Cassie schluckte.
„Können Sie mir mehr über die Kinder erzählen? Wie sind sie so?“
„Es sind zwei Mädchen im Alter von acht und neun Jahren. Nina ist die Ältere, Venetia die Jüngere. Sie sind gut erzogen.“
Da Ms. Rossi nicht weiter ins Detail ging, nahm Cassie ihren Mut zusammen.
„Könnte ich sie vielleicht kennenlernen? Um zu sehen, wie wir uns verstehen, bevor ich mich entscheide?“
Sie hatte keine Ahnung, ob Ms. Rossi diese Frage als unhöflich bewerten würde, wo sie doch selbst für das Verhalten ihrer Kinder gebürgt hatte.
Die Geschäftsfrau nickte.
„Natürlich. Sie müssten mittlerweile von der Schule zurück sein. Folgen Sie mir.“
Sie stand auf und glitt aus dem Zimmer. Cassie folgte ihr eilig.
Die autoritäre Ausstrahlung beeindruckte Cassie. Wenn diese Aura für die Leitung eines erfolgreichen, internationalen Unternehmens notwendig war, würde sie selbst vermutlich nie so weit kommen. Nicht in einer Million Jahren. Sie besaß weder die Persönlichkeit noch das kommandierende Auftreten von Ms. Rossi.
Doch sie hatte das Gefühl, dass Ms. Rossi sie mochte. Jedenfalls schien sie keine sofortige Abneigung ihr gegenüber zu empfinden, was bei ihren französischen Arbeitgebern der Fall gewesen war.
Cassie folgte ihr die Marmortreppe hinauf. Das Haus war in der Form eines Hufeisens konzipiert worden und besaß zwei Hauptflügel. Die Zimmer der Kinder befanden sich oben, im rechten Flügel des Hufeisens.
Ottavia Rossis klackernder Schritt auf dem Fliesenboden war laut genug, um den Kindern ihre Ankunft mitzuteilen. Cassie beobachtete beeindruckt, wie zwei dunkelhaarige Mädchen aus ihren Schlafzimmern kamen und nebeneinanderstehend auf ihre Mutter warteten.
Sie trugen elegante, langärmelige Kleider, die bis auf die Farbe identisch waren – das eine was gelb, das andere blau. Cassie betrachtete die bunten Mokassins der Mädchen und fragte sich, ob Rossi Shoes auch eine Kinderlinie hatte und diese Modelle dazugehörten.
„Kinder, ich möchte euch Cassie vorstellen“, sagte Ms. Rossi. „Sie ist im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs hier und wird möglicherweise ein paar Wochen nach euch sehen. Vielleicht könnt ihr sie begrüßen und ihre Fragen beantworten?“
„Guten Tag, wir freuen uns, dich kennenzulernen“, sagten die Kinder im Chor. Cassie war von ihrem einwandfreien Englisch überrascht.
Das größere Mädchen machte einen Schritt nach vorne.
„Ich bin Nina.“
Sie streckte ihre Hand aus und Cassie, überrascht von der formellen Begrüßung, schüttelte sie.
„Ich bin Venetia“, sagte das jüngere Mädchen.
Cassie schüttelte auch ihre kleine, warme Hand. Und obwohl die Situation eher verlegen war und der formelle Korridor keine ideale Atmosphäre zum entspannten Reden bot, wusste sie, beweisen zu müssen, wie freundlich und liebenswert sie selbst war.
Sie lächelte die Kinder an.
„Ihr beide habt wunderschöne Namen.“
„Danke“, sagte Nina.
„Wart ihr heute in der Schule?“
Venetia antwortete eifrig.
„Ja. Nachmittags machen wir unsere Hausaufgaben. Damit waren wir eben auch beschäftigt.“
„Wow, ihr seid sehr fleißige Mädchen. Welches Schulfach gefällt euch am besten?“
Die beiden Mädchen sahen sich kurz an.
„Englisch“, antwortete Nina.
Venetia dachte kurz nach.
„Ich mag Mathematik.“
Cassie war beeindruckt. Deutlich erkannte sie, wo die Wurzel des Erfolgs lag – schon im jungen Alter Disziplin und eine Liebe zum Lernen zu entwickeln. Sie konnte bereits sehen, dass die Mädchen in die Fußstapfen ihrer Mutter treten wollten und eine goldene Zukunft vor sich hatten.
Diese Mädchen würden vermutlich Gelegenheiten haben, von denen sie selbst nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Kurz wunderte sich Cassie, wie es sich wohl anfühlte, als Erbe eines Modeimperiums und mit einer Liebe zum Lernen geboren worden zu sein.
