„Gut. Das möchte ich auch nicht. Wir können es ihm gemeinsam sagen.“
„Okay“, sagte Luke. „Wir sehen uns bald. Es tut mir so leid.“
Aufzulegen fühlte sich komisch an. Wenn sie nur nicht all diese Monate miteinander gestritten hätten. Wenn sie nur nicht so feindselig zu ihm gewesen wäre. Wenn diese Dinge nicht passiert wären, hätte er vielleicht einen Weg finden können, sie zu trösten, selbst aus dieser Entfernung. Aber er war abgehärtet und er wusste nicht, ob er es in sich hatte, sich mit ihr zu versöhnen.
Er blieb mehrere Minuten auf dem Felsen setzen. Das Licht begann den Himmel nach und nach zu erhellen. Er dachte nicht an all die schönen Zeiten, die er mit ihr verbracht hatte. Er dachte auch nicht an all die Streitereien des vergangenen Jahres, wie bösartig und unnachgiebig sie gewesen war. Sein Kopf war einfach leer. Das war vielleicht das Beste. Er musste irgendwie aus dieser Schlucht heraus und er musste Ed und Swann sagen, dass er und Gunner abreisen würden.
Er stand auf und ging zurück zum Lager. Ed war inzwischen wach und kauerte am Feuer. Er hatte es wieder entfacht und die Kaffeekanne aufgesetzt. Er hatte kein Hemd an und trug nichts weiter als ein Paar rote Boxershorts und Flip-Flops. Sein Körper bestand aus dicken, knotigen Muskeln und riesigen Adern, kaum ein Gramm Fett an ihm – er sah aus wie ein Kampfsportler, der gerade dabei war den Ring zu betreten. Er beobachtete, wie sich Luke näherte und deutete in Richtung Westen.
Der Himmel war kobaltblau, die Nacht verzog sich langsam und wurde von dem Licht im Osten verdrängt. Ganz an ihrem oberen Ende wurden die hoch aufragenden Wände der Schlucht nun von den ersten Sonnenstrahlen erhellt und erstrahlten in einem Rot, Rosa, Gelb und Orange.
„Verdammt, ist das schön“, sagte Ed.
„Ed“, sagte Luke. „Ich habe schlechte Nachrichten.“
KAPITEL ZWEI
21:15 Uhr Greenwich Mean Time (16:15 Uhr Eastern Daylight Time)
Molenbeek
Brüssel, Belgien
Der dünne Mann sprach Niederländisch.
„Ga weg“, murmelte er leise. Geh weg.
Sein Name war nicht Jamal. Doch das war der Name, unter dem er sich manchmal vorstellte und unter den ihn viele Leute kannten. Die meisten nannten ihn so. Einige nannten ihn auch das Phantom.
Er stand im Schatten in der Nähe einer überquellenden Mülltonne, in einer schmalen Straße aus Kopfsteinpflaster, rauchte eine Zigarette und beobachtete ein Polizeiauto, das an der Hauptstraße parkte. Die Straße, auf der er sich befand, war kaum mehr als eine Gasse und während er in ihrem Schatten stand, war er sich sicher, dass ihn dort niemand sehen konnte. Die leeren Boulevards, Gehsteige und Gassen des berüchtigten muslimischen Slums waren nass von einem harten, kalten Regen, der vielleicht zehn Minuten zuvor aufgehört hatte niederzuprasseln.
Hier war es heute Abend wie in einer Geisterstadt.
Auf der großen Straße fuhr das Polizeiauto vom Bordstein los und rollte leise davon. Andere Autos waren nicht in Sicht.
Ein Kitzeln der Aufregung – es war fast Angst – ging durch Jamals Körper, während er die Polizei beobachtete. Sie hatten keinen Grund, ihn anzuhalten. Er hatte keine Gesetze gebrochen. Er war ein gut gekleideter Mann in einem dunklen Anzug und italienischen Lederschuhen, mit einem glatt rasierten Gesicht. Er könnte ein Geschäftsmann sein oder der Eigentümer dieser Mietshäuser in seiner Umgebung. Er war nicht der Typ, den die Polizei wahllos anhalten und durchsuchen würde. Trotzdem war Jamal schon vorher in die Hände der Behörden gefallen – nicht hier in Belgien, sondern an anderen Orten. Seine Erfahrungen waren, um es milde auszudrücken, unerfreulich gewesen. Einmal hatte er zwölf Stunden damit verbracht, sich selbst unter Qualen schreien zu hören.
