„Okay, Kurt, was haben Sie für mich?“
Kurt zeigte auf den Fernsehbildschirm. „Die Ereignisse überschlagen sich geradezu. So weit keine Überraschung. Gestern Nacht gab es eine Schießerei in New York Citys Chinatown. Eine große Gruppe Mitglieder von Gathering Storm sind um ungefähr 08:30 Uhr aufgetaucht und haben einen Marsch südlich von Canal Street veranstaltet. Natürlich war es eine Provokation. Innerhalb von Minuten gab es Schlägereien mit Einwohnern.“
„Gathering Storm, wie?“ Gathering Storm war eine der Organisationen, die Monroe unterstützte, von denen Susan ganz schlecht wurde. Sie fragte sich manchmal, was diese Leute dachten, dass sie taten. Natürlich hatten sämtliche Gewaltandrohungen bis jetzt ausschließlich im Internet stattgefunden. Doch jetzt war es real.
Kurt nickte. „Ja. Es scheint, als gäbe es eine Mindestgröße, um ihnen beitreten zu können. Die Schlägereien waren ziemlich einseitig, bis zwei Auftragsmörder der Triaden aus Hong Kong – die scheinbar für einen Auftrag in New York waren – das Feuer mit Uzi-Maschinenpistolen eröffnet haben. Aktuellen Zahlen zufolge gab es 36 Verletzte, einschließlich ein Dutzend Chinesen, die wahrscheinlich aus Versehen getroffen wurden, sowie sieben Tote, allesamt Mitglieder von Gathering Storm. Weitere drei Mitglieder schweben noch in Lebensgefahr.“
Susan war sich nicht sicher, was sie dazu sagen sollte. Gut so? Das war zumindest das Erste, was sie dachte.
„Die Triadenmitglieder?“
„Sind verhaftet aufgrund von mehrfachem Mord, versuchtem Mord und illegalem Waffenbesitz. Sie haben gerichtliche Übersetzer und so weit ich gehört habe, ist bereits ein Anwaltsteam aus Hong Kong unterwegs. Die Triaden haben tiefe Taschen, um es milde auszudrücken, und wir erwarten, dass die Anwälte versuchen werden, die Mordanklage auf Selbstverteidigung abzuschwächen und ein Plädoyer für die Waffen abzugeben.“
„Was denken Sie darüber?“, fragte Susan.
Kurt lächelte und schüttelte den Kopf. „New York hat keine Todesstrafe. Das ist so ziemlich das einzige Glück, was diese Typen momentan haben.“
„Was, wenn ich sie begnadige und sie mit Medaillen nach Hause schicke?“
„Ich glaube, wir haben genug Probleme.“
„Die da wären?“, fragte sie.
„Naja, als die Nachrichten aus New York sich verbreiteten, haben sich die Leute wohl ermutigt gefühlt. Gruppen an jungen Männern sind um ungefähr 10 Uhr in Bostons Chinatown auf die Straße gegangen und haben angefangen, Leute anzugreifen. Es handelte sich scheinbar um junge Männer, die in Bars unterwegs waren, da alle vier Verhaftete betrunken waren.“
„Vier Männer wurden verhaftet? Sie sagten, es seien Gruppen –“
„Ja. Es scheint, als wäre die Bostoner Polizei ein wenig großzügiger gewesen, als uns lieb wäre. Sie haben die meisten Täter mit einer Verwarnung davonkommen lassen.“
„Was noch?“
„Einige Mitglieder der Motorradgang Nazi Lowriders in Oakland ist in San Francisco in Chinatown eingedrungen und hat Leute auf offener Straße mit abgesägten Billard-Queues angegriffen. Mehr als 40 von ihnen wurden verhaftet. Zwei ihrer Opfer sind in kritischem Zustand im Krankenhaus.“
Susan seufzte und schüttelte den Kopf. „Großartig. Sonst noch was?“
„Ja. Wahrscheinlich die aufregendsten Neuigkeiten. Jefferson Monroe will heute Morgen auf einer Versammlung sprechen, vielleicht um die Gewalt letzte Nacht anzusprechen, vielleicht auch wieder, um Sie dazu aufzurufen, das Amt abzutreten. Niemand ist sich sicher, was er genau sagen wird. Aber das Beste ist, wo er seine Versammlung abhalten wird.“
Susan mochte es gar nicht, wenn Kurt nicht direkt mit der Sprache herausrückte.
„Na los, Kurt, raus damit. Wo?“
„Lafayette Park. Direkt auf der anderen Straßenseite.“
KAPITEL ELF
9:21 Uhr Eastern Daylight Time
Lafayette Park, Washington, D.C.
