„Dann kann er keine Machete getragen haben“, merkte Zoe an. „Zumindest nicht offen.“
„Und wenn er die Opfer kannte?“, fragte Shelley, den Blick auf die nicht weit entfernte Stadt gerichtet. „Die Orte sind nicht weit voneinander entfernt. Man könnte beispielsweise problemlos in dem einen Ort wohnen und in dem anderen arbeiten. Es ist also durchaus plausibel, dass der Täter zu beiden Opfern eine persönliche Verbindung hatte.“
„Die meisten Morde, bei denen eine persönlichen Verbindung zwischen Täter und Opfer besteht, sind emotional aufgeladene Affekthandlungen“, sagte Zoe und bezog sich dabei auf die Daten aus verschiedenen Fachbüchern zu diesem Thema. Diese Informationen hatte sie zwar verinnerlicht, aber es gab da etwas, das ihr auch die besten Lehrbücher nicht verständlich machen konnten: die sogenannte ‚Atmosphäre‘, die an einem Tatort herrschte. Aber bei diesem Fall wurde ihr allmählich klar, was damit gemeint sein musste. Einen Mord wie diesen musste man im Voraus planen und es war zu erkennen, dass der Täter nur genauso oft zugeschlagen hatte, wie es zum Abtrennen des Kopfes nötig gewesen war – er war also nicht in Rage geraten, sondern hatte den Mord in aller Ruhe begangen. „Hier wurde emotionslos und berechnend gehandelt.“
„Es könnte trotzdem eine persönliche Verbindung geben. Vielleicht hat ihn ja jemand langsam, aber sicher in den Wahnsinn getrieben. Vielleicht haben wir es mit einem Psychopathen zu tun.“
Das Wort ‚Psychopath‘ ließ Zoe immer noch innerlich zusammenzucken. Zu oft war es ihr selbst an den Kopf geworfen worden. Von ihrer eigenen Mutter, von Klassenkameraden, von all denen, die dachten, sie würde in bestimmten sozialen Situationen nicht angemessen, nicht sensibel genug reagieren. Ihr war schon immer klar gewesen, dass sie anders war, als die meisten ihrer Mitmenschen. Aber es hatte sehr lange gedauert, bis sie verstanden hatte, dass sie deswegen noch lange kein schlechter Mensch war.
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, fasste sie zusammen und unterdrückte dabei ihre eigene emotionale Reaktion. „Entweder ist er zunächst ganz unschuldig an ihr vorbeigelaufen, nur um sich dann umzudrehen und sie mit einer vorher versteckten Klinge anzugreifen – oder er hat zunächst ihr Vertrauen gewonnen. Entweder, weil sie sich bereits vorher kannten, oder irgendwie anders.“
„Dann müssen wir erstmal herausfinden, ob Lorna Troye und Michelle Young irgendwelche gemeinsamen Bekannten hatten“, sagte Shelley. Trotz ihrer dunklen Augenringe, die sie dem anstrengenden Nachtflug zu verdanken hatte, wirkte sie jetzt aufmerksam und voll konzentriert. Fast schon gespannt darauf, was sich aus dieser neuen Spur ergeben würde. „Und, hast du Lust, dir mit mir die Leiche anzusehen?“
Zoe setzte ihr zuliebe ein gezwungenes Lächeln auf. „Ich dachte schon, du fragst mich nie.“
KAPITEL SECHS
Das Labor des Gerichtsmediziners glich dem eines jeden anderen Gerichtsmediziners einer amerikanischen Kleinstadt, fand Zoe. Ein ungemütlicher Raum mit Metallbänken für die Leichen – nur zwei davon, denn normalerweise war hier nicht viel los. An einer Wand reihten sich neun vollkommen unschuldig aussehende Schubladengriffe hintereinander auf – und was sich dahinter verbarg, würden die meisten Menschen wohl als unsägliches Gräuel beschreiben. Zoe und Shelley hingegen machten diese Dinge schon lange nichts mehr aus, für sie war es ein Tag wie jeder andere.
„Das hier ist sie.“ Der Gerichtsmediziner, ein dicker Mann, dessen Gesicht dank seiner Brille dem einer Eule glich, zog mit einer übertrieben anmutenden, ruckartigen Bewegung eine der Schubladen heraus. Für einen kurzen Moment befürchtete Zoe, sie müsse gleich eine herunterpurzelnde Leiche mit den Armen auffangen, aber zum Glück schaukelte der Körper der Frau auf der Leichenmulde nur leicht hin und her.
