Die Sirenen kreischten weiter und weiter.
Ein weiteres Mal ertönte das Geräusch einer Rakete. Es pfiff durch ihre Ohren. Die Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf. Sie zog ihre Kinder näher an sich heran. Das Geräusch war zu laut. Sie konnte es nicht einmal mehr begreifen. Es war, als ginge es über ihr Gehör hinaus, als wäre es ein Monster aus einer anderen Welt – ihr Verstand schaltete sich bei seinem Anblick einfach ab.
Zusammen mit der Rakete schrie die Frau auf, doch es schien, als würde sie kein Geräusch von sich geben können. Sie konnte nicht nach oben schauen. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie fühlte einen Schatten über sich, wie er das Tageslicht verdeckte.
Dann blitzte ein neues Licht auf, ein blendendes Licht.
Und danach nur Dunkelheit.
KAPITEL SIEBEN
06:50 Uhr Eastern Standard Time
Die Residenz des Weißen Hauses
Washington, D.C.
Das morgendliche Licht strömte durch die Jalousien, aber Luke wollte noch nicht aufstehen. Er lag auf dem Rücken in dem großen Bett und sein Kopf ruhte auf einem Berg Kissen.
Susan lag unter der Decke neben ihm. Die Präsidentin der Vereinigten Staaten lag mit ihrem Kopf auf seiner Brust und ihr kurzes blondes Haar strich über seine nackte Haut. Er bemerkte ein paar graue Strähnen, die ihr Stylist wohl übersehen hatte. Oder vielleicht war es Absicht gewesen – einem Mann verlieh ein wenig Grau Erfahrung, Seriosität, Gravitas.
Sie atmete tief ein und aus.
„Bist du schon wach?“, flüsterte er.
Er spürte, wie sie lächelte. „Natürlich, du Dummerchen. Ich bin schon seit über einer Stunde wach.“
„Woran denkst du?“, fragte er.
„Woran denkst du? Das ist hier die Frage.“
„Naja, ich mache mir Sorgen.“
Sie stellte ihre Ellenbogen auf, drehte sich um und sah ihn an. Wie immer verging ihm der Atem aufgrund ihrer Schönheit. Ihre Augen waren blassblau und in ihrem Gesicht konnte er die junge Frau sehen, die vor zwanzig Jahren die Titelseiten verschiedener Modemagazine geziert hatte. Für ihn schien es, als würde sie umgekehrt altern. Das konnte er schwören – in der kurzen Zeit, in der sie zusammen gewesen waren, schien sie jeden Tag ein wenig jünger zu werden.
Ihr Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln und ihre Augen zeigten spielerisches Misstrauen. „Luke Stone macht sich Sorgen? Der Mann, der mit nur einem Handschlag ganze Terrornetzwerke auslöschen kann? Der Mann, der despotische Herrscher und Massenmörder noch vor dem Frühstück erledigt? Worüber könnte sich so eine Legende denn bitte Sorgen machen?“
Er schüttelte seinen Kopf und lächelte untypischerweise. „Genug damit.“
Um ehrlich zu sein, machte er sich sogar einige Sorgen. Die Dinge wurden langsam kompliziert. Er war ernsthaft darauf aus, seine Beziehung zu Gunner wieder geradezubiegen. Es lief auch gut – besser, als er gehofft hatte – aber Gunners Großeltern hatten immer noch das Sorgerecht. Luke dachte, dass das vielleicht besser so war. Ein Rechtsstreit um das Sorgerecht mit Beccas reichen und gehässigen Eltern – das würde sich lange hinziehen und sehr unangenehm für sie alle werden. Und was hätte er am Ende davon? Luke war schließlich immer noch im Spionagegeschäft. Wenn er tatsächlich zu ihm ziehen würde, würde Gunner nur ständig alleine sein. Ohne Aufsicht, ohne jemanden, der ihn erziehen konnte – das schien nicht besonders gut für ihn.
Außerdem war da noch die Lage mit Susan. Sie war die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Sie hatte eine eigene Familie und streng genommen war sie immer noch verheiratet. Ihr Ehemann, Pierre, wusste natürlich von Luke und war angeblich sogar glücklich für sie. Aber trotzdem hielten sie ihre Beziehung geheim.
Was wollte er sich vormachen? Sie hielten nichts daran wirklich geheim.