Es war wunderschön mit anzusehen.
Man nannte ihn auch Park des Volkes und heute war das Volk tatsächlich hier versammelt.
Nicht die gewöhnlichen Besucher des Parks. Nicht die zahllosen verwilderten, nutzlosen, radikalen, ungewaschenen Verlierer, die die Politik des Präsidenten protestierten, egal wer an der Macht war.
Nein. Nicht das Volk.
Das hier war sein Volk. Ein sprichwörtliches Meer an Menschen – tausende, zehntausende – die letzte Nacht die Nachricht über soziale Medien verbreitet hatten, dass er heute hier sein würde. Es war eine verdeckte Operation gewesen, ein Messer im Rücken, die Art von Aktion, die Gerry O’Brien besonders gut beherrschte. Er hatte die Erlaubnis der Stadt gestern Nachmittag kurz vor Feierabend bekommen und die Nachricht hatte sich über Nacht wie ein Lauffeuer verbreitet.
Jetzt waren sie alle hier in ihren riesigen Abraham Lincoln-Hüten und mit ihren Schildern – handbemalte Schilder, offizielle Schilder seiner Kampagne, oder professionell angefertigte Banner einer der dutzend Organisationen, die ihn unterstützten. Die meisten Menschen hatten sich in dicke Mäntel gehüllt, um sich vor der frühzeitigen Kälte zu schützen.
Jefferson Monroe blickte von der Bühne auf die Menschenmasse vor ihm – es sah aus wie ein Rock’n’Roll-Festival – und er wusste, dass er für diese Art von Moment wie geschaffen war. Er war 74 Jahre alt und hatte zahlreiche Siegestouren hinter sich: ob in seinen Anfängen als jugendlicher Schläger in Appalachia, oder als wütender junger Streikanzettler, als ambitionierter Firmenchef oder schließlich als wichtiger Aktionär und Vorsitzender der Kohleindustrie.
Später war er Senator West Virginias geworden und ein konservativer politischer Königsmacher, der stark von der Kohleindustrie unterstützt wurde, für die er einst gearbeitet hatte. Und jetzt… gewählter Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten. Lebenslange harte Arbeit, lange Jahrzehnte, in denen er die Leiter von ganz unten bis nach oben geklettert war. Und plötzlich, ganz überraschend (ein Ergebnis, dass niemand erwartet hatte, am wenigsten er selbst), war er der mächtigste Mann der Welt.
Hier war er jetzt, um die amtierende Präsidentin dazu anzuhalten, das Weiße Haus verfrüht zu verlassen und das Amt an ihn abzutreten. Etwas Gewagteres hatte kaum jemand bisher versucht. Hinter der Menschenmenge und über den Park hinweg konnte er das Weiße Haus sehen, wie es auf dem grünen Rasen hervorragte. Ob sie ihn wohl sehen konnte? Sah sie ihm zu?
Gott, er hoffte es.
Er wandte sich für einen Moment von der Menge ab. Hinter ihm auf der Bühne war ebenfalls eine kleine Menge versammelt. O’Brien war hier, der Drahtzieher hinter seiner Kampagne, der dunkle Herrscher der Weißen Rassistengruppen, ein Mann, der mindestens so viel Antrieb wie Monroe selbst hatte. Sogar in diesem Moment bellte er noch Anweisungen in sein Handy.
„Denkt an den Vogel“, schien Gerry der Hai zu sagen. Hatte er richtig gehört? Denkt an den Vogel? Was für eine merkwürdige Anweisung. Was meinte er damit?
„Sorgt dafür, dass er da ist, klar? Er soll genau so landen, wie wir besprochen haben. Sag mir, dass ihr das schafft. Okay? Gut. Wann?“
Monroe zuckte innerlich mit den Schultern. Mit Gerry zu arbeiten war mehr als eine Achterbahnfahrt – es war geradezu surrealistisch. Er entschied sich, seinen engsten Berater momentan zu ignorieren. Stattdessen wandte er sich an die anderen, die mit ihm auf der Bühne standen.
„Könnt ihr das sehen?“, sagte er, während er das Mikrofon mit seiner Hand abdeckte und auf die Menschenmenge deutete. „Könnt ihr das sehen?“
„Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe“, sagte ein junger Assistent.
Hinter ihm fingen die Menschen an zu klatschen – kein Durcheinander, sondern ein rhythmisches Klatschen von tausenden von Händen gleichzeitig – KLATSCH, KLATSCH, KLATSCH, KLATSCH…
Ein Gesang stieg langsam auf. So fing es an, erst das Klatschen, manchmal ein Stampfen mit den Füßen. Und langsam kamen die Stimmen dazu.