Die Leiche wurde von einem weißen Laken abgedeckt – und an der Stelle, an der normalerweise der Kopf gewesen wäre, sackte das Laken einfach in sich zusammen. Zoe zog das Laken zurück, wohlwissend, dass Shelley inzwischen wahrscheinlich etwas übel war.
Es war ein grauenhafter Anblick. Auf dem nackten Frauenkörper zeichneten sich keinerlei Kampfspuren ab, wenn man davon absah, dass ihr Hals nun einem unsauber abgehackten Baumstumpf aus Fleisch und Blut glich. Unter dem rohen, rötlichen Fleisch waren die sauber, aber in mehreren, unterschiedlichen Einschnittwinkeln durchtrennten Knochen der Wirbelsäule zu erkennen. Die verschiedenen Einschnittwinkel deuteten auf mehrere Schnitte hin.
„Was hältst du davon?“, fragte Shelley mit leiser Stimme, die von dem Respekt vor der Toten zeugte, obwohl diese sie auch dann nicht hätten hören können, wenn sie noch am Leben gewesen wäre – schließlich hatte sie keine Ohren mehr.
„Mehrere Einschläge auf den Hals“, sagte der Gerichtsmediziner in trockenem Tonfall, schob dabei mit einem seiner dicken Finger seine Brille die Nase hoch und zeichnete mit der anderen Hand Schnittbewegungen in die Luft. „Wahrscheinlich eine leichte Klinge. Ich kann es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber ich würde auf eine Machete tippen. Davon würde man zumindest normalerweise ausgehen.“
„Normalerweise?“, fragte Zoe.
Der Gerichtsmediziner zuckte peinlich berührt mit den Schultern. „Na ja, ich habe so etwas zwar selbst noch nie gesehen“, sagte er. „Aber ich kenne die Statistiken. Eine Machete ist wahrscheinlicher als etwa ein Samuraischwert. Wobei das wohl die zweitwahrscheinlichste Variante ist. Es gibt Leute, die solche Schwerter aus Japan mitbringen oder im Internet bestellen.“
Zoe widerstand dem Drang, ihn darauf hinzuweisen, dass solche Schwerter eigentlich Katanas genannt wurden, und konzentrierte sich stattdessen auf die Leiche. Sie zählte die am Hals der Leiche sichtbaren Einschnittwinkel. Zwei mehr als am Tatort zu sehen gewesen waren, aber die ersten zwei waren so flach, dass die Tatwaffe dabei vermutlich nicht in den Boden eingeschlagen war. „Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viel Kraft bei den vier Schlägen aufgewendet wurde?“
„Auf jeden Fall nicht genug Kraft, um den Kopf mit einem Schlag abzutrennen“, sagte der Gerichtsmediziner. „Sie können die gegenläufigen Flächen hier und hier sehen: Jeder Einschlag erfolgte in einem leicht abweichenden Winkel, deshalb sieht man hier diese rauen Kanten und Unebenheiten … vier Einschläge, ja, genau wie sie gesagt haben.“
„Würden Sie den Täter als nicht besonders stark einschätzen?“, fragte Shelley, als sie sich endlich ein wenig von dem scheußlichen Anblick erholt hatte.
Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. „Lässt sich ohne Zeitmaschine schwer sagen. Ich kann nur die Einschlagskraft beurteilen. Aber ob das jetzt eine ältere Frau war, die unter Adrenalin stand und all ihre Kraft mobilisierte, oder ob hier Arnold Schwarzenegger am Werk war, der einfach einen schlechten Tag hatte? Keine Ahnung.“
„Können Sie nicht einmal sagen, ob wir nach einem Mann oder nach einer Frau suchen?“
„Nein, das kann ich auch nicht besser beurteilen als Sie“, erwiderte der Gerichtsmediziner. „Mit Blick auf Motiv, Gelegenheit und so weiter sind Ihre Kollegen vermutlich eher im Stande, diese Frage zu beantworten.“
Das war zwar keine besonders hilfreiche Antwort, aber sie war immerhin ehrlich. „Ich glaube wir haben genug gesehen“, sagte Zoe und machte einen Schritt zurück, damit der Mann genug Platz hatte, um den Leichenschrank wieder zu schließen.
„Danke Ihnen“, sagte Shelley zu dem Mann und folgte dann Zoe, die sich schon auf dem Weg in Richtung Ausgang befand.
Draußen war die Sonne inzwischen vollständig aufgegangen und das Sonnenlicht war so grell, dass Zoe sofort ihre Sonnenbrille aus ihrer Tasche kramte. Zudem war die Hitze geradezu erdrückend. Zoe verweilte für einen kurzen Moment im Schatten des Leichenschauhauses und blickte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung ihres Autos, um genau zu berechnen, wie heiß es darin jetzt wohl sein mochte. Keine schöne Vorstellung.
