Die Frau vor ihnen zeigte kaum eine merkliche Reaktion, abgesehen von einem angedeuteten Nicken und einer fast nicht zu erkennenden Auf- und Ab-Bewegung der Schultern. Shelley und Zoe standen zögerlich auf, sie beide wollten Daphne so nicht allein lassen – aber sie wussten ja, dass sie nicht auf sich allein gestellt war. Ihre Frau war vermutlich in dem Zimmer am anderen Ende des Flurs, hinter der verschlossenen Tür, um sie bei der Befragung ungestört zu lassen. Die beiden Frauen würden diese schwere Zeit gemeinsam überstehen.
Allerdings würde ihnen das leichter fallen, das war zumindest Zoes Erfahrung, wenn sie mehr darüber wüssten, wer ihnen Lorna genommen hatte – und wenn diese Person ihre gerechte Strafe erhielt.
„Wir fahren besser zur lokalen Polizeiwache und richten dort eine Ermittlungszentrale ein“ sagte Zoe und hielt kurz inne, bevor sie in den Leihwagen stieg. „Je früher wir eine Spur finden, desto besser. Am besten fangen wir bei der Freundin an, Cora.“
„Vielleicht haben wir ja Glück“, sagte Shelley mit schwarzem Humor. „Vielleicht war die es ja.“
Aber als sie sich hinters Lenkrad setzte, dachte Zoe für sich, dass das leider ganz und gar nicht wahrscheinlich war.
KAPITEL SIEBEN
„Also dann“, sagte Zoe, als sie sich vor den Tisch setzte, den sie gerade durch zwei zusammengeschobene Schreibtische gebildet hatten. „Was haben wir bisher?“
Shelley warf einen Blick auf die auf beiden Seiten des Tisches ausgebreiteten Akten. Auf der einen Seite waren die zu Michelle Young, auf der anderen die zu Lorna Troye. „Zwei junge Frauen, etwa gleichen Alters. Beide am helllichten Tag ermordet, was auf ein gewisses Selbstbewusstsein des Mörders schließen lässt. Beide Morde geschahen in der gleichen Region, wenn auch in unterschiedlichen Städten, innerhalb eines Bundesstaates. Die eine Frau blond, die andere brünett. Beide zum Tatzeitpunkt allein unterwegs. In beiden Fällen keine Zeugen.“
„Und die Tatwaffe scheint in beiden Fällen die gleiche gewesen zu sein“, fügte Zoe hinzu. „Eine Machete, mit der die Opfer enthauptet wurden. Wo sich die Köpfe befinden, ist bisher unklar.“
Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Zu Beginn der Ermittlungen in einem Fall mit mehrfachen Morden musste man danach Ausschau halten. Was hatten die Opfer gemein, das sie aus Sicht des Täters herausstechen ließ und deshalb zu potentiellen Zielen machte? Und inwiefern unterschieden sie sich voneinander?
Das ähnliche Alter und das gute Aussehen der beiden Frauen waren ein erster Anhaltspunkt. Gelegenheit mag eine Rolle gespielt haben, oder auch nicht, wie sie bereits diskutiert hatten.
Aber was waren die Unterschiede zwischen den beiden Opfern?
„Die Distanz zwischen den beiden Orten könnte relevant sein. Mit dem Auto braucht man vierzig Minuten.“
„Könnte sein, dass er aus der Gegend kommt“, merkte Shelley an. „Oder vielleicht ist er auf Reisen?“
Zoe neigte ihren Kopf. „Laut Statistik schlagen die meisten Mehrfachmörder innerhalb eines bestimmten Radius um ihr Zuhause herum zu. Nicht so nah, dass sie sich nicht mehr sicher fühlen würden. Weit genug weg, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber nah genug, um sich innerhalb des Gebietes leicht von A nach B bewegen zu können. Ein Zwei-Stunden-Radius um beide Städte herum erscheint mir realistisch.“
Shelley warf einen Blick auf eine Landkarte. „Dann sind immer noch zu viele Ortschaften in dem Gebiet“, sagte sie. „Das müssen wir noch weiter eingrenzen.“
Was blieb ihnen sonst noch?
„Lorna hätte nicht allein sein sollen, als sie ermordet wurde“, dachte Zoe laut nach. „Das heißt, wenn unser Täter auf sie gewartet hat, dann wusste er entweder, dass ihre Freundin abgesagt hatte, oder er wartete nicht auf jemand Bestimmten und wusste nicht genau, wer sein Opfer werden würde.“
Shelley kaute auf einem ihrer Fingernägel und zupfte dabei mit den Zähnen an der Haut herum. „Die Freundin, die abgesagt hat“, sagte sie. „Die sollten wir doch ausfindig machen können. Haben wir Lornas Handy?“
„Noch nicht“, sagte Zoe, nachdem sie eine Beweismittelliste überflogen hatte, die der Sheriff ihnen gegeben hatte. „Sieht so aus, als wäre da jemand dran. Das Handy war passwortgeschützt. Deshalb müssen wir wohl auf eine richterliche Anordnung warten, die den Hersteller dazu zwingt, uns Zugang zu gewähren.“
„Dann müssen wir es mit Social-Media-Konten probieren“, sagte Shelley entschlossen und nahm sogleich ihr eigenes Handy zur Hand, um darauf herumzutippen.
