Im Wagen sitzend schluckte sie die Pillen mit Wasser herunter und rief dann ihre Freundin Jess an.
Cassie hatte Weihnachten und Neujahr gemeinsam mit Jess verbracht. Diese hatte über die Feiertage frei gehabt und Geld für einen Kurztrip bekommen, zu dem sie Cassie eingeladen hatte. Gemeinsam waren sie in Edinburgh gewesen.
Während Jess für die Unterkunft bezahlt hatte, war Cassie gefahren. Sie hatten ein Apartment außerhalb der Stadt gemietet, die Tage mit Sightseeing und die Nächte mit Feiern verbracht. In dieser Zeit hatten sie viele Gelegenheiten zum Reden gehabt, Jess kannte nun also die traurige Wahrheit und wusste genau, was Cassie bei ihren letzten Anstellungen mitgemacht hatte.
„Hey Fremde!“, antwortete Jess fast sofort. „Hast du deine Schwester schon gefunden?“
„Noch nicht, aber jemanden, der kürzlich mit ihr gesprochen hat. Er meinte, dass sie ein oder zwei Stunden außerhalb von Mailand lebt, konnte sich aber nicht an den Namen der Stadt erinnern.“
„Oh, nein!“ Jess klang entsetzt. „Das ist – so nah dran, aber gleichzeitig so weit weg. Was hast du jetzt vor?“
„Ich werde versuchen, einige Wochen hier zu bleiben. Er wird mich kontaktieren, falls er sich an mehr erinnern kann. Ich habe mich eben nach einem Au-Pair-Job erkundigt, der war aber bereits vergeben. Kennst du jemanden in Mailand oder Italien, der Hilfe braucht?“
Cassie hatte großen Respekt vor Jess‘ Kontaktnetzwerk. Die große, freundliche Blondine schien ein natürliches Talent dafür zu haben, strategische Kontakte zu knüpfen. So war Cassie auch zu ihrem letzten Job gekommen, auch wenn dieser sich als Desaster entpuppt hatte. Dank Jess‘ Kontakten waren sie auch in der Lage gewesen, eine günstige Ferienwohnung zu buchen.
„In Mailand?“, fragte Jess nachdenklich.
„Oder in der Nähe“, erinnerte Cassie sie mit der Hoffnung, die Suche auszuweiten.
Jess seufzte.
„Nicht auf Anhieb. Mailand liegt im Norden Italiens, oder?“
„Ja, genau.“
„Also wäre auch die Schweiz oder Süddeutschland eine Möglichkeit, nicht wahr? Vermutlich willst du momentan eher nicht nach Frankreich zurückkehren.“
Vermutlich niemals, dachte Cassie.
„Ich würde mich lieber von Frankreich fernhalten.“
„Lass mich rumfragen. Derzeit sind alle im Skiurlaub und mein Arbeitgeber kennt einige Leute, die Ski-Chalets besitzen. Du könntest als Chalet-Mädchen arbeiten. Die Bezahlung ist zwar nicht so gut, aber du könntest umsonst Ski fahren.“
„Bitte erkundige dich“, meinte Cassie.
„In der Zwischenzeit solltest du den Typen löchern, der mit deiner Schwester gesprochen hat“, meinte Jess. „Sei nicht schüchtern. Sag ihm, er soll sich mit einer Landkarte an den Tisch setzen und solange drauf starren, bis ihm der Name der Stadt wieder einfällt.“
Sie lachte und Cassie lachte mit.
„Ich muss los“, sagte Jess. „Zahnarzttermin. Für die Kinder, nicht für mich. Wir telefonieren später wieder, Cassie. Und viel Glück!“
Als Cassie auflegte, klingelte ihr Handy erneut. Am anderen Ende der Leitung war Abigail, die Frau, mit der sie bezüglich des Au-Pair-Jobs gesprochen hatte.
„Hallo, ich rufe im Auftrag von Ms. Rossi an. Sie haben vorhin wegen eines Jobs angerufen, ist das richtig?“
„Ja, das ist richtig.“
„Um welchen Job ging es? Sind Sie an der Position des Junior Fashion Designers oder der des Au-Pairs interessiert?“
„An der des Au-Pairs.“
„Bitte bleiben Sie einen Moment dran.“
Die Frau klang nervös und Cassie konnte hören, wie sie im Hintergrund flüsterte.
Einige Augenblicke später fuhr sie fort.