„Wo fahren wir als Nächstes hin?“, fragte Shelley.
„Zu Lorna Troyes Familie“, erwiderte Zoe. „Vielleicht haben die ja eine Spur für uns. Vielleicht etwas, das sie mit Michelle Young in Verbindung bringt.“
„Laut Akte hat sie nicht mehr viele Angehörige“, sagte Shelley. Sie konnte sich offenbar daran erinnern. Sie musste diesen Teil der Akte schon gelesen haben. Zoe hatte sofort ein schlechtes Gewissen, dass sie selbst das noch nicht getan hatte. „Die Eltern starben vor etwa zehn Jahren bei einem Autounfall. Sie hat nur noch eine Schwester.“
Zoe nickte. „Okay.“ Sie dachte einen Moment lang nach. Beide blieben auf der Stelle stehen; Shelley freute sich entweder genauso wenig auf die Hitze im Auto wie Zoe, oder sie versuchte einfach, Zoe etwas Raum zum Nachdenken zu geben. „Wir wissen noch nicht wirklich, wonach wir eigentlich suchen.“
„Es könnte ein Mann oder eine Frau sein, stark oder auch nicht, und wir kennen keinerlei Körpermerkmale“, seufzte Shelley. „Hoffentlich finden wir bald einen Zeugen. Hast du eine Idee, wo wir mit dem Täterprofil ansetzen sollten?“
Zoe schüttelte leicht den Kopf. „Das könnte man so oder so sehen. Die Vehemenz des Übergriffs lässt auf einen männlichen Täter schließen. Wie wir wissen entscheiden sich Frauen meist für weniger physische Methoden. Andererseits ist deutlich zu erkennen, dass Lorna Troye sich nicht unwohl fühlte, als sie angegriffen wurde. Möglicherweise hat sie dem Täter oder der Täterin sogar vertraut und sich in deren Nähe sicher gefühlt. Das könnte man als Hinweis auf eine weibliche Angreiferin werten.“
„Was ich an der ganzen Sache am auffälligsten finde, ist die Tatsache, dass die Tat im Freien – und nicht gerade gut versteckt – stattgefunden hat.“
„Das zeugt von großem Selbstbewusstsein“, sagte Zoe. „Oder von Wahnsinn. Auf jeden Fall von der Überzeugung, nicht erwischt zu werden. Vielleicht sind die Schläge nicht mit voller Kraft erfolgt, weil der Täter oder die Täterin nicht in Eile war. Als hätte er oder sie sich unantastbar gefühlt. Als wäre die Welt für den Moment des Angriffs stehengeblieben.“
„Mhm“, murmelte Shelley zustimmend und lehnte sich dabei an die kühle Steinwand des Gebäudes. „Irgendwie müssen wir das noch genauer eingrenzen. Uns ein besseres Bild davon machen, was hier tatsächlich vorgefallen ist.“
„Dann wollen wir mal hoffen, dass Lorna Troyes Schwester uns dabei helfen kann“, sagte Zoe und machte widerwillig einen Schritt in die gleißende Hitze und in Richtung ihres Autos.
***
Lorna Troyes Schwester lebte in einer kleinen Wohnung nahe am Stadtzentrum, direkt über einem Eisenwarenladen. Der Eingang der Wohnung, der einen schönen Blick auf einen Hammerständer bot, führte sie kurioserweise erst in einen blassgelben Flur und dann in ein Wohnzimmer, das in verschiedenen Schattierungen von Pink und fast ausschließlich in Samt gehalten war.
„Und ich kann Ihnen ganz sicher nichts bringen?“, fragte Daphne Troye, Lornas ältere Schwester, mindestens zum sechsten Mal.
„Ganz bestimmt nicht, Miss Troye, vielen Dank“, versicherte Shelley ihr mit einem Lächeln.
