Ein Foto einer dunkelhaarigen jungen Dame erschien auf den Bildschirmen. Es sah aus wie ein Foto, was für ein Schuljahrbuch aufgenommen worden war, oder für eine Art Preisverleihung. Das Mädchen lächelte fröhlich. Sie strahlte förmlich.
„Daria Shalit“, stellte Kurt vor. „Neunzehn Jahre alt und am Anfang ihres zweiten Jahres im Pflichtwehrdienst für die IDF.“
„Ganz schön hübsch“, sagte jemand.
Kurt reagierte nicht. Er seufzte schwer.
„Glauben Sie mir, Israel hat einige harte Diskussionen hinter sich. Vor ein paar Monaten wurde nun entschlossen, dass auch Frauen an den Grenzpatrouillen teilnehmen können. Es scheint, als wäre dieser Vorfall eine geplante Entführung von Shalit gewesen, oder von einer beliebigen jungen Dame, die auf Patrouille ist. Ein Angriffstrupp hat die Kidnapper bis über die Grenze verfolgt, ist aber zwei Kilometer Inland auf eine starke Opposition getroffen. Weitere vier Israelis wurden getötet, zusammen mit schätzungsweise zwanzig Militanten der Hisbollah.“
„Helena von Troja“, sagte ein Mann in einer grünen Militäruniform.
Kurt nickte. „Ganz genau. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft Israels waren beeindruckend. Es war wie ein Schlag in die Magengrube für sie, was vermutlich auch der Plan war. Unseren Informationen zufolge versucht die Hisbollah einen Krieg anzuzetteln, ähnlich dem, der 2006 stattgefunden hat. Wir denken, dass sie Israel in eine Falle locken wollen.“
„Die Hisbollah ist ganz schön hart drauf“, sagte der Uniformierte. „Es ist schwer, sie zu bekämpfen.“
„Amy“, sagte Kurt. „Die Hisbollah, bitte.“
Auf dem Bildschirm erschien ein Bild einer Gruppe von Männern, die mit erhobenen Bannern und Fäusten durch die Straßen marschierten. Kurt zeigte mit dem Laserpointer auf sie.
„Hisbollah – die Partei Gottes, oder die Armee Gottes, je nachdem, welche Übersetzung man bevorzugt – ist die weltweit größte und militärisch stärkste Terrororganisation. Sie wurden als Handlanger der iranischen Regierung gegründet und werden von ihr ausgebildet, finanziert und eingesetzt, mit Einsätzen in ganz Europa, Afrika, Asien und beiden amerikanischen Kontinenten.
„Wenn es um Terrorismus geht, ist die Hisbollah äußerst fähig. Unter schiitischen Muslimen wird sie weltweit anerkannt. Die Einsätze, die sie auf die Beine stellen können und die Organisation, die hinter ihnen steht ist genau das, was der IS sich für die Sunniten erträumt. In den Gegenden Libanons, in denen die Hisbollah Hoheitsterritorium besitzt, agieren sie häufig als de facto Regierung mit der vollkommenen Anerkennung der Bevölkerung. Sie betreiben Schulen, sorgen für Nahrung und Freizeit- sowie Arbeitsprogramme. Außerdem entsenden sie eine Handvoll gewählter Repräsentanten in das libanesische Parlament. Ihre Militärabteilung ist viel effektiver und auch stärker als das libanesische Militär. Aufgrund der religiösen Differenzen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen sind die Hisbollah und der IS verfeindet und haben einander geschworen, den jeweils anderen zu zerstören.“
„Und was ist so schlimm daran?“, fragte Susan halb im Scherz. „Der Feind unseres Feindes ist unser Freund, oder nicht?“
Der Anflug eines Lächelns machte sich auf Kurts Lippen breit. „Vorsicht. Die Hisbollah hat einen zeitlich unbegrenzten Heiligen Krieg gegenüber unseren Verbündeten in Israel ausgerufen. Laut der Hisbollah ist Israel eine existenzielle Bedrohung für die libanesische Gesellschaft und Palästina und muss mit allen Mitteln zerstört werden.“
„Und wie stehen ihre Chancen dafür?“, fragte Susan.
Kurt zuckte mit den Achseln.