„Was sind eure Hobbys? Was macht ihr außerhalb der Schule?“
Wieder wechselten die Mädchen einen Blick.
„Ich genieße meinen Gesangsunterricht“, sagte Nina.
„Ich reite gerne. Wir haben beide sonntags Unterricht“, fügte Venetia hinzu.
„Das klingt fantastisch“, sagte Cassie, die sich von dem Leben der Mädchen immer mehr begeistern ließ. Die beiden waren nicht nur motiviert, ehrgeizig und akademisch veranlagt, sondern außerdem in der Lage, Hobbys zu haben, die Cassie sich nie hätte leisten können.
Ihr wurde klar, dass diese Familie in ihrem modernen und gleichzeitig eleganten Haus denen ähnelte, die in den Glanzmagazinen beim Friseur ausgestellt waren. Die Rossis gehörten zur Elite der Gesellschaft und es war aufregend und fast schon überwältigend, mit ihnen verbunden zu sein.
Der einzige Makel ihres sonst so perfekten Lebens muss die Scheidung gewesen sein und Cassie fragte sich, wie Ms. Rossis Ehemann wohl war. Da das Rossi-Imperium von ihrer Seite der Familie begründet worden war, hatte sie nach der Scheidung wohl entweder ihren Mädchennamen zurückgenommen oder seinen Namen gar nie benutzt. Cassie fragte sich, ob die Scheidung die Kinder traumatisiert hatte und ob sie Zeit mit ihrem Vater verbrachten. Es waren Fragen, die sie Ms. Rossi stellen müssen würde – oder vielleicht sogar den Kindern selbst – aber nicht jetzt.
Erschrocken bemerkte Cassie, dass sie bereits einen Schritt übersprungen hatte, als hätte sie schon entschieden, den Job anzunehmen.
Die Kinder sahen sie gespannt an. Sie hatten sich nicht bewegt, als warteten sie auf die Erlaubnis, sich zu verabschieden. Ihre Selbstkontrolle war beeindruckend.
„Danke für das Gespräch“, sagte sie. „Es hat mich sehr gefreut, euch kennenzulernen. Ich möchte euch nicht länger von den Hausaufgaben abhalten.“
„Geht, Kinder“, sagte Ms. Rossi und die Mädchen verschwanden in ihren Zimmern.
Auf dem Rückweg durchs Haus konnte Cassie nicht anders, als die beiden zu loben.
„Sie sind fantastisch. Ich kenne keine anderen Kinder, die so diszipliniert und gehorsam sind. Und mit ihrer Liebe für die Schule müssen Sie sehr stolz auf sie sein.“
Ms. Rossi klang erfreut, als sie antwortete.
„Sie sind nicht perfekt, aber das ist kein Kind“, sagte sie. „Doch sie werden eines Tages ein Unternehmen erben, ich strebe also danach, ihnen die richtigen Werte zu vermitteln.“
Sie traten die große Treppe hinunter und kehrten ins Arbeitszimmer zurück.
„Nun, da Sie die Familie kennengelernt haben, werden wir über die Stelle sprechen“, sagte sie. „Sie sind die erste Kandidatin, die zum Gespräch gekommen ist – nach Abigails Versäumnis waren wir nicht in der Lage, alle Bewerber zu kontaktieren. Sie scheinen kompetent zu sein und auch die Kinder interagieren gut mit Ihnen. Wenn Sie interessiert sind, würde ich Ihnen die Stelle gerne anbieten. Sie müssten mit den Kindern nach der Schule und auch sonntags Zeit verbringen. Unterricht ist von acht Uhr bis halb zwei, wenn keine Nachmittagsaktivitäten geplant sind.“
Cassie atmete tief durch. Sie fühlte sich geehrt, von Ms. Rossi als kompetent genug eingestuft zu werden, ihre zwei außergewöhnlichen Kinder zu beaufsichtigen. Sie hatte nicht einmal um Telefonnummern gebeten, um Cassies Referenzen zu überprüfen.
„Ich glaube daran, dass jede Gelegenheit eine Tür öffnet“, fuhr Ms. Rossi fort. „Wenn Sie Ihre Arbeit gut machen, wird es vielleicht auch in der Zukunft Möglichkeiten für Sie geben. Wir haben regelmäßig Praktikumsstellen; wenn Sie also auch nach dieser Anstellung in Italien bleiben und in der Modeindustrie arbeiten möchten, könnte das vermutlich arrangiert werden.“
Cassies Herz machte einen Sprung. Dieser Job war mehr als nur eine kurzzeitige Anstellung und würde vielleicht sogar ihre zukünftige Karriere beeinflussen. Außerdem würden ihre Chancen steigen, Jacqui zu finden.
