KAPITEL EINS
Null lag im auf seinem Bauch, während der Schnee um ihn wehte. Er hoffte, dass er tief genug am Boden und weit genug entfernt von der Hütte war, um versteckt zu bleiben, während die Sonne über der Prärie unterging. Er rügte sich selbst dafür, dass er nicht daran gedacht hatte, weiße Kleidung zu tragen. Die synthetische Jacke mit Fleece-Fütterung war beige. Theoretisch recht nah an weiß, doch zweifellos stach sie im reinen Weiß des Schnees stark hervor. Die Balaclava-Kopfmaske war schwarz - nun ja, es war schwer sie in einer anderen Farbe zu bekommen, insbesondere, weil er so kurzfristig aufgebrochen war.
Er hielt sich das Fernglas wieder an die Augen und beobachtete die Hütte in der Ferne. Immer noch keine Bewegung. Er war sich jedoch sicher, dass dies der richtige Ort war. Es stellte sich nur die Frage, ob sein Zielobjekt sich gerade darin befand.
Null wünschte, er hätte eine bessere Ausstattung. Er war nur wage darüber informiert, was ihn möglicherweise erwarten würde. Nichts Gutes. Er hatte die Kleidung für kaltes Wetter, die er trug. Er hatte das Fernglas. Er hatte eine Waffe, eine kleine, silberne Walther PPK mit einem drei Komma drei Zoll Lauf und sechs Schuss Kapazität. Viele glaubten, dass das PP für „Pocket Pistol” stand, da man sie so einfach verstecken konnte. Doch es stand eigentlich für Polizeipistole. Das war noch amüsanter, da sie gerade in seiner rechten Jackentasche versteckt war.
Null hatte kein Funkgerät, keinen Bewegungssensor, keine Abhörgeräte, nicht einmal ein Telefon. Die CIA könnte ihn durch ein Telefon orten… oder vielleicht noch schlimmer, seine Tochter Maya könnte ihn durch ein Telefon orten. Sie hatte keine Sekunde geglaubt, dass er einen Termin bei einem Nervenspezialisten in Kalifornien hatte, um die Traumaverletzung seiner Hand, die er sich ein paar Jahre zuvor zugezogen hatte, behandeln zu lassen. Wie immer hatte sie recht.
Null war nicht in Kalifornien. Er war nicht einmal in den Vereinigten Staaten. Stattdessen lag er halb begraben in einer Schneebank in der nordöstlichen Ecke von Kanadas Provinz Saskatchewan. Da er sich mit einer Papierkarte und Stiften abfinden musste, hatte er nur eine neblige Ahnung, wo genau er in Bezug auf einen anderen Ort war. Die Landschaft war kaum mehr als ein weiter Streifen Prärie, so weit das Auge blicken konnte. Sie wurde nur von einem gelegentlichen, blattlosen Baum und Schnee unterbrochen, der vom Wind hier und da in kleine Wellenformen geweht wurde.
Und natürlich die Hütte.
Sie stand etwa fünfhundert Meter von seinem derzeitigen Standort entfernt und war ein einstöckiges, rechteckiges Gebäude, das weder alt noch modern aussah. Sie hatte in etwa die Größe und Form eines Sattelzugs (Null nahm an, dass sie auf diese Weise hier hergebracht wurde) und man hatte sie kurzerhand auf ein Fundament von Zementblöcken gestellt. Einige von ihnen schienen durch das Gewicht der Hütte etwas eingesunken, weshalb das Gebäude in einem Winkel von etwa drei Grad stand.
Auf der östlichen Seite der Hütte sah Null eine Edelstahlzisterne, die wohl benutzt wurde, um geschmolzenen Schnee und Grundwasser zu sammeln. Selbst aus dieser Entfernung konnte er das leise Brummen eines Dieselgenerators hören, doch er sah ihn von seinem Blickwinkel aus nicht. Auf dem Dach befanden sich klar sichtbar zwei kleine Solarpanels. Die Hütte war klein, selbstversorgend und fast unabhängig vom Netz.
Fast, denn sonst hätte er sie vielleicht nie gefunden.
Es fühlte sich wie Stunden an, bis die Sonne endlich hinter dem Horizont verschwand. Das Flachland verdunkelte sich ausreichend, damit Null sich nun frei bewegen konnte. Dafür war er dankbar, denn die Temperaturen sanken in der Nacht so stark, dass sie selbst seine Vorsichtsmaßnahmen gegen die Kälte durchstachen. Das nördliche Saskatchewan war im Februar alles andere als gemütlich.