„Sicher könnten sie Schaden anrichten, den wir nur schwer einschätzen können. Unseren derzeitigen Annahmen zufolge hat die Hisbollah zwischen fünfundzwanzig und dreißigtausend Kämpfer. Vielleicht zehn bis fünfzehntausend von ihnen haben bereits Kampferfahrung, entweder aus dem Krieg im Jahre 2006 oder aus direkten Konflikten mit dem IS im syrischen Bürgerkrieg. Wir glauben, dass bis zu zwanzigtausend der Truppen Ausbildung von der Iranischen Revolutionsgarde erhalten haben – fünftausend oder mehr sind sogar in den Iran gereist und wurden dort direkt trainiert.
„Die Hisbollah hat ein weites Netzwerk tiefer Tunnel und Befestigungen in der Hügelregion nördlich der Blauen Linie. Während des Krieges 2006 konnte Israel dieses Netzwerk nicht vollständig aus der Luft zerstören. Laut israelischer Geheimdienstinformationen sind ihre Anlagen heutzutage nur noch tiefer, verstärkter und ausgeklügelter als damals. Unsere eigenen Informationen besagen, dass die Hisbollah mehr als fünfundsechzigtausend Raketen und Flugkörper besitzt, außerdem Millionen Schuss an Munition für kleinere Feuerwaffen. Ihr Arsenal ist seit 2006 vermutlich um das Fünffache gewachsen. Seit den Anfängen der Hisbollah war der Iran stets zögerlich, wenn es um ihre Versorgung ging und hat ihnen nur langsame Kurzstreckenraketen zur Verfügung gestellt. Wir vermuten, dass dem immer noch so ist.“
„Und was unternimmt Israel?“, fragte der Mann in der grünen Uniform.
Kurt nickte. Hinter ihm auf dem Bildschirm tauchte die Blaue Linie wieder auf. Südlich von ihr erschienen kleine Symbole, die Soldaten repräsentierten.
„Nun kommen wir zum Eigentlichen. Die Israelis haben eine massive Einmarschtruppe an der Grenze versammelt. Unser Staatssekretär hat bereits mit dem israelischen Premierminister, Yonatan Stern, telefoniert. Yonatan ist ein Betonkopf, um es freundlich auszudrücken. Er ist besonders im rechten politischen Spektrum der israelischen Gesellschaft beliebt. Um diese Beliebtheit aufrecht zu erhalten, muss er etwas unternehmen. Er braucht einen entscheidenden Sieg, die Rückkehr ihrer entführten Soldatin – irgendetwas. Wir nehmen an, dass er die versammelte Truppe irgendwann in den nächsten Stunden über die Grenze schicken wird, was eine Invasion des Libanons darstellen würde.“
„Auf der anderen Seite könnte man sagen, dass Israel bereits vom Libanon attackiert wurde“, sagte der Uniformierte.
Kurt nickte. „Könnte man. Gleichzeitig mit der Invasion plant Stern Bombenangriffe zu fliegen. Wir haben von ihm verlangt, dass die Bombardierungen auf zwölf Stunden begrenzt werden, zivile Ziele meiden und nur bekannte Militärstützpunkte der Hisbollah anfliegen.“
„Was hat Yonatan dazu gesagt?“, fragte Susan. Yonatan Stern war nicht gerade ihr Lieblingsmensch. Man könnte sogar behaupten, dass sie sich nicht verstanden.
„Er hat gesagt, er würde unseren Rat in Betracht ziehen.“
Susan schüttelte den Kopf. „Yonatan ist genau wie jeder andere Mann. Er hat nichts lieber als Krieg und große Waffensysteme.“
Sie zögerte. Das alles schien ihr wie nur ein weiterer Schlagabtausch zwischen Israel und der Hisbollah, genau so wie die ganzen kleinen Gefechte zwischen Israel und der Hamas oder Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation davor. Hässlich, blutig, brutal und am Ende ohne wirkliches Resultat. Nur eine weitere Trainingsrunde für die nächste Trainingsrunde.
„Also, was unternehmen wir hier, Kurt? Was sind die Risiken und wie, schlagen Sie vor, sollen wir reagieren?“
Kurt seufzte. Sein kahler Kopf reflektierte die Lichter an der Decke. „Wie immer besteht die Gefahr, dass die Gefechte außer Kontrolle geraten und andere regionale Kämpfe verursachen. Die Hisbollah und Palästina sind Verbündete. Die Hamas nutzt solche Kriege der Hisbollah häufig als Deckmantel für ihre eigenen Guerillaangriffe in Israel. Syrien liegt im Chaos und hat verschiedene kleine, aber schwer bewaffnete Gruppen, die jede Instabilität ausnutzen wollen.