„Es tut mir so leid, bitte entschuldigen Sie. Ich wusste nichts von der Au-Pair-Position. Ms. Rossi hat bestätigt, dass der Job in der Tat noch verfügbar ist, lediglich die Position des Designers wurde bereits besetzt. Sie hat mich gebeten, herauszufinden, ob Sie noch immer Interesse haben.“
„Ja, das habe ich.“
„Ms. Rossi ist heute Nachmittag ab halb drei für Bewerbungsgespräche verfügbar. Die Interviews finden in ihrer Privatresidenz statt. Der erste erfolgreiche Kandidat wird eingestellt und muss bereit sein, sofort zu beginnen. Kann ich Ihnen die Adresse per Nachricht schicken?“
„Ja, bitte“, sagte Cassie und spürte, wie die Sorge zurückkam. Es klang so, als würde sie sofort eine Entscheidung treffen müssen, ob der Job für sie infrage kam oder nicht. Beim Gedanken an die Kinder wurde ihr schlecht vor Aufregung.
Sie entschied sich, den Job nicht anzunehmen, ohne zuerst die Kinder zu treffen. Schließlich würde sie ihren Alltag mit ihnen verbringen. Ihre Mutter schien eine wohlhabende Frau zu sein und Cassies begrenzter Erfahrung nach zu urteilen, bedeutete das, dass die Kinder entweder verwöhnt oder vernachlässigt waren.
Als ihr Handy mit der Wegbeschreibung vibrierte, entschied sie sich, sofort loszufahren.
Schließlich würde es überhaupt keine Entscheidung zu treffen geben, wenn sie nicht als Erste interviewt wurde.
*
Cassie erreichte die Wohngegend kurz vor Mittag. Die Straßen waren ruhig und makellos, große Häuser standen hinter baumbewachsenen Gärten ein gutes Stück von der Straße entfernt. Vermutlich waren die Häuser im Sommer, wenn die Bäume grün waren, von der Straße aus unsichtbar.
Die Sicherheitsvorkehrungen überraschten sie. Jedes Haus besaß entweder Zaun oder Mauer sowie hohe, automatisierte Tore. Cassie war sich nicht sicher, ob die wohlhabenden Hausbesitzer sich um Sicherheit und Privatsphäre sorgten oder ob es in der Gegend ein Kriminalitätsproblem gab. Vermutlich war es das erste.
Während sie mit ihrem kleinen, betagten Fahrzeug durch die Straßen fuhr, entdeckte Cassie einige der Nachbarn, die sie aus ihren glänzenden Sportswägen und dunklen SUVs heraus argwöhnisch betrachteten. Sowohl sie als auch ihr Auto passten nicht in die Gegend und das fiel auf.
Einige Häuserblocks weiter erblickte sie einen Coffee Shop. Sie war zu nervös, um Hunger zu haben, zwang sich aber dazu, ein Cornetto zu essen und eine Flasche Wasser zu trinken.
Da die Frau vermutlich in der Modeindustrie arbeitete und es sich um eine wohlhabende Wohngegend handelte, wollte Cassie unbedingt einen guten Eindruck machen. Sie suchte die Toilette auf, wo sie ihr Haar glättete und sämtliche Krümel des knusprigen, Mascarpone-gefüllten Gebäckteils von ihrem Oberteil entfernte.
Dann fuhr sie zum Haus und parkte genau zwei Minuten vor zwei vor dem verzierten, schmiedeeisernen Tor.
Sie zitterte nervös und wünschte, ihrer Fähigkeit, den Job zu beurteilen, mehr vertrauen zu können. Sie würde eine Kurzschlussentscheidung treffen müssen, obwohl es viele Variablen zu bedenken gab. Was, wenn sie etwas Wichtiges übersah?
Es fühlte sich wie ein großer Vertrauensvorschuss an, nach ihren bisherigen Erfahrungen überhaupt daran zu denken, erneut als Au-Pair zu arbeiten. Wäre sie nicht so entschlossen, um Jacquis Willen in der Gegend zu bleiben, hätte sie niemals in Erwägung gezogen, den Job anzunehmen.
Cassie zwang sich dazu, tief durchzuatmen und ruhig zu bleiben. Dann lehnte sie sich aus dem Autofenster und drückte den Buzzer am Tor.
Nach einem kurzen Augenblick öffnete sich das Tor und sie fuhr die gepflasterte Einfahrt hinauf, die sich durch den Garten schlängelte.
Sie parkte unter einem italienischen Olivenbaum neben einer Dreifachgarage und fühlte sich durch die Tatsache ermutigt, dass keine weiteren Autos zu sehen waren. Hoffentlich bedeutete das, dass sie die erste Anwärterin war, die das Anwesen erreicht hatte.
Cassie ging den Pfad zu einer riesigen Holztür entlang. Sie klingelte und hörte das Geräusch weit entfernt im Haus.