Ihr persönliches Sicherheitsteam wusste von ihm – das war schließlich ihr Job. Und das hieß, dass es wahrscheinlich ein Gerücht war, das sich bereits im gesamten Geheimdienst verbreitete. Zwei, drei Mal die Woche ging er spät abends noch durch den Sicherheitscheck. Oder meldete sich nachmittags als Gast an, meldete sich dann aber nicht mehr ab. Die Mitarbeiter, die die Videokameras überwachten, sahen, wie er die Residenz betrat und verließ und schrieben stets mit. Der Koch wusste, dass er Essen für zwei Personen zubereitete und die beiden Hausmädchen, die das Essen brachten, zwei nette ältere Damen, die ihn stets anlächelten, mit ihm plauderten und ihn „Mr. Luke“ nannten, kannten ihn natürlich auch.
Susans Stabschef wusste es, was bedeutete, dass Kurt Kimball es wahrscheinlich auch wusste, und weiß Gott, wen es noch alles gab.
Jede einzelne dieser Personen hatte eine Familie, Freunde und Bekanntschaften. Susan und er hatten Stammlokale, in denen sie frühstückten, zu Mittag aßen oder Bars, in denen sie sich regelmäßig aufhielten und die Stammgäste mit Geschichten aus dem Weißen Haus unterhielten.
Die Frage der Reporterin am Vortag ließ darauf schließen, dass das Gerücht bereits außer Kontrolle geraten war. Sie waren nur eine undichte Stelle, einen Anruf eines unzufriedenen Mitarbeiters bei der Washington Post oder bei CNN von einem ausgewachsenen Medienzirkus entfernt.
Das wollte Luke nicht. Er wollte nicht, dass Gunner ins Rampenlicht rückte. Er wollte nicht, dass sein Junge rund um die Uhr von einem Geheimdienstagenten begleitet werden musste. Er wollte nicht, dass Paparazzi ihm auflauerten oder vor seiner Schule auf ihn warteten.
Außerdem wollte Luke selbst die Aufmerksamkeit nicht. Es war besser für seinen Job, wenn er in den Schatten blieb. Er brauchte genug Freiheiten, um seine Missionen durchzuführen. Außerdem war da noch sein Team.
Und schlussendlich natürlich Susan selbst. Er wollte nicht, dass ihre Beziehung so auf die Probe gestellt werden würde. Es war ohnehin schon nicht einfach und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie lange durchhalten würden, wenn die Medien sie rund um die Uhr unter die Lupe nahmen.
Aber es war unmöglich, diese Probleme mit ihr zu besprechen. Sie war unglaublich optimistisch, sie war sowieso ständig in den Medien und ihr gefiel die Aufmerksamkeit sogar. Ihre Antwort war stets ein sorgloses: „Ach, das schaffen wir schon irgendwie.“
„Worüber machst du dir Sorgen, Mr. Luke?“, fragte Susan jetzt.
„Ich mache mir Sorgen …“, fing er an. Er schüttelte seinen Kopf. „Ich mache mir Sorgen, dass ich mich verliebe.“
Ihr strahlendes Lächeln erhellte das Zimmer. „Ich weiß“, sagte sie. „Ist es nicht toll?“
Sie küsste ihn hingebungsvoll und sprang dann wie eine Jugendliche aus dem Bett. Er beobachtete sie, während sie nackt durch den Raum zu ihrem Kleiderschrank schlenderte. Sie sah immer noch aus, als wäre sie in ihren Zwanzigern.
Zumindest fast.
„Ich möchte, dass du meine Töchter kennenlernst“, sagte sie. „Sie kommen nächste Woche und bleiben über Weihnachten.“
„Wundervoll“, sagte er. Beim Gedanken daran drehte sich ihm der Magen um. „Was sollen wir ihnen sagen, wer ich bin?“
„Sie wissen, wer du bist. Du bist ihr Superheld. James Bond, nur ohne die Glattrasur oder den schicken Anzug. Ich meine, es ist erst ein paar Jahre her, dass du Michaelas Leben gerettet hast.“
„Wir wurden einander nie wirklich vorgestellt.“
„Egal. Du bist so was wie ein Onkel für sie.“
In dem Moment fing das Telefon auf dem Nachttisch an zu klingeln. Es machte ein seltsames Geräusch, weniger ein Klingeln, sondern eher ein Summen, oder ein Brummen. Es klang wie ein erkälteter Mönch, der in seiner Meditation sang. Außerdem leuchtete es bei jedem Geräusch blau auf. Luke hasste dieses Telefon.
„Soll ich rangehen?“, fragte er.
Sie lächelte und schüttelte ihren Kopf. Er beobachtete, wie sie zurück durch das Zimmer ging. Einen kurzen Moment lang stellte er sich eine Welt vor, in der sie beide einen anderen Job hatten. Vielleicht sogar eine Welt, in der sie gar nicht arbeiten mussten. In dieser Welt könnte sie einfach zurück zu ihm ins Bett steigen.