Sie malte sich aus, gemeinsam mit ihrer Schwester in der Modeindustrie erfolgreich zu sein und ein umwerfendes Apartment in einer malerischen und exklusiven Nachbarschaft zu besitzen. Abends würden sie über ihre Arbeit plaudern, sich beim Kochen abwechseln und dann gemeinsam zum Feiern in die Stadt zu gehen.
Je mehr Cassie darüber nachdachte, desto aufgeregter war sie, diese Gelegenheit gefunden zu haben. Da es sich um so viel mehr als einen einfachen Au-Pair-Job handelte, konnte sie das Angebot unmöglich ablehnen. Sie musste ihre Aufgaben mit Leib und Seele ausführen, denn sie repräsentierten eine lebensverändernde Gelegenheit.
„Ein Praktikum klingt sehr aufregend, das könnte ich mir für die Zukunft sehr gut vorstellen. Ich freue mich, die Anstellung als Au-Pair anzunehmen. Vielen Dank“, sagte sie.
Ms. Rossi lächelte.
„Dann sind Sie hiermit eingestellt. Haben Sie Gepäck?“
„Ja, im Wagen.“
„Eines der Dienstmädchen wird Ihnen dabei helfen, Ihre Habseligkeiten auf Ihr Zimmer zu bringen. Heute Abend werden die Kinder und ich meine Mutter besuchen und dort zu Abend essen. Unser Koch hat frei, aber es gibt einen Lieferservice. Die Speisekarten liegen in der Küchenschublade. Bestellen Sie sich, was Sie möchten und rufen Sie von unserem Festnetztelefon an. Das Essen wird dann innerhalb von dreißig Minuten geliefert und von unserem Konto abgezogen.“
„Vielen Dank“, sagte Cassie.
„Es gibt eine wichtige Regel, die ich mit Ihnen teilen muss.“
Sie beugte sich nach vorne und Cassie folgte ihrem Beispiel.
„Bitte lassen Sie niemanden ins Haus, bevor Sie deren Identität nicht bestätigt haben. Wir leben in einer wohlhabenden Gegend, die Verbrecher anzieht. Wir wurden schon zuvor von Einbrechern ins Visier genommen. Mit zwei kleinen Kindern ist auch Kidnapping stets eine Bedrohung, bitte seien Sie sich dessen bewusst. Lassen Sie keinen Fremden ins Haus, wenn Sie keine Lieferung erwarten. Verstanden?“
Cassie nickte und der Gedanke, jemand könnte auf die Kinder abzielen, machte sie nervös. Dank ihrer eigenen Erfahrung in Mailand wusste sie, dass diese Art von Verbrechen ein tatsächliches Risiko darstellte.
„Ich verstehe. Ich werde sehr vorsichtig sein“, sagte sie.
„Gut, dann sehen wir uns morgen“, bestätige Ms. Rossi.
Sie nahm den Hörer des Haustelefons, drückte einen Knopf und sprach schnell auf Italienisch hinein.
„Das Dienstmädchen ist auf dem Weg“, erklärte sie Cassie.
In diesem Moment klingelte Ms. Rossis Handy.
„Ciao“, antwortete sie ungeduldig.
Da es unhöflich wäre, der Unterhaltung zuzuhören, stand Cassie eilig auf und ging zur Tür, um draußen auf das Dienstmädchen zu warten.
Als sie das Zimmer verließ, hörte sie, wie Ms. Rossi streng ins Telefon sprach. „Abigail?“
Cassie erinnerte sich, dass Abigail die Frau war, die ihr fälschlicherweise mitgeteilt hatte, die Au-Pair-Position wäre bereits vergeben.
Kurz war es still, dann sprach Ms. Rossi weiter. Ihre Stimme war laut und wütend.
„Sie haben es vermasselt, Abigail. Das ist nicht akzeptabel, genau wie Ihre Entschuldigung. Sie werden morgen nicht zu Arbeit kommen. Sie sind gefeuert!“
KAPITEL SIEBEN
Cassie rutschte von der Tür des Arbeitszimmers weg und hoffte, dass Ms. Rossi ihr Lauschen nicht bemerkt hatte. Sie war zutiefst erschrocken. War die junge Angestellte tatsächlich wegen eines Missverständnisses bei einer Stellenanzeige gefeuert worden?
Das konnte nicht die ganze Geschichte sein, vermutlich hatte sie bereits andere Fehler gemacht. Zumindest hoffte Cassie das. Sie begriff bestürzt, dass das möglicherweise zur Leitung eines Imperiums dazugehörte – und dass deshalb so wenige Leute von Erfolg gekrönt waren. Fehler und Ausreden waren inakzeptabel. Das bedeutete für sie, pausenlos auf Zack zu sein und sich größte Mühe zu geben, keine Fehler zu machen.