Sie hatte erwartet, von einem Hausmädchen oder einem Assistenten begrüßt zu werden, aber einige Augenblicke später hörte sie das Klackern von High-Heels und die Tür wurde von einer Frau um die vierzig geöffnet. Sie strahlte unmissverständliche Autorität aus.
Sie war mindestens einen halben Kopf größer als Cassie, was aber hauptsächlich an ihrem exquisiten Paar pfauenblauer Lederstiefel und deren hohen, abgerundeten Absätzen lag. Ihr dunkles Haar lag in kunstvollen Wellen auf ihren Schultern. Eine schwere Goldkette glitzerte an ihrem Hals und goldene Kettchen klingelten an ihren Armen, als sie die Tür weit öffnete.
„Buongiorno“, sagte sie. Auch ihre Stimme klang autoritär. „Sie müssen wegen des Au-Pair-Interviews hier sein?“
„Guten Tag. Ja, das bin ich. Mein Name ist Cassie Vale. Ich weiß, ich bin früh. Die Dame, mit der ich gesprochen habe, hat mich auf halb drei bestellt, aber ich hatte Angst, zu spät zu kommen.“
Cassie war sich bewusst, nervös vor sich hinzuplappern, also schloss sie schnell den Mund.
Doch die Frau schien an ihrer Pünktlichkeit Gefallen zu finden. Ihr perfekt geschminkter Mund verzog sich zu einem Lächeln.
„Pünktlichkeit ist Höflichkeit. Ich bestehe darauf – sowohl bei mir selbst als auch bei allen, mit denen ich arbeite. Vielen Dank also für Ihre Verbindlichkeit. Ich bin Ottavia Rossi. Bitte kommen Sie herein.“
Glücklich, bereits einen positiven Eindruck gemacht zu haben, folgte Cassie ihr schüchtern.
Beim Betreten des geräumigen Atriums entdeckte Cassie eine Reihe farbenfroher Kunst- und Dekorstücke. Helle Gemälde, Vasen und leuchtende Teppiche stachen heraus und ließen das Haus wie eine moderne und einladende Kunstgalerie wirken.
Vor ihr führte eine hohe Treppe aus weißem Marmor in die oberen Stockwerke.
Cassies Blick wurde auf das hüfthohe Modell eines hellroten Stiletto-Schuhs gezogen, der sich rechts neben der Treppe auf einem Sockel befand. Das Design des Schuhs war gewagt und auserlesen.
Ms. Rossi lächelte, als sie Cassies Blick sah.
„Das ist unser ‚Nina‘-Modell, das Rossi Shoes damals in den Siebzigern zu internationalem Ruhm verholfen hat. Das Design war seiner Zeit Jahrzehnte voraus. Die Farbe hat die Menschen war schockiert, aber nicht vom Kaufen abgehalten.“
„Er ist wunderschön“, sagte Cassie.
Sie vermutete, dass Ottavia Rossi die Eigentümerin der internationalen Firma war, bei der es sich offensichtlich um ein etabliertes Familienunternehmen handelte, wo es doch bereits in den Siebzigern erfolgreich Schuhe verkauft hatte.
Ms. Rossi führte sie um die Treppe herum und einen Korridor entlang. Cassie reckte den Hals und warf einen kurzen Blick in die Durchgänge, die in eine große, moderne Lounge und eine strahlende Küche führten, wo ein Koch beschäftigt war.
Weiter hinten im Gang befand sich eine geschlossene Tür, die Ms. Rossi öffnete und Cassie hineinbat.
Bei dem eleganten Raum dahinter handelte es sich um ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich hinter den geschwungenen, weißen Tisch und bat Cassie, auf der anderen Seite Platz zu nehmen.
Cassie bemerkte plötzlich, dass sie mit leeren Händen gekommen war. Sie hatte keinen Lebenslauf vorbereitet, ihre Personalien nicht ausgedruckt und weder von ihrem Pass noch von ihrem Führerschein eine Kopie angefertigt. Diese Frau war eine Geschäftsfrau und würde das sicherlich erwarten. Cassie fühlte sich furchtbar, das vergessen zu haben.
„Es tut mir so leid“, begann sie. „Ich bin erst kürzlich in Italien angekommen und habe meinen Lebenslauf noch nicht auf den neuesten Stand gebracht. Diese Gelegenheit kam so unerwartet, dass ich mich sofort auf den Weg gemacht habe, um mehr zu erfahren.“
Zu ihrer Erleichterung nickte Ms. Rossi.
„Das verstehe ich. Ich bin in meiner Jugend selbst viel gereist – Sie müssten Anfang zwanzig sein, nicht wahr?“
Cassie nickte. „Ja. Ich habe meinen Reisepass bei mir, wenn Sie einen Blick darauf werfen möchten.“
„Danke.“
Ms. Rossi nahm den Pass und blätterte kurz durch die Seiten, bevor sie ihn Cassie zurückgab.