Bevor er vorsichtig zur Hütte aufbrach, führte er in seinen Gedanken einen schnellen Check durch. Das war eine Übung, die er erst täglich durchgeführt hatte, dann fast stündlich, und jetzt war sie zu seiner zweiten Natur geworden. Er wollte damit sicherstellen, dass sein Gedächtnis nicht aufgab oder verlorenging. Zuerst dachte er an seine Töchter, Maya und Sara, achtzehn und sechzehn Jahre alt. Er rief sich ihre Namen, ihre Gesichter, ihr Alter und den Klang ihres Lachens ins Gedächtnis. Dann dachte er an Maria Johansson, ihr wallendes, blondes Haar und die schiefergrauen Augen, die es irgendwie schafften, gleichzeitig matt und leuchtend auszusehen. Schließlich dachte er an Kate, seine verstorbene Frau.
„Kate.“ Er murmelte sogar ihren Namen, eher aus Gewohnheit als aus allem anderen, wie ein „Amen“, das ein kurzes Gebet beendet. Ihr Name war das erste große Ding, das er vergessen hatte, als seine latenten Gedächtnislücken begannen aufzutreten. Er erinnerte sich an ihren Namen. Er erinnerte sich an ihr Gesicht. Ihren Duft, ihr Lachen und das winzige Zischen von kochendem Atem, wenn sie wütend wurde. Er erinnerte sich daran, dass sie von einem ehemaligen CIA-Agenten namens John Watson ermordet worden war. Er war ein Mann, den Null einst Freund genannt hatte. Ein Mann, der geflüchtet und untergetaucht war, nachdem Null sich entschlossen hatte, ihn nicht zu töten.
Und dann bewegte er sich langsam und vorsichtig auf die Hütte zu, rollte von der Ferse bis zur Zehe ab und verlagerte sein Gewicht bei jedem Schritt. Er konnte nicht viel dagegen tun, eine Spur im Schnee zu hinterlassen, doch zumindest könnte er geräuschlos auftreten.
Mit der Übung, der „mentalen Checkliste“, wie er sie nannte, wollte er nicht nur sicherstellen, dass er nicht vorübergehend etwas vergessen hatte. Vor ein wenig mehr als acht Wochen hatte er den schweizer Neurologen Dr. Guyer besucht. Er war der Mann, der ihm den Gedächtnishemmer ursprünglich in seinen Kopf implantiert hatte. Er war ebenfalls derjenige, der Null unmissverständlich mitgeteilt hatte, dass sein Gehirn sich weiterhin in einer unbekannten Geschwindigkeit verschlechtern würde, dass seine Erinnerungen verblassen und schließlich für immer verschwinden würden, und dass der Schaden an seinem limbischen System ihn letztendlich umbringen würde.
Das alles trug dazu bei, dass er sich mitten im Winter nachts an eine abgelegene Hütte in Saskatchewan heranschlich. Er musste zurück zum Anfang kommen, jemanden finden, der ihm mehr Antworten geben konnte. Das hoffte er zumindest.
Er hielt etwa fünfzig Meter vor der Hütte inne und ging auf ein Knie herunter. So verharrte er für mehrere Minuten, beobachtete sie ganz still. Null sah kein Licht im Inneren.
Energiesparplan, vielleicht? Oder möglicherweise waren die Fenster verbrettert. Es könnte auch keiner zu Hause sein. Doch jetzt konnte er das Brummen des Dieselgenerators noch deutlicher hören. Wenn da niemand drinnen war, warum war er dann angeschaltet?
Null stand auf und schlich sich weiter voran. Obwohl es Nacht war, konnte er dennoch die Fassade der Hütte erkennen und bemerkte keine Kameras, Detektoren oder automatischen Schießanlagen, die ihn zu Fetzen reißen würden, sobald er ihre Sensorreichweite betrat. So lächerlich es auch klang, das war eine legitime Sorge, wenn man bedachte, wer sein Zielobjekt war.
Da merkte er, dass seine Hand in seine Tasche gerutscht war und die PPK festhielt. Er ließ sie los. Er bräuchte die Waffe nicht, nicht hier. Er hatte sie nur zur Vorsicht mitgenommen.
Doch als Null nach der Eingangstür der Hütte griff, war er sich nur zu bewusst, dass seine sorgfältige Planung ihn nicht weiterbrächte. Er hatte sich das Szenario hundert Mal vorgestellt, besonders die Stunden, die er damit verbringen würde, in den Schneewehen zu liegen, doch er konnte nicht vorhersehen, was auf der anderen Seite der Tür auf ihn wartete. Wäre dies ein Angriff, dann wäre es vermutlich einfacher. Normalerweise würde er mit gezogener Waffe - bereit für alles - hereinstürzen. Erst schießen, später Fragen stellen.