„U-S-A! U-S-A! U-S-A!“
Das war ein guter Anfang.
Monroe nahm seine Hand vom Mikrofon und ergriff das Podium. Er hob die andere Hand und der Gesang hörte innerhalb weniger Sekunden auf. Es war, als würde er die Lautstärke eines Fernsehers oder eines Radios herunterdrehen. Aber es war kein Lautstärkeregler, es waren tausende von Menschen, die er kontrollierte, ganz selbstverständlich, mit nur einer Handgeste. Nicht zum ersten Mal bewunderte er selbst, was für eine Macht er hatte. Wie ein Superheld.
Oder ein Gott.
„Wie fühlt sich die globale Erwärmung so an?“, fragte er und seine Stimme hallte über das Parkgelände. Die Menge lachte. Monroe wusste von zahlreichen Klimawissenschaftlern, die seine Kampagne angestellt hatte, dass die globale Erderwärmung ein unwiderlegbarer Fakt war und innerhalb des nächsten Jahrhunderts oder bereits früher eine Bedrohung für die gesamte Menschheit werden würde. Als Präsident würde er nach Möglichkeiten suchen, die diese Bedrohung abschwächen konnten, ohne der Industrie zu sehr zu schaden. Gleichzeitig würden seine eigenen Firmen ihre Investitionen in erneuerbare Energien erhöhen – Solar-, Wind- und Geothermaltechnologien, in denen die Zukunft lag.
Doch seine Anhänger wollten davon nichts wissen. Sei wollten hören, dass die globale Erwärmung nur ein Schwindel war, der zum großen Teil von Chinesen verbreitet wurde. Also war das, was Monroe ihnen sagen würde. Gib den Leuten, was sie wollen. Und es war sowieso kalt heute, unverhältnismäßig kalt für einen frühen Novembertag und das war doch Beweis genug – niemand konnte guten Gewissens behaupten, dass sich hier irgendetwas erwärmte.
„Heute ist unser Tag, wisst ihr das?“
Die Menge jubelte in lauter Zustimmung.
„Wir haben uns aus dem Nichts hochgearbeitet, ihr und ich. Okay? Wir sind aus dem Nichts gekommen. Wir sind nicht in teuren Penthäusern in Manhattan, San Francisco oder Boston aufgewachsen. Wir sind nicht auf besondere Privatschulen für besondere Menschen gegangen. Wir schlürfen keinen teuren Café Latte oder lesen die New York Times. Wir kennen diese Welt nicht. Wir wollen sie gar nicht kennen. Ihr und ich, wir haben unser ganzes Leben lang hart gearbeitet und verdient, was wir jetzt haben und was wir jemals haben werden. Und heute ist unser Tag.“
Ihr Jubeln war wie eine Explosion – ein Erdbeben. Es schien, als würde sich ein riesiges Ungeheuer unter der Erde bewegen, das seit Jahrhunderten geschlummert hatte und nun jeden Moment erwachen und voller Gewalt hervorbrechen würde.
„Heute ist der Tag, an dem wir eine der korruptesten Regierungen der amerikanischen Geschichte stürzen werden. Ja, ich weiß, ich weiß. Sie hat gesagt, sie will nicht gehen, aber ich sage euch etwas. Das wird nicht lange halten. Sie wird gehen und zwar viel schneller, als auch nur irgendwer momentan vermutet. Es wird auf jeden Fall schneller geschehen, als sie es vermutet, so viel ist sicher.“
Der Jubel ging weiter und weiter. Er wartete darauf, dass die Menge sich beruhigte. Monroes Anhänger hassten Susan Hopkins. Sie hassten sie und alles, wofür sie stand. Sie war reich, sie war schön, sie war verwöhnt – ihr hatte es in ihrem gesamten Leben an nichts gefehlt. Sie war eine Frau in einem Amt, das seit jeher ein Mann besetzt hatte.
Sie stand Einwanderern freundlich gesinnt gegenüber, und den Chinesen, deren billige Arbeitspraktiken den amerikanischen Way of Life zerstört hatten. Sie war eine Hedonistin, ein ehemaliges It-Girl und sie schien alle Vorurteile zu bestätigen, die konservative Familien über Prominente hatten. Um Gottes Willen, ihr Ehemann war schwul! Er war ein gebürtiger Franzose. Konnte es auch nur irgendetwas unamerikanischeres geben als einen schwulen Franzosen?