Sie nahm den Hörer ab. „Guten Morgen.“
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, während sie der Stimme am anderen Ende der Leitung zuhörte. Ihr Lächeln verschwand. Auch das Licht in ihren Augen verdunkelte sich. Sie atmete tief ein und seufzte lang und ausgiebig.
„Okay“, sagte sie. „Ich bin in fünfzehn Minuten unten.“
Sie legte auf.
„Ärger?“, fragte Luke.
Sie sah ihn mit einem Ausdruck an – vielleicht ein Hauch von Angst – den die Bevölkerung niemals im Fernsehen zu sehen bekommen würde.
„Wann gibt es mal keinen Ärger?“, seufzte sie.
KAPITEL ACHT
07:30 Uhr Eastern Standard Time
Das Lagezentrum
Das Weiße Haus, Washington, D.C.
Der Aufzug öffnete sich und Luke betrat das ovale Lagezentrum.
Der große Kurt Kimball stand am anderen Ende des Raums. Seine Glatze strahlte im Licht und er erkannte Luke sofort. Kurt führte diese Meetings normalerweise mit einer eisernen Hand. Er hatte so ein tiefes, scheinbar intuitives und nahezu enzyklopädisches Wissen über das Weltgeschehen, dass ihm jeder ohne irgendwelche Fragen gehorchte.
„Agent Stone“, begrüßte er ihn. „Danke, dass Sie so früh hier sein konnten.“
Hörte er da einen Unterton in seinen Worten, vielleicht sogar Sarkasmus? Luke entschied sich, darüber hinwegzusehen.
Er zuckte mit den Schultern. „Die Präsidentin hat mich angerufen. Ich bin hergekommen, so schnell ich konnte.“
Er sah sich im Lagezentrum um.
Dieser Raum war ultramodern und viel mehr als nur ein simpler Konferenzraum – die Einrichtung war so optimiert, den vorhandenen Platz so gut es ging auszunutzen. Bildschirme waren alle paar Meter in die Wände eingelassen und eine riesige Leinwand hing am anderen Ende des Konferenztisches. Auf dem Tisch selbst befestigt befanden sich Tabletcomputer und kleine Mikrofone – sie konnten, wenn nötig, eingefahren werden, falls jemand sein eigenes Gerät verwenden wollte.
Jeder gepolsterte Ledersessel am Tisch war heute besetzt – Luke erspähte einige uniformierte Generäle sowie Beamte in teuren Geschäftsanzügen. Die meisten Anwesenden waren mittleren Alters und übergewichtig – Regierungsmitarbeiter, die viel Zeit in solchen gemütlichen Stühlen verbrachten und gerne ausgiebig aßen. Die Stühle sahen allesamt aus wie Kapitänssessel eines Raumschiffs, das gerade quer durch die Galaxie fliegt. Übergroße Armlehnen, gepolsterte Lederbezüge, hohe Rückenlehnen, ergonomisch korrekt und mit Lendenstütze.
Die Sitze entlang der Wände – kleinere, rot gepolsterte Stühle – waren voll mit jungen Assistenten und Assistentinnen, die Kaffee aus Plastikbechern schlürften, Nachrichten auf ihren Tablets eintippten oder leise in ihre Handys murmelten.
Susan saß in einem Ledersessel an Lukes Ende des Lagezentrums. Sie trug einen blauen Nadelstreifenanzug. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und hörte gerade einem jungen Assistenten zu. Luke versuchte, sie nicht anzustarren.
Nach einem kurzen Moment sah sie auf und nickte ihm zu.
„Agent Stone“, sagte sie. „Danke, dass Sie gekommen sind.“
Luke nickte. „Madam President. Natürlich.“
Kurt klatschte in seine riesigen Hände, als ob Lukes Ankunft das Signal gewesen wäre, auf das er gewartet hatte. Sein Klatschen klang, als wäre ein schweres Buch auf einen Steinboden gefallen. „Aufgepasst, alle miteinander! Ruhe, bitte.“
Stille machte sich im Lagezentrum breit. Zumindest fast. Ein paar Militärs am Konferenztisch ließen sich nicht dabei stören, sich weiter zu unterhalten.
Kurt klatschte erneut in die Hände.
KLATSCH. KLATSCH.
Sie sahen ihn an. Er hob seine Arme, als wollte er sagen: „Seid ihr jetzt fertig?“
Endlich wurde der Raum komplett still.