„Oh, es muss Mrs. Troye heißen“, erwiderte Daphne ebenfalls lächelnd und deutete auf ein dumpf glänzendes Armband an ihrem Handgelenk. „Meine Frau hat meinen Namen angenommen, als wir geheiratet haben.“
„Mrs. Troye“, korrigierte sich Shelley. „Das ist sicher eine schwierige Zeit für Sie. Wir wollten Sie nur kurz nach ein paar Dingen fragen, die uns vielleicht dabei helfen könnten, den Mörder Ihrer Schwester zu finden.“
Das ohnehin gezwungen wirkende Lächeln auf Daphnes Lippen verschwand nun vollends. „Ja”, sagte sie und lehnte sich in ihrem Samt-Sessel zurück. Scheinbar hatte sie nun akzeptiert, dass sie ihren Gästen nichts anbieten konnte. „Natürlich. Bitte, fragen Sie ruhig.“
„Was können Sie uns über gestern sagen?“, fragte Shelley. „Hatten Sie Kontakt zu Lorna?“
„Ein bisschen.“ Ihre Augen wanderten kurz zu einem verschlossenen Zimmer am anderen Ende des Flurs, den man durch die offene Tür des Wohnzimmers überblicken konnte, bevor sie wieder zu Shelley sah. „Lorna und Rhona – meine Frau – verstehen sich nicht gut. In letzter Zeit haben wir nicht oft miteinander gesprochen. Zumindest nicht persönlich. Aber ich habe ihr morgens manchmal eine SMS geschickt.“
„Wussten Sie, dass Lorna vorhatte, wandern zu gehen?“
„Ja.“ Daphne griff nach ihrer eigenen Tasse, goss sich eine milchige Flüssigkeit ein, die so stark verdünnt war, dass es sowohl Tee als auch Kaffee hätte sein können, und nahm einen winzigen Schluck. „Das hatte sie mir erzählt. Sie wollte eigentlich mit einer Freundin gehen, aber die hat in letzter Sekunde abgesagt.“
„Wissen Sie, wie diese Freundin heißt?“, fragte Zoe und schlug ihr Notizbuch auf.
„Ähm“, Daphne hielt kurz inne. Sie kniff sich in den Nasenrücken und schloss die Augen, während sie nachdachte. „Lassen Sie mich kurz … Cora! Sie heißt Cora.“
„Nachname?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Den weiß ich leider nicht.“
„Das macht nichts“, sagte Shelley. „Cora ist kein besonders häufiger Name. Wir werden schon rausfinden, wer das ist.“
„Wenn ich darf, würde ich Ihnen gern ein Foto zeigen“, sagte Zoe. Sie sah, wie Daphne die Augen aufriss und zu zittern begann und fügte sofort hinzu: „Nicht vom Tatort. Keine Sorge. Es ist das Foto einer Frau. Wir würden gerne wissen, ob Sie diese Frau kennen – und insbesondere, ob Sie Lorna jemals mit ihr zusammen gesehen haben.“
Sie nahm das gedruckte Foto von Michelle Young aus ihrem Notizbuch und legte es vor Daphne auf den Tisch, damit sie es gut sehen konnte.
„Ich … ich glaube nicht“, sagte Daphne nach einer ganzen Weile und schaute dann wieder zu Zoe auf. „Wer ist das denn?“
„Sie heißt Michelle Young“, sagte Zoe. „Kommt Ihnen der Name bekannt vor?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Halten Sie diese Frau für … die Täterin?“
Ihre Stimme klang zugleich ängstlich als auch hoffnungsvoll. Zu wissen, wer die Tat begangen hatte, wäre sicher eine Erleichterung für Daphne gewesen, keine Frage. Der erste Schritt zu einer Art Verständnis davon, warum man ihr die Schwester genommen hatte. Es tat Zoe leid, dass sie ihr dieses Gefühl nicht geben konnte.
„Nein, Mrs. Troye“, sagte Zoe und nahm das Foto wieder an sich. „Wir glauben, dass es sich bei dieser Frau um ein weiteres Opfer desselben Täters handelt.“
Daphne stockte für einen Moment der Atem, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube hinnehmen müssen. „Lorna war nicht die einzige?“
„Das können wir noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen“, sagte Shelley mit beruhigender Stimme – eine automatisierte Reaktion, die sie schon in ihrer Ausbildung verinnerlicht hatte. Nie etwas mit absoluter Sicherheit sagen, bevor der Fall nicht gelöst war. „Aber es gibt gewisse Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen. Wir ermitteln in diese Richtung.“
Daphne schluckte schwer und senkte den Blick auf die Tasse, die vor ihr stand. Sie sagte jetzt kein Wort mehr. Es schien ihr sichtlich schwer zu fallen, diese neue Information zu verarbeiten.
Zoe tauschte kurze Blicke mit Shelley aus. Sie beschlich das Gefühl, dass sie die Befragung hier am besten beenden sollte – und als Shelley ihr zunickte, wusste sie, dass sie die Situation richtig eingeschätzt hatte. „Vielen Dank, Mrs. Troye“, sagte sie. „Wir lassen Sie nun besser in Ruhe. Sie können uns jederzeit anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte.“