Dieses Mal drehte er allerdings einfach am Türknauf. Er ließ sich leicht drehen, war unverschlossen. Er drückte die Tür auf und ging mit einem kleinen, vorsichtigen Schritt über die Schwelle. Wie er schon von draußen vermutet hatte, war die Hütte ganz dunkel. Doch der Generator brummte irgendwo hinter ihr.
Das ist eine Falle.
Gerade hatte sein Gehirn die Mitteilung versendet, da ging er schon einen weiteren, vorsichtigen Schritt vorwärts. Die Kachel unter seinem Fuß gab ein klein wenig nach, nicht mehr als einen halben Zentimeter.
Eine Druckplatte.
Null erstarrte.
„An deiner Stelle würde ich den Fuß nicht anheben.“ Die Stimme klang bekannt, doch schien von überall herzukommen, als ob sie durch ein omnidirektionales Mikrofon geschickt würde. „Hände bitte hoch.“
Null tat, was die Stimme ihm befahl. „Ich bin nicht bewaffnet“, sagte er. Nachdem er stundenlang draußen in der Kälte still war, klang seine Stimme heiser.
„Das bist du sehr wohl“, widersprach der Ingenieur einfach. „Du lagst etwa vier Stunden in der Schneewehe. Aus zwei von den Bäumen beobachteten dich versteckte Kameras. Ein großer Fels, an dem du vorbeikamst, war in Wirklichkeit ein Körperscanner. Du trägst eine Pistole in deiner rechten Jackentasche. Behalte einfach die Hände oben und deinen Fuß unten.“
Ein Licht sprang an, eine helle, weiße LED, die Null blinzeln ließ. Dahinter erschien eine Silhouette aus einem kleinen Hinterzimmer.
„Bixby“, sagte Null.
Die Silhouette hielt inne.
Null erhob langsam seinen Arm und tat, was er hätte tun sollen, bevor er überhaupt die Hütte betrat. Er ergriff den Stoff der Gesichtsmaske und zog sie sich vom Kopf. Sein Haar war zerzaust und einzelne Strähnen klebten an seiner verschwitzten Stirn.
„Oh“, sagte Bixby. Man konnte die Enttäuschung in seiner Stimme hören. „Ich habe nicht angenommen, dass sie dich schicken würden. Aber ich hätte es mir wohl denken sollen.“
„Haben sie nicht“, beharrte Null ruhig. Beide Hände hielt er dabei immer noch in der Nähe seiner Ohren erhoben. „Ich verspreche, dass sie mich nicht geschickt haben. Niemand hat mich geschickt. Ich bin allein gekommen.“
Bixby ging einen Schritt voran, versicherte sich, dass er außerhalb seiner Reichweite, aber nah genug an Null war, damit er ihn besser sehen konnte, gerade am Rand des Scheins der LED. Als er den exzentrischen CIA-Ingenieur und Erfinder das letzte Mal sah, trug Bixby ein hell-violettes Seidenhemd unter einer schwarzen Weste. Er hatte immer noch seine charakteristische Hornbrille, doch jetzt trug er ein einfaches Flanellhemd und blaue Jeans. Er hatte sich seit einigen Tagen nicht rasiert und der Stoppel seines grauen Barts passte zu seinem graumelierten Haar, das er scheinbar hastig gekämmt hatte. Dies geschah wohl eher aus Gewohnheit und Hygiene, als dass es ihm wirklich wichtig wäre.
Er hatte Ringe unter den Augen und seine Haut schien etwas fahl. Null stellte sich vor, dass Bixby in den zwei Monaten, seit denen er vor der CIA auf der Flucht war, nicht viel geschlafen hatte.
„Woher weiß ich, dass du mir die Wahrheit sagst?“ fragte Bixby vorsichtig.
„Du sagtest, dass du mich gescannt hast, stimmt’s? Ich habe die Pistole zur Sicherheit mitgebracht.“ Beim Aussprechen dieses Satzes bemerkte er, dass er sich wie eine faule Ausrede anhören musste. Besonders für den Mann, der glaubte, dass Null hier war, um ihn zu töten. „Ich habe kein Telefon. Kein Radio. Keine Ortungsgeräte. Das hättest du gesehen.“
Bixby zuckte leicht mit einer Schulter. „Das reicht mir nicht.“
„Wir sind Freunde.“
„Wir waren—“
„Das sind wir“, beharrte Null. Er konnte den Augen des älteren Mannes ablesen, dass er es wirklich glauben wollte. Wie oft hatte Bixby ihn für einen Einsatz vorbereitet? Wie viele schlechte Witze hatten sie ausgetauscht? Es war lächerlich zu denken, dass Null hier war, um ihn umzubringen - zumindest fand er das. Doch Bixby konnte nicht zu vorsichtig sein. Nicht nach dem, was er getan hatte.