Er schüttelte den Kopf, um diese dunklen Gedanken loszuwerden, atmete dreimal tief ein, ignorierte die Mülltonne und warf seinen Zigarettenstummel auf den Boden. Er bog in die Gasse ein. Er ging an einem runden roten Schild mit einem horizontalen weißen Streifen vorbei – KEINE EINFAHRT. Die Straße war zu eng für Autos. Wenn die Polizei plötzlich beschließen würde, ihn doch zu verfolgen, wären sie gezwungen, dies zu Fuß zu tun. Entweder das oder einen Kreis um mehrere Blöcke fahren. Bis dahin wäre er schon längst weg.
Nach fünfzig Metern bog er in den Eingang eines besonders baufällig aussehenden Gebäudes ein. Er stieg über eine schmale Treppe drei Stockwerke hinauf, bis er an einer dicken, stahlverstärkten Tür stand. Die Treppe war alt, aus Holz und ziemlich verzogen. Das ganze Treppenhaus schien verdreht zu sein, was ihm das Gefühl gab, in einem Zirkuskabinett zu sein.
Jamal klopfte mit der Faust gegen die schwere Tür, wobei seine Schläge einem präzisen Rhythmus folgten:
BANG-BANG. BANG-BANG.
Er pausierte einige Sekunden.
BANG.
Ein Guckloch öffnete sich und ein Auge blickte ihn an. Der Mann auf der anderen Seite grunzte, als er erkannte, wer er war. Jamal hörte zu, wie die Wache die Schlüssel im Schloss drehte und dann die Stahlstange entfernte, die unten in der Tür und im Boden verkeilt war. Die Polizei würde es schwer haben, diese Wohnung zu betreten, falls ihr Verdacht jemals auf sie fallen würde.
„As salaam alaikum“, sagte Jamal, als er eintrat.
„Wa alailkum salaam“, antwortete der Mann, der die Tür öffnete. Er war von großer, kräftiger Statur. Er trug ein schmutziges, ärmelloses T-Shirt, eine Arbeitshose und Stiefel. Ein dicker ungekämmter Bart bedeckte sein Gesicht und ging nahtlos in die lockigen schwarzen Haare auf seinem Kopf über. Seine Augen waren trübe. Er war das genaue Gegenteil des dünnen Mannes, der gerade eingetreten war.
„Wie schlagen sie sich?“, fragte Jamal auf Französisch.
Der große Mann zuckte die Achseln. „Gut, denke ich.“
Jamal trat durch einen Vorhang aus Perlen, ging den kurzen Flur entlang und betrat einen kleinen Raum – das, was das Wohnzimmer sein würde, wenn eine Familie an diesem Ort wohnen würde. Der schmuddelige Raum war voll mit jungen Männern, die meisten trugen T-Shirts oder Trikots ihrer Lieblingsfußballmannschaften, Trainingshosen und Turnschuhe. Es war heiß und feucht in dem Raum, vielleicht dadurch, dass so viele Menschen auf engem Raum miteinander verbrachten. Es roch nach nassen Socken und Schweiß.
In der Mitte des Raumes, auf einem breiten Holztisch, stand ein patronenförmiges Gerät aus silbernem Metall. Es war etwa einen Meter lang und weniger als einen halben Meter breit. Jamal hatte Zeit in Deutschland und Österreich verbracht und das Gerät erinnerte ihn an ein kleines Bierfass. Abgesehen von seinem Gewicht – es war ziemlich leicht – war es eine nahezu perfekte Nachbildung eines amerikanischen W80-Nuklearsprengkopfes.
Zwei junge Männer saßen am Tisch, während die anderen um sie herum standen und zusahen. Einer von ihnen stand vor einem kleinen Laptop, der in einem Stahlkoffer montiert war. Der Koffer hatte eine Steuereinheit, die sich neben dem Laptop befand – es gab zwei Schalter, zwei LED-Leuchten (eine rote und eine grüne) und ein in die Steuereinheit eingebautes Ziffernblatt. Ein Draht verlief von der Hülle zu einer Platine entlang der Seite des Sprengkopfes. Das gesamte Gerät – der Koffer und der sich darin befindliche Laptop – war als UC 1583-Controller bekannt. Es handelte sich um ein Gerät, das nur eine einzige Aufgabe hatte – mit einem Nuklearsprengkopf zu kommunizieren.
Der zweite Mann war über einen weißen Umschlag auf dem Tisch gebeugt. Er trug ein teures digitales Mikroskop, das er mit seinem Auge festgekniffen hatte, und scannte langsam den Umschlag ab, um nach dem zu suchen, von dem er wusste, dass es dort sein musste – ein winziger Punkt, nicht größer als der Punkt am Ende eines Satzes, in dem der Code eingebettet war, der den Sprengkopf scharf stellen und aktivieren würde.