Kurt bedeutete einer jungen Frau, die in einem Stuhl zu seiner Linken saß, loszulegen. Luke hatte sie schon oft hier gesehen. Sie war Kurts unersetzliche Assistentin. Ihr rotbraunes Haar war zu einem kurzen Bob frisiert, so wie Susans – kurze Bobs waren unter jungen Frauen heutzutage äußerst beliebt. Das war natürlich auch den Zeitschriften und Tratschsendungen im Fernsehen aufgefallen. Kritiker nannten die Frisur den Hopkins-Bob, wenn sie ihnen gefiel und den Hopkins-Helm, wenn nicht. Für die jungen Damen, die sich ihr Haar so richteten, gab es allerdings nur einen allgemeingültigen Namen.
Susans Armee.
Luke gefiel diese Bezeichnung. Er trug zwar keinen Bob, aber er schätzte, dass auch er ein Teil von Susans Armee war.
„Amy, mach die Karten auf, bitte“, sagte Kurt. „Israel und den Libanon.“
Auf dem Bildschirm erschienen blaue und gelbe Symbole, die Explosionen darstellen sollten, im südlichen Libanon. Sie reichten im Norden bis zur südlichen Grenze von Beirut.
„Vor wenigen Stunden hat die israelische Luftwaffe mit ihrer Bombardierung begonnen. Sie greifen die Hisbollah-Tunnelsysteme und Stützpunkte entlang der Blauen Linie an, sowie die von der Hisbollah kontrollierten Stadtteile im Süden von Beirut. Das ist keine große Überraschung und wurde uns sogar von Yonatan Sterns Regierung gestern Abend bereits angekündigt.“
Auf dem Bildschirm tauchten nun rote Symbole in Israel auf. Insgesamt waren es vielleicht fünfzehn. Einen Augenblick später erschienen kleinere rote Symbole im Norden von Israel. Von diesen gab es Dutzende.
„Kurz nachdem Israel mit seinem Luftangriff begann, hat die Hisbollah damit angefangen, Raketen nach Israel zu schicken. Das ist nicht weiter ungewöhnlich für Schlachten zwischen den beiden Fronten. Der Krieg im Jahre 2006 verlief sehr ähnlich. Doch es gibt ein Problem. Seitdem hat die Hisbollah sich bessere Feuerkraft gesichert.“
Ein Foto einer großen Rakete auf einer mobilen Startplattform erschien.
„Das ist die Fateh-200, ein iranisches Waffensystem. Langstreckenrakete mit mehreren Sprengköpfen, die einiges an Schaden anrichten können. Werden sie aus dem Libanon gestartet, können sie nahezu jedes Ziel in Israel erreichen, außer vielleicht die nur leicht besiedelte Negev-Wüste im Süden. Mit ihrer ausgeklügelten Steuerung und Navigation hat die Hisbollah zum ersten Mal Möglichkeiten für Präzisionsschläge.“
Kurt hielt einen Moment inne. „Laut unseren Quellen verfügt die Hisbollah inzwischen über die Fateh-200. Wir glauben, dass sie bis jetzt ungefähr zwanzig bis dreißig dieser Raketen gestartet haben. Jede von ihnen trug bis zu zwölf Sprengköpfe. Sie haben zivile und militärische Ziele in Bevölkerungszentren in ganz Israel anvisiert, einschließlich Tel Aviv, dem westlichen Rand von Jerusalem, dem Zentrum von Haifa und anderen Städten. Israels Flug- und Raketenabwehrsystem, auch bekannt als Davids Schleuder, hat vielleicht zwei Drittel dieser Angriffe abgewehrt. Doch das hat nicht gereicht.
„Mehrere zivile Nachbarschaften wurden getroffen und zahlreiche Gebäude wurden zerstört. Einer der Sprengköpfe traf ein Ziel, das nur einen halben Kilometer von der Knesset entfernt war, Israels Parlament, während gerade eine Sitzung tagte.“
„Wie viele Tote gibt es bis jetzt?“, fragte Haley Lawrence, der Verteidigungsminister.
„Bis jetzt kennen wir nur die offiziellen Zählungen, die veröffentlicht wurden. Mehr als 400 zivile Opfer, tausende Verletzte und eine Menge Zerstörung und Panik. Zahlen über Militäropfer wurden bis jetzt noch nicht veröffentlicht, doch die Israelis bereiten sich auf einen totalen Krieg vor und rufen momentan sämtliche Reserven und einsatzfähige Veteranen dazu auf, sich zu melden. Sie haben ihre Bombardierungen im Libanon drastisch hochgefahren, vermutlich um die restlichen Fateh-200-Raketen zu zerstören, bevor sie gestartet werden können.“