„In der Zwischenzeit stehen die großen Spieler, der Jordan, Ägypten, die Türkei und Saudi-Arabien Israel feindlich gegenüber. Und natürlich gibt es da immer noch den Iran, der größte und gemeinste Kerl in der Nachbarschaft. Sie stehen mit verschränkten Armen bedrohlich im Hintergrund, mit den noch größeren Russen hinter ihnen. Jeder der eben genannten ist natürlich bis zu den Zähnen bewaffnet.“
„Also lautet unser nächster Schritt?“
Kurt schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln. „Wir sollten vorsichtig sein. Die gesamte Region ist ein einziges Minenfeld und wir müssen aufpassen, wo wir hintreten. Israel ist einer unserer engsten Verbündeten und ein wichtiger strategischer Partner. Sie sind die einzige Demokratie, die in der gesamten Region herrscht. Gleichzeitig ist auch der Libanon unser langjähriger Partner. Der Jordan und die Türkei sind unsere Verbündeten. Wir beziehen den Großteil unserer ausländischen Stromversorgung aus Saudi-Arabien. Außerdem sind wir ein Abkommen eingegangen, dass wir den Frieden zwischen den Palästinensern und Israel schützen wollen und Palästina als souveränen Staat fördern.“
Er nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. „Ich würde sagen, unsere Aufgabe lautet, die Lage nicht noch weiter eskalieren zu lassen und darauf zu hoffen, dass diese ganze Sache in ein paar Tagen schon wieder vorbei ist – oder noch besser, in ein paar Stunden.“
Susan lachte fast laut auf. „Anders ausgedrückt sollen wir also Däumchen drehen.“
Jetzt lächelte Kurt. „Wir drehen Däumchen. Momentan sind uns sowieso die Hände gebunden.“
KAPITEL SECHS
12. Dezember
13:40 Uhr israelischer Zeit (06:40 Uhr Eastern Standard Time)
Tel Aviv, Israel
Die Nachrichten waren schlimm gewesen.
Die junge Frau saß auf einer Parkbank und sah ihrem jungen Sohn und ihrer Tochter, Zwillingen, dabei zu, wie sie auf der Schaukel spielten. Nicht weit von ihnen entfernt befand sich der beige, sechzehnstöckige Apartmentblock, in dem sie wohnten. Heute war niemand sonst hier und der Park war so gut wie leer.
Das war ungewöhnlich für einen so schönen Frühlingsnachmittag, aber kaum überraschend, wenn man die Umstände bedachte. Der Großteil der Bevölkerung schien sich in seinem Wohnzimmer aufzuhalten und saß wie festgeklebt vor Fernseh- und Computerbildschirmen.
Gestern Abend war Daria Shalit, eine neunzehnjährige Soldatin der Israelischen Verteidigungskräfte, nach einem Schlagabtausch mit Hisbollah-Terroristen, die einen Überraschungsangriff entlang der nördlichen Grenze gestartet hatten, verschwunden. Die anderen sieben Soldaten ihrer Patrouille – allesamt Männer – waren während des Gefechts ums Leben gekommen. Aber nicht Daria. Daria war einfach verschwunden.
IDF-Truppen hatten die Terroristen bis in den Libanon hinein verfolgt. Vier weitere Israelis waren während der Kämpfe dort umgekommen. Elf junge Männer – das Beste, was die israelische Jugend zu bieten hatte – waren innerhalb einer Stunde gestorben. Aber das war es nicht, was das Land momentan beschäftigte.
Das Schicksal Darias war im Laufe der Nacht geradezu fieberhaft von der Bevölkerung verfolgt worden. Wenn die junge Frau ihre Augen schloss, konnte sie Darias hübsches Gesicht und ihre dunklen Augen vor sich sehen. Sie lächelte und hatte ein Maschinengewehr in der Hand. Sie posierte mit Freunden an einem Mittelmeerstrand, grinste, während sie ihr Abschlusszeugnis erhielt. So wunderschön und immer mit einem Lächeln auf ihren Lippen, als wäre ihre Zukunft zum Greifen nah.
Die Frau schloss jetzt tatsächlich ihre Augen und ließ Tränen ihre Wangen herunterströmen. Sie hob eine Hand zum Gesicht, sodass ihre Kinder nicht mitansehen mussten, dass sie weinte. Ihr Herz schmerzte wegen eines Mädchens, das sie niemals selbst kennengelernt hatte und doch so gut zu kennen schien, als wenn Daria ihre eigene Schwester gewesen wäre.