Susan Hopkins war in den Augen dieser Menschen ein Monster. In den Untiefen von Verschwörungsforen im Internet gab es sogar Leute, die behaupteten, dass sie und ihr Mann Mörder waren oder vielleicht sogar Schlimmeres. Sie waren Teufelsanbeter. Sie gehörten einem satanistischen Kult der Ultrareichen an, der kleine Kinder entführte und opferte.
Nun ja, heute würde Monroe auf zumindest auf die Mörder-Theorie eingehen. Er wünschte sich so sehr, dass er in das Oval Office blicken könnte, um ihr Gesicht zu sehen, wenn er die Neuigkeiten ankündigte.
Die Menge hatte sich inzwischen beruhigt. Sie warteten auf ihn.
„Ich möchte, dass ihr mir gut zuhört“, sagte er. „Denn was ich euch jetzt erzähle, mag ein wenig kompliziert sein und es ist nicht leicht mit anzuhören. Aber ich werde es euch verraten, da die Wahrheit ans Licht kommen muss. Ihr, das amerikanische Volk, ihr wahren Patrioten, verdient es, die Wahrheit zu hören. Das ist sehr wichtig. Es geht um unsere Zukunft.“
Jetzt hatte er sie in der Hand. Sie waren so weit. Er war kurz davor, die Bombe zu zünden. Jefferson Monroe machte sich innerlich bereit.
„Fünf Tage vor der Wahl wurde eine Leiche nahe des Tidal Basin, genau hier in Washington, D.C. aufgefunden.“
Die Menge war still. Eine Leiche? Das war neu. Das war nicht gerade ein typisches Thema für eine Jefferson Monroe Wahlveranstaltung. Es schien, als würden ihn tausende Augen gleichzeitig anstarren. Nein, es schien nicht nur so, das war tatsächlich, was gerade passierte. Erzähl uns mehr, schienen diese großen, leeren Augen zu schreien. Erzähl uns alles.
„Zuerst schien es so, als hätte der Mann Selbstmord begangen. Er wurde in den Kopf geschossen, die Waffe wurde nahe der Leiche gefunden und sie war voll mit seinen Fingerabdrücken. Sein Tod schaffte es nicht gerade in die Schlagzeilen – Menschen sterben jeden Tag und viele von ihnen nehmen sich selbst das Leben. Doch ich wusste es einfach. Ich wusste schon da, dass dieser Mann keinen Selbstmord begangen hat.“
Die Augen wichen nicht von ihm ab. Tausende und abertausende Augen.
„Woher ich das wusste?“
Niemand sagte auch nur ein Wort. Jefferson Monroe hatte noch nie eine so große Menschenmenge gesehen, die so still war. Sie spürten, dass etwas Großes auf sie zukam.
„Ich wusste, dass er keinen Selbstmord begangen hat, da ich den Mann persönlich kannte. Ich würde fast sagen, dass er mein Freund war. Sein Name war Patrick Norman.“
Jefferson war es gewohnt, Lügen zu erzählen. Doch trotzdem spürte er, im Gegensatz zu manch anderem Politiker, jedes Mal ein innerliches Zwicken. Es war kein Schuldbewusstsein. Es war eher die Tatsache, dass irgendwo da draußen irgendjemand die Wahrheit kannte, und dass diese Person unermüdlich daran arbeiten würde, dass diese Wahrheit ans Licht kam. Tatsächlich waren mindesten drei Personen direkt hinter ihm, die die Wahrheit kannten. In der Organisation waren insgesamt bestimmt noch ein Dutzend weitere. Sie wussten, dass Jeff Monroe noch nie in seinem Leben mit Patrick Norman gesprochen hatte.
Er erzählte weiter.
„Patrick Norman hatte keine Selbstmordgedanken – bei weitem nicht. Ganz im Gegenteil, er war einer der besten und erfolgreichsten Privatdetektive in den ganzen USA und er hat eine Menge Geld verdient. Ich weiß, was er verdient hat, da ich ihn selbst bezahlt habe. Er arbeitete für meine Kampagne, als er ermordet wurde.
„Wahlkampagnen sind ein dreckiges Geschäft, meine Freunde. Ich habe keine Hemmungen, das zuzugeben. Manchmal tut man Dinge, auf die man nicht stolz ist, um einen Vorteil gegenüber seinen Gegnern zu erhaschen. Und ich hatte Patrick angestellt, damit er den Dreck ausgräbt, den die Hopkins-Regierung und die Geschäfte des Ehemanns der bald ehemaligen Präsidentin, Pierre Michaud, am Stecken haben. Okay? Versteht ihr langsam, worauf ich hinauswill?“