„Nun, können Sie mit einen kurzen Umriss Ihrer bisherigen Arbeit geben?“, fragte sie.
Als Cassie das hörte, wurde ihr schlecht. Ihr war klar, dass sie keine Zeugnisse ihrer bisherigen Anstellungen in Europa vorzuweisen hatte. Ihr erster Arbeitgeber war Verdächtiger einer Mordverhandlung und hätte vermutlich nichts Gutes über sie zu sagen – Cassie war sich sogar sicher, dass er versuchen würde, ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben und darauf zu bestehen, unrechtmäßig beschuldigt worden zu sein.
Ihr zweiter Arbeitgeber war tot; während Cassies Anstellung ermordet worden. Niemand in dieser Familie würde ihr ein Zeugnis ausstellen. Ihre Situation war nicht nur desaströs, nein, es war eine Katastrophe.
KAPITEL SECHS
Cassie schwieg, ihr Verstand raste. Sie wusste, dass Ms. Rossi auf ihre Antwort wartete und dass ihr Zögern für Fragen sorgen würde. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.
Das Wort ‘Mord’ reichte, um jeden potentiellen Arbeitgeber zu verjagen. Die Umstände spielten keine Rolle, sie war das Risiko einfach nicht wert.
Und das nahm Cassie niemandem übel. Sie begann, sich zu fragen, ob sie möglicherweise Pech brachte – oder ob ihre eigenen Entscheidungen diese furchtbaren Vorfälle verursacht hatten.
Ihre einzige Möglichkeit war es, die aktuellen Erfahrungen auszublenden und sich stattdessen auf ihre Arbeit in den Staaten zu konzentrieren.
Sie räusperte sich und begann dann, zu sprechen.
„Ich bin mit sechzehn Jahren zuhause ausgezogen und habe mir als Kellnerin das College finanziert“, sagte sie.
Sie ging nicht auf die Gründe ihres Auszugs ein, aber hoffte, dass ihr unabhängiges und autarkes Leben auf Wohlwillen stoßen würde. Zu ihrer Erleichterung nickte Ms. Rossi anerkennend.
„Ich habe damals außerdem jüngeren Schülern bei ihren Aufgaben geholfen und in einer Kita Mutterschutzvertretung gemacht. Ich bin befugt, in der Kinderbetreuung zu arbeiten und kann Ihnen die notwendigen Bescheinigungen auf meinem Handy zeigen. Ich habe außerdem ein Zeugnis des Restaurants, für das ich zwei Jahre lang gearbeitet habe, das nicht nur meine Verlässlichkeit bestätigt, sondern auch, dass ich hart für die Zufriedenheit meiner Kunden arbeite.“
Glücklicherweise waren diese Dokumente die Basis ihrer ersten Au-Pair-Bewerbung gewesen und sie hatte sie online gespeichert. Und obwohl die Restaurantarbeit nicht relevant war, bildete sie ihre einzige richtige Referenz.
„Exzellent“, sagte Ms. Rossi.
„Seit meiner Ankunft in Europa bin ich viel gereist. Ich habe zuerst für eine Familie in Paris gearbeitet. Die Kinder sind dann nach Südfrankreich gezogen, deshalb habe ich den Dezember in Großbritannien verbracht.“
Cassie glühte. Ihre Geschichte war voller Lücken. Falls Ms. Rossi ihre Version hinterfragen sollte, würde sie schnell herausfinden, dass Cassie ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Doch zu ihrer Überraschung schien die Geschäftsfrau zufrieden zu sein und begann nun, selbst das Wort zu ergreifen.
„Ich werde Ihnen kurz den Hintergrund meiner persönlichen Situation erläutern. Meine Scheidung liegt nun mehrere Monate zurück und während ich eine Weile in der Lage war, von zu Hause aus zu arbeiten, ist es dafür im Büro nun zu geschäftig geworden. Wir haben unsere Präsenz auf weitere Märkte erweitert und mehrere Marken akquiriert. Dieses Wachstum war geplant, aber ist schneller verwirklich worden, als erwartet. Meine Mutter wird herziehen, um sich um die Kinder zu kümmern, aber sie benötigt Zeit für die Vorbereitung und den Umzug. Für die nächsten drei Monate brauche ich also Hilfe. Natürlich würden Sie im selben Haus wohnen. Die Kinder sind wohlerzogen und wir haben sowohl einen Koch als auch einen Fahrer. Die Aufgaben sind dadurch nicht allzu beschwerlich.“