte sie. „Und danke nochmal.“
Sie legte auf und sackte elendig auf dem Bettrand zusammen. Sie dachte an etwas, was Van gerade eben gesagt hatte.
„Irgendjemand will, dass niemand herausbekommen kann, was mit ihr passiert ist.“
Riley hatte den Verdacht, dass dieser „irgendjemand“ Jenn selbst war. Jenn wollte nicht gefunden werden. Und wenn Van Roff sie nicht finden konnte, konnte es unmöglich irgendjemand anderes.
Sie ist weg, dachte Riley. Jenn ist wirklich weg.
Riley kämpfte einen Moment lang gegen ihre Gefühle von Trauer, Wut und Verrat an.
Ich kann nichts dagegen machen, sagte sie sich. Jenn hat ihre eigene Wahl getroffen. Ich habe hier keinen Einfluss.
Gleichzeitig hatte Riley etwas, worauf sie sich freuen konnte. Sie erhob sich vom Bettrand und ging zu ihrem Kleiderschrank, um etwas Schönes zum Anziehen für ihre Verabredung auszusuchen. Während sie in ihrem Schrank stöberte, musste sie darüber lächeln, wie ironisch es war, dass sie heute so gut wie möglich aussehen wollte.
Wie komisch, dachte sie.
Hier war sie nun und versuchte einen Kerl zu beeindrucken, der sie besser kannte, als irgendjemand sie je gekannt hatte.
KAPITEL ZWEI
Sie hatten ihre Sandwiches bestellt und nun saß Riley schweigend da und schaute über den Tisch hinweg auf ihren Partner.
Bill erwiderte ihren Blick.
Sie lächelte und er lächelte zurück.
Keiner von ihnen sagte irgendetwas, aber es schien keinen Unterschied zu machen.
Zumindest genieren wir uns nicht, dachte sie.
Freilich, sie schienen sich beide gerade sehr komfortabel zu fühlen.
Sie saßen in einer gemütlichen, privaten Sitzkabine im Hannigan’s Public House. Nachdem sie jahrelang entweder im Gehen oder in versifften Cafés und Schnellimbissen gegessen hatten oder Pizza ins Motelzimmer bestellt hatten, war das eine ziemliche Abwechslung für sie beide – zumindest für sie beide zusammen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals zusammen in einem derartigen Lokal gesessen zu haben.
Und ganz bestimmt nicht, während wir nicht beide an einem Fall gearbeitet haben.
Sie freute sich, dass Bill Hannigan’s ausgesucht hatte für ihr…
Date, ermahnte sie sich. Wir haben gerade tatsächlich ein Date.
Tatsächlich machte es den Eindruck eines fast schon altbacken traditionellen Dates. Bill hatte sie sogar zuhause abgeholt und hatte sie hierher gefahren. Sie stellte auch erfreut fest, dass er, genauso wie sie selbst, sich auch einiges an Mühe gegeben hatte, um gut auszusehen. Er trug einen modischen Cardigan, der vorne zugeknöpft war, sein immer noch dichtes Haar war makellos zurückgekämmt.
Ein schöner Mann, dachte sie.
Bill war nie ein Goldjunge gewesen, wie ihr Ex-Mann Ryan. Er war nie charmant und hübsch gewesen, wie ihr Ex-Freund Blaine. Seine Gesichtszüge waren die eines Mannes, der ein hartes Leben gelebt hatte, doch er sah auch aus wie ein Mann, der etwas in seinem Leben geschafft hatte.
Riley wusste, dass das Leben auch bei ihr seine Spuren hinterlassen hatte. Ihr eigenes dunkles Haar, wie seins, zeigte bereits erstes Grau. Die Ringe um ihre Augen, wie um die seinen, spiegelten hässliche Begegnungen über die Jahre hinweg wider. Obwohl Männer im Allgemeinen zu ihr hingezogen zu sein schienen, wusste sie, dass die meisten von ihnen keine Ahnung hatten, was es eigentlich bedeutete Spezialagentin Riley Paige zu sein.
Endlich griff Bill über den Tisch und nahm ihre Hand.
Er fragte: „Riley, wird das hier funktionieren?“
Riley lachte ein wenig.