Jamal rückte näher, um zuzuschauen.
Der junge Mann mit dem Mikroskop suchte langsam den Umschlag ab. Alle paar Sekunden bedeckte er das Mikroskop mit der Hand und sah sich den Umschlag als Ganzes an, wobei er nach Tintenflecken, Dreck und anderen potenziell verdächtigen Punkten suchte. Anschließend blickte er wieder durch das Mikroskop.
„Moment“, flüsterte er. „Ich glaube…“
„Komm schon“, sagte sein Partner, ein Hauch von Ungeduld in seiner Stimme. Sie wurden nicht nur nach Genauigkeit, sondern auch nach ihrer Zeit beurteilt. Wenn der Ernstfall eintreten würde, mussten sie schnell handeln können.
„Hab es.“
Nun war sein Partner dran. Aus dem Gedächtnis tippte der junge Mann eine Sequenz ein, die dem Laptop mitteilte, dass sie nun den Scharfschaltungscode eingeben würden. Seine Hände zitterten, während er tippte. Er war so nervös, dass er sich beim ersten Versuch verschrieb, die Sequenz löschte und neu begann.
„Okay“, sagte er. „Ich bin so weit.“
Sehr langsam und deutlich las der Mann mit dem Mikroskop eine Folge von zwölf Zahlen vor. Der andere Mann tippte mit. Nach der zwölften sagte der erste Mann: „Fertig“.
Nun ging der Mann am Laptop eine weitere kurze Sequenz durch, legte die beiden Schalter um und drehte den Wählschalter. Die grüne LED-Leuchte auf der Steuereinheit leuchtete auf.
Der junge Mann lächelte und wandte sich an seinen Ausbilder.
„Bewaffnet und startbereit“, sagte er. „So Gott will.“
Auch Jamal lächelte. Er war hier nur Beobachter – er war gekommen, um zu sehen, wie die neuen Rekruten vorankamen. Sie waren wahre Gläubige, die sich auf eine wahrscheinlich selbstmörderische Mission vorbereiteten. Wenn die Codes falsch eingegeben wurden, würden sich die Sprengköpfe wahrscheinlich einfach abschalten – aber vielleicht würden sie sich auch sofort selbst zerstören, eine tödliche Strahlungswolke freisetzen und alles Leben in ihrer Nähe auslöschen.
Niemand war sich sicher, was im Falle einer falschen Codeeingabe geschehen würde. Es war alles nur Hörensagen und Spekulation. Die Amerikaner hielten diese Geheimnisse streng verschlossen. Aber die Details waren unwichtig. Diese jungen Männer waren bereit zu sterben und das würden sie wahrscheinlich auch tun. Abgesehen von den Codes würden die Amerikaner nicht gerade freundlich reagieren, wenn sie entdeckten, dass ihre wertvollen Atomwaffen entwendet worden waren. Nein. Das riesige Biest würde um sich schlagen, seine Tentakeln würden umherfliegen und alles zerstören, was sich ihm in den Weg stellte.
Jamal nickte und sagte ein stilles Dankesgebet. Es war eine ziemliche Aufgabe gewesen, dieses Projekt auf die Beine zu stellen. Sie hatten genug Mudschahedin – aber junge Männer zu finden, die bereit waren, für ihren Glauben zu sterben, war auch vergleichsweise einfach gewesen.
Die anderen Bestandteile waren schwieriger gewesen. Bald schon würden sie die Startplattformen und die Raketen haben – Jamal würde sich selbst darum kümmern. Die Codes waren ihnen versprochen worden und er war sich sicher, dass sie sie auch tatsächlich erhalten würden. Dann bräuchten sie nur noch die Sprengköpfe selbst.
Und bald, so Allah es wollte, würden sie auch sie bekommen.
KAPITEL DREI
19. Oktober
13:15 Uhr Eastern Daylight Time
Fairfax County, Virginia – Die Vororte von Washington, DC
Luke hatte einen Hubschrauber gemietet, der ihn und Gunner aus der Schlucht abgeholt hatte. Er hatte einen neuen Flug für sie gebucht und fuhr so schnell er konnte, um rechtzeitig in Phoenix anzukommen und ihn zu erreichen. Dabei hatte er die ganze Zeit Gunners Fragen abgewehrt, warum sie so plötzlich gegangen waren.
„Deine Mutter will dich einfach zu Hause haben, Monster. Sie vermisst dich und es gefällt ihr nicht, dass du die ganze Zeit die Schule verpasst.“
Auf dem Beifahrersitz, die Autobahn an seinem Fenster vorbeisausend, konnte Luke zusehen, wie Gunner überlegte. Er war ein kluges Kind. Er lernte bereits, Menschen beim Lügen zu erwischen. Luke hasste es – hasste es! – dass er einer der ersten Menschen sein musste, die Gunner tatsächlich überführen würde.