Die Zeitungen riefen nach blutiger Rache und verlangten die vollständige Auslöschung des libanesischen Volkes. In der Knesset, dem Parlament Israels, hatte es im Laufe der Nacht hitzige Debatten gegeben und die Regierung hatte Drohungen ausgesprochen und die Rückkehr des Mädchens verlangt. Noch hatte es keine Handlungen gegeben, aber es war spürbar, dass sich eine Wut stärker und stärker aufbaute, die irgendwann zu explodieren drohte.
Vor wenigen Stunden hatten die Bombardierungen begonnen.
Israelische Kampfflieger ließen wahre Bombenteppiche über dem Südlibanon, dem Hauptsitz der Hisbollah und bis in den Norden nach Beirut nieder. Jedes Mal, wenn es im Fernsehen eine weitere Ankündigung gab, schrien und jubelten die Nachbarn der Frau in ihren Wohnungen.
„Tötet jeden Einzelnen von ihnen!“, schrie ein alter Mann voller Triumph. Seine raue Stimme war durch die dünnen Wände klar zu hören. „Tötet sie alle!“
Danach hatte die Frau ihre Kinder raus zum Spielen gebracht.
Jetzt saß sie hier im Park, weinte leise vor sich hin und ließ alles raus, während sie den Geräuschen und Gesprächen ihrer Kinder lauschte. Sie waren so unschuldig und doch würden sie von Feinden umgeben aufwachsen, die es nur zu gerne mit ansehen würden, wie man ihnen die Kehle durchschnitt und sie ausbluten ließ.
„Was sollen wir nur tun?“, flüsterte die Frau. „Was sollen wir nur tun?“
Die Antwort kam in Form eines neuen Geräuschs, zuerst leise und weit weg, das sich unter die Spielgeräusche ihrer Kinder mischte. Doch schon bald kam es näher und wurde lauter, immer lauter. Es war ein Geräusch, das sie nur zu gut kannte.
Luftschutzsirenen.
Sie riss die Augen auf.
Ihre Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie starrten sie über den Spielplatz hinweg an. Die Sirenen waren inzwischen laut.
Unglaublich laut.
„Mama!“
Sie sprang von ihrer Bank und lief zu ihren Kindern. Unter ihrem Wohnkomplex war ein Luftschutzbunker – nur einen Viertelkilometer entfernt.
„Lauft!“, schrie sie. „Lauft nach Hause!“
Ihre Kinder rührten sich nicht. Sie rannte auf sie zu und sammelte sie auf. Dann lief sie los, je ein Kind unter einem Arm. Sie hätte niemals gedacht, dass sie so eine Kraft in sich hatte. Sie sauste über den Beton, ihre Kinder weinten jetzt laut, doch die Sirenen um sie herum waren lauter und wurden noch immer lauter.
Ihre Atmung schnappte.
Das Gebäude türmte sich über ihnen auf und sie kamen immer näher. Überall liefen Menschen, die bis vor wenigen Minuten noch unsichtbar gewesen waren, auf das Gebäude zu.
Plötzlich ertönte noch ein weiteres Geräusch – ein Geräusch, das so laut, so hoch war, dass die Frau dachte, dass ihr Trommelfell geplatzt wäre. Sie blickte auf und sah mit an, wie eine Rakete aus Richtung Norden über den Himmel flog. Sie schlug mit aller Wucht in die oberen Stockwerke ihres Gebäudes ein.
Der Erdboden unter ihren Füßen bebte vom Aufprall. Die Welt um sie herum schien sich zu drehen, während die oberen Stöcke des Gebäudes in einer riesigen Explosion verschwanden. Beton flog durch die Luft. Wie viele Menschen waren noch in ihren Wohnungen gewesen? Wie viele von ihnen waren jetzt tot?
Sie verlor das Gleichgewicht und ihre Kinder fielen auf den Boden. Sie krabbelte zu ihnen, schützte sie mit ihrem Körper, genau in dem Moment, als die Schockwelle auf sie auftraf. Dann folgte ein Hagel aus Schutt von der Explosion, winzige Steinchen und Splitter, ein Staub, der sie zum Würgen brachte, die Überreste der Alten und Bedürftigen, die ihre Wohnungen nicht rechtzeitig hatten verlassen können.
Die Sirenen hörten nicht auf. Der ohrenbetäubende Schrei einer weiteren Rakete heulte auf. Sie flog über ihre Köpfe hinweg und eine weitere Explosion zeigte an, dass sie ihr Ziel gefunden hatte.