„Ich weiß nicht, Bill“, sagte sie. „Ich bin mir nicht einmal sicher, was ‚das hier‘ ist. Bist du es?“
Auch Bill lachte.
„Naja, ich habe da einige Vorstellungen, aber ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, wo ‚das hier‘ hinführt.“
„Ich auch nicht“, sagte Riley.
Sie schwiegen wieder. Riley war sich nur einer Sache sicher. „Das hier“ war etwas Romantisches – eine Veränderung in ihrer beider Leben, von besten Freunden hin zu etwas mehr als Freunden.
Riley erinnerte sich an den süßen, warmen Augenblick, als „das hier“ begonnen hatte. Es war einige Wochen her, kurz nachdem sie ihren letzten Fall beendet hatten. Sie hatten gemeinsam in Rileys Hotelzimmer gesessen und waren beide besorgt und traurig. Riley war erbittert und verletzt von Jenns unerklärtem Verschwinden gewesen. Bill war erschrocken davon gewesen, dass Riley beinahe von einem psychopatischen Wahnsinnigen getötet worden war.
Natürlich war es nicht das erste Mal gewesen, dass Riley oder auch Bill dem Tode um ein Haar entkommen waren. Freilich, es war wahrscheinlich nicht einmal das hundertste Mal gewesen. Aber dieses Mal schien es Bill besonders mitgenommen zu haben.
Endlich hatte er ihr gesagt, wieso genau.
„Ich glaube nicht, dass ich es verkraften könnte, dich zu verlieren. Ich glaube nicht, dass ich ohne dich leben könnte.“
Dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, hatten sie sich geküsst.
Danach hatten sie einander bloß eine Weile lang schweigend umarmt, ohne ein Wort zu sagen.
Das war wirklich alles, was passiert war – ein einziger Kuss und eine lange, stille Umarmung. Sie waren beide zu müde von ihrem letzten Kampf mit dem Mörder, um weiter zu gehen, als das.
Rileys Lächeln wurde bei dieser Erinnerung breiter.
Sie sah, dass auch Bills Lächeln breiter wurde.
Denkt er auch gerade an diesen Moment?
Sie wäre nicht im Geringsten überrascht. Wie ein altes verheiratetes Ehepaar dachten sie oft das Gleiche zur selben Zeit und beendeten die Sätze des anderen.
Sie und Bill hatten jahrelang als Partner miteinander gearbeitet. Sie hatten einander vor Monstern gerettet, hatten einander in schrecklichen Zeiten unterstützt und ihre Freundschaft hatte sogar ihren einmaligen betrunkenen Versuch überlebt, sich an ihn ranzuschmeißen, als er noch verheiratet gewesen war.
Sie hatten einander während ihrer Scheidungen gekannt und, in seinem Fall, dem beinahe kompletten Verlust des Kontakts zu seinen Söhnen, als seine Ex-Frau weggezogen war und neu geheiratet hatte. Er wusste vieles von ihrem Hin-und-Her mit Ryan, über ihre Scheidung und sogar über ihre jüngste Beziehung mit Blaine.
Sie hatten bloß nicht allzu viel voneinander gehört, seit sie diesen Fall damals beendet hatten. Sie hatten keine Möglichkeit gehabt, über die Sache zu sprechen.
Bill hatte Riley einige Male zuhause besucht, und sie hatten am Telefon gesprochen. Sie hatten den Kuss nie voreinander erwähnt, doch natürlich hatte Riley die ganze Zeit über daran gedacht und sie wusste ganz genau, dass auch Bill das getan hatte.
Und nun waren sie hier und hatten ihr erstes echtes Date.
Und wie alle ersten Dates war es voll von allen möglichen Chancen und Ungewissheiten.
Schließlich schüttelte Bill den Kopf. „Riley, es gibt einige Sachen, die wir wirklich klären müssen.“ Riley merkte, dass sie beinahe den Atem anhielt, unsicher, was jetzt kommen würde.
„Du bist mir sehr wichtig“, sagte Bill. „Ich weiß, dass du genauso für mich empfindest. Und ich nehme an… dass es nur natürlich ist, dass unsere Beziehung sich… du weißt schon…“