„Ich dachte, du hättest das alles mit Mom geklärt, bevor wir gegangen sind.“
„Das habe ich auch“, sagte Luke mit einem Achselzucken. „Aber sie hat es sich anders überlegt. Hör zu, wir reden darüber, wenn wir dort sind, okay?“
„Okay, Dad.“
Aber Luke konnte sehen, dass es nicht okay war. Bald schon würde es noch schlimmer werden.
Jetzt, zwei Tage später, saß er hier, auf dem großen Plüschsofa im Wohnzimmer seines ehemaligen Hauses. Gunner war in der Schule.
Luke schaute sich um. Vor langer Zeit hatten er und Becca hier ein großartiges Leben geführt. Es war ein schönes Haus, modern, wie etwas aus einer Architekturzeitschrift. Das Wohnzimmer mit seinen deckenhohen Fenstern glich einem riesigen Glaskasten. Er stellte sich die Weihnachtszeit vor, wie sie in diesem atemberaubenden Wohnzimmer saßen, den Baum in der Ecke, den Kamin angezündet, den Schnee um sie herum, als wären sie draußen – aber sie saßen drinnen und es war warm und gemütlich.
Gott, war das schön gewesen. Aber diese Zeiten waren vorbei.
Becca lief in der Wohnung herum, räumte auf, staubte ab, räumte verschiedene Dinge hin und her. Einmal nahm sie sogar mitten im Gespräch den Staubsauger aus dem Schrank und ließ ihn aufheulen. Sie war psychisch in einer sehr schlechten Verfassung. Er hatte versucht, sie bei seiner Ankunft zu umarmen, aber sie war ganz steif geworden und hatte ihre Arme nur an den Seiten hängen lassen.
„Ich war über dich hinweg, weißt du das?“, sagte sie jetzt. „Ich war bereit, mein Leben weiterzuführen. Ich war sogar auf ein paar Dates, als du diesen Sommer Gunner bei dir hattest. Warum auch nicht? Ich bin doch noch jung, oder?“
Sie schüttelte verbittert den Kopf. Luke sagte nichts. Was konnte er schon sagen?
„Willst du etwas über dich selbst wissen, Luke? Der erste, den ich traf, war ein Lehrer. Es waren Sommerferien. Er war ein netter Kerl und er fragte mich, was du beruflich machst. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Oh, mein Ex-Mann ist eine Art geheimer Attentäter für die Regierung. Er war früher bei der Delta Force. Weißt du, was danach geschah? Ich werde es dir sagen. Nichts. Rein gar nichts. Es war das letzte Mal, dass ich von ihm gehört habe. Er hat nur Delta Force gehört und ist abgehauen. Du machst den Leuten Angst, Luke. Das will ich damit sagen.“
Luke zuckte die Achseln. „Warum sagst du ihnen nicht einfach, dass ich etwas anderes mache? Es ist ja nicht so, dass ich…“
„Das habe ich dann auch gemacht. Sobald ich es begriffen hatte, begann ich den Leuten zu erzählen, dass du Anwalt bist.“
Für eine Sekunde fragte sich Luke, was sie mit dem Plural meinte. Hatte sie jeden Tag Verabredungen gehabt? Zwei am Tag? Er schüttelte den Kopf. Es ging ihn nichts mehr an, solange sie nur in Sicherheit war. Aber selbst das… Sie lag im Sterben. Sie würde nie wieder sicher sein und er konnte nichts dagegen tun.
Es verging einige Zeit, bevor er etwas sagte.
„Möchtest du eine zweite Meinung einholen?“
Sie nickte. Sie sah gefühllos und schockiert aus, wie die Überlebenden von Katastrophen oder Gräueltaten, die Luke so oft gesehen hatte. Das Erstaunliche war, dass sie völlig gesund aussah. Etwas dünner als sonst vielleicht, aber niemand würde jemals vermuten, dass sie Krebs hatte. Man würde höchstens denken, dass sie gerade auf Diät war.
Es ist die Chemo, die sie krank aussehen lässt. In der Hälfte der Fälle ist sie auch das, was sie umbringt.
„Ich habe bereits eine zweite Meinung von einem alten Kollegen von mir eingeholt. Ich werde Anfang nächster Woche noch eine dritte Meinung einholen. Wenn es mit dem übereinstimmt, was ich bereits gehört habe, dann werde ich am Donnerstag mit der Behandlung anfangen.“