Sie wollte sich gar nicht ausmalen, etwas falsch zu machen und dann von Ms. Rossi so beschimpft und sogar rausgeschmissen zu werden. Sie klang so wütend, wie ein vollkommen anderer Mensch. Cassie konnte nicht anders, als Mitleid mit der von Pech verfolgten Abigail zu haben. Aber sie erinnerte sich daran, dass sie nicht in der Position war, die Situation zu beurteilen, wo sie doch nichts über die Hintergründe wusste.
Cassie war froh über die Ankunft des Dienstmädchens, um der wütenden, einseitigen Unterhaltung entfliehen zu können, die sich noch immer im Inneren des Büros abzuspielen schien. Die Frau trug Arbeitskleidung und sprach lediglich Italienisch, war aber in der Lage, sich mit ihrer Gestik verständlich zu machen.
Zusammen gingen sie auf den Hof, wo die Frau Cassie ihren Parkplatz zeigte – eine überdachte Parknische hinter dem Haus. Sie gab ihr außerdem den Schlüssel für die Tür samt Fernbedienung, die das Tor steuerte, und half ihr dann, ihr Gepäck nach oben zu bringen.
Cassie war automatisch nach rechts in Richtung der Zimmer der Kinder gegangen, doch das Dienstmädchen rief sie zurück.
„No!“, rief sie auf Italienisch.
Das Mädchen deutete den Korridor entlang in Richtung des anderen Endes des Hufeisens.
Cassie drehte sich verwirrt um. Sie hatte angenommen, in der Nähe der Kinder zu schlafen, sodass sie auch nachts für sie erreichbar war. Am anderen Ende des riesigen Hauses würde sie nicht in der Lage sein, sie zu hören, sollten sie weinen. Ms. Rossis Zimmer, das in der Mitte des Hufeisens lag, war sogar näher.
Doch sie hatte bereits gesehen, wie unabhängig die Mädchen für ihr Alter waren und möglicherweise nachts keine Hilfe mehr benötigten – oder selbstsicher genug waren, auch nachts durch das Haus zu gehen, um sie aufzusuchen.
Ihr großes Schlafzimmer samt eigenem Badezimmer lag am anderen Ende des Hufeisens. Cassie blickte aus dem Fenster und sah, dass ihr Zimmer den Garten und Innenhof überblickte, wo ein kunstvoller Brunnen den Mittelpunkt bildete.
Auf der anderen Seite konnte sie die Schlafzimmerfenster der Kinder sehen und im Licht der spätnachmittäglichen Sonne sogar den dunklen Kopf eines der Mädchen ausmachen, das am Schreibtisch saß und mit den Hausaufgaben beschäftigt zu sein schien. Da die beiden Mädchen identische Pferdeschwänze trugen und auch fast gleich groß waren, konnte sie nicht herausfinden, um welches der Mädchen es sich handelte. Die Stuhllehne blockierte den Blick auf das Kleid, dessen Farbe ihr Aufschluss darüber hätte geben können. Dennoch war es gut zu wissen, sie sehen zu können.
Cassie würde am liebsten durch den Hufeisen-Korridor laufen und die Kinder besser kennenlernen, um einen guten Start mit ihnen zu garantieren.
Doch sie waren mit ihren Hausaufgaben beschäftigt und würden bald mit ihrer Mutter aufbrechen. Sie würde also warten müssen.
Stattdessen packte Cassie aus und stellte sicher, dass sowohl Zimmer als auch Schrank tadellos aufgeräumt waren.
Ms. Rossi hatte sie nicht gefragt, ob sie Medikamente einnahm, also war Cassie nicht gezwungen gewesen, ihr von den Tabletten zu erzählen, die ihre mentale Stabilität förderten.
Sie verstaute die Pillenflaschen außer Sichtweite ganz hinten in ihrer Nachttischschublade.
Cassie hatte nicht damit gerechnet, den ersten Abend im Haus alleine zu verbringen. Sie ging nach unten in die leere Küche und durchsuche die Schubladen, bis sie die Menüs der Lieferunternehmen gefunden hatte.
Der Kühlschrank war voll, aber Cassie hatte keine Ahnung, was für zukünftige Mahlzeiten reserviert war. Fragen konnte sie auch niemanden. Das Personal, inklusive des Mädchens, das ihr geholfen hatte, schien bereits Feierabend zu haben. Es war ihr unangenehm, am ersten Abend etwas zu essen zu bestellen und die Familie dafür bezahlen zu lassen, aber sie entschied, den Anweisungen ihrer Arbeitgeberin zu folgen.