Zwei Monate zuvor hatten Null und sein Team eine Bande chinesischer Söldner und ihre russische Anführerin davon abgehalten, einen Nuklearreaktor in einer Anlage in Calvert Cliffs zu schmelzen. Bixby hatte geholfen, Veränderungen an einer Maschine namens OMNI durchzuführen. Es handelte sich um einen CIA-Supercomputer, der fähig war, jegliches Handy, Tablet, Computer, Radio oder Smartgerät in den USA abzuhören. Der Computer war eigentlich streng geheim, denn er war extrem unmoralisch, höchst illegal und irrwitzig teuer.
Bixbys Veränderungen an OMNI fügten dem Supercomputer irreparablen Schaden zu. Da er nicht nur derjenige war, der den Schaden ausgelöst hatte, sondern auch der Einzige, der ihn reparieren konnte, hatte sich Bixby dazu entschieden zu fliehen und unterzutauchen. Beide Männer in der Hütte bezweifelten nicht, dass es weder Festnahmen, noch eine Verhandlung oder Gefängnisstrafe gäbe, wenn die CIA ihn jemals fände. Es gäbe nur eine Kugel und ein seichtes Grab, weshalb Null auch alle Vorsichtsmaßnahmen traf, um hierher zu gelangen.
„Wie hast du mich gefunden?“ wollte Bixby wissen.
„Könntest du bitte vorher entschärfen, worauf ich gerade stehe?“ fragte Null und zeigte mit dem Kinn auf die Druckplatte unter seinem Fuß. „Was ist das überhaupt? Eine Mine?“
„Natürlich nicht“, erwiderte Bixby. „Bomben machen zu viel Dreck. Du kennst mich besser.“
„Ah.“ Wahrscheinlich eine Schallwaffe. Würde Null seinen Fuß von der Druckplatte nehmen, dann gäbe es vermutlich eine gut gezielte Schallexplosion, die sofortigen Schwindel und Übelkeit auslösen, ihm fürchterliche Kopfschmerzen bereiten und womöglich seine inneren Organe zerreißen würde.
„Zieh deine Jacke aus“, ordnete ihm Bixby an. „Langsam. Und wirf sie mir zu.“
Null tat, wie man ihm befahl. Zuerst zog er sich seine dicken Handschuhe langsam aus und dann öffnete er den Reißverschluss des mit Fleece gefütterten Anoraks und zog ihn aus. Er warf ihn von sich und Bixby fing ihn am Kragen auf. Erst dann griff der Ingenieur in seine eigene Hintertasche und zog eine kleine, schwarze Fernbedienung hervor. Er drückte auf einen einzelnen Knopf und nickte dann.
Trotzdem hielt Null den Atem an, als er seinen Fuß anhob und atmete erst wieder aus, nachdem nichts geschehen war. „Danke.“
„Setz dich da drüben hin“, sagte Bixby ausdruckslos. Null war so besorgt darüber, worauf er stand, dass er sich noch nicht im Raum umgesehen hatte. Sie waren in einem einzelnen Zimmer, das als Wohnzimmer, Esszimmer und Küche fungierte. Der hintere Raum musste ein winziges Schlafzimmer sein und er nahm an, dass es noch ein Bad und sonst nicht viel gäbe.
Null befolgte Bixbys Anweisung und setzte sich auf einen kleinen Holzstuhl.
„Wie hast du mich gefunden?“ fragte Bixby erneut.
„War gar nicht so einfach“, gab Null zu. Und das stimmte wirklich. Null hatte acht Wochen gebraucht, um die abgelegene Hütte zu orten, viel länger, als jegliche Mission, an der er jemals teilgenommen hatte. „Nachdem du verschwunden warst und die CIA deine Wohnung durchsucht hatte, ging ich dorthin. Ich habe mir angeschaut, was du mitgenommen und was du dagelassen hattest. Du hast deine Spuren ganz schön gut verwischt, doch ich bemerkte, dass all deine warme Kleidung verschwunden war. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass die Agentur wusste, dass du sie hattest. Ich wusste auch, dass du nicht in den USA bleiben würdest, also haben wir eine Liste mit den wahrscheinlichsten Ländern gemacht, in die du fliehen-“