„Ich weiß nicht, ob wir ihre Benutzernamen schon haben“, sagte Zoe und blätterte dabei in dem Bericht zu Lornas persönlichen Gegenständen herum.
„Die brauchen wir nicht“, sagte Shelley mit einem Lächeln. Sie zeigte ihr den Bildschirm ihres Handys. Darauf war eindeutig ein Bild von Lorna zu sehen, auf einer Facebook-Seite. „Es gibt nicht viele Lorna Troyes hier in der Gegend.“
Zoe rutschte etwas näher heran und lehnte sich über den Tisch, um besser sehen zu können „Ist da in irgendwelchen Posts von einer Cora die Rede?“
Shelley scrollte ein wenig herunter. „Ja, guck, hier: Vor ein paar Wochen hat sie sich und Cora bei einem Restaurantbesuch getaggt. Cora Day.“
„Gute Arbeit“, nickte Zoe. „Aber sie hat nicht zufällig auch Michelle Young auf ihrer Freundesliste?“
Shelley runzelte die Stirn, drehte das Handy wieder zu sich und scrollte weiter nach unten, um Lornas Freundesliste durchzusehen. „Nein, sieht nicht so aus.“
„Vielleicht sollten wir überprüfen, ob sie irgendwelche anderen gemeinsamen Freunde oder Interessen haben“, schlug Zoe vor. „Ich schaue mir Michelles Profil an und du machst bei Lorna weiter. Wir können uns die Freunde gegenseitig vorlesen, dann sehen wir, ob da irgendwelche gemeinsamen dabei sind.“
Shelley tat wie ihr geheißen und begann, die Namen auf Lornas Freundesliste einem nach dem anderen vorzulesen. Zoe, die Michelles Profil aufgrund des dazugehörigen Fotos zum Glück ohne Probleme finden konnte, ging dabei Michelles Freundesliste durch. Keine der Namen stimmten überein.
Shelley seufzte. „Die Spur führt also ins Leere.“
„Abwarten“, mahnte Zoe. „Wir reden hier immer noch über eine relativ kleine Gegend – und man fügt ja nicht jeden, den man trifft, automatisch zu seiner Freundesliste hinzu. Wir sollten ihre Posts und Check-Ins miteinander vergleichen. Man kann sich ja heutzutage online sozusagen ‚einchecken‘, damit andere sehen können, wo man gerade ist. Vielleicht hielten die beiden sich ja regelmäßig am selben Ort auf.”
Shelley stimmte zu. „Am besten machen wir eine Liste“, sagte sie. „Alle Posts der letzten paar Monate. Können wir dann hinterher vergleichen.“
Zoe begann damit, sich Michelles Feed genauer anzusehen. Eine mühselige Arbeit. Michelle schien die Angewohnheit zu haben, jeden einzelnen ihrer Gedanken auf ihrer Facebook-Seite zu posten, meist mit so wenig Kontext, dass wahrscheinlich nur die Person, an die sich der Post richtete, diesen richtig verstehen konnte. Unter den einzelnen Posts fanden sich oft zahlreiche Kommentare, die nach Updates oder weiteren Details fragten, auf die Michelle aber nie antwortete.
Aber Moment mal! War das nicht …?
„Cora Day?“, fragte Zoe in den Raum. „So hieß sie doch, oder?“
„Ja, genau“, sagte Shelley und blickte zu Zoe auf. „Hast du was gefunden?“
„Das hier“, sagte Zoe und zeigte es ihr. „Sieht so aus, als hätten sie sich doch gekannt.“
Auf dem Bildschirm war ein Foto zu sehen, das Michelle mit einigen anderen Frauen zeigte. Ganz am linken Rand, mit einem Lächeln auf den Lippen, stand eine Frau, die als Cora Day getaggt worden war.
„Das ist sie“, bestätigte Shelley. „Wo wurde das Foto aufgenommen?“
Zoe schaute sich den Post noch einmal genauer an. „In einem Nachtclub ganz in der Nähe. Ich schaue mal weiter. Vielleicht finde ich noch mehr.“
Sie fand tatsächlich noch mehr – und das ließ auch nicht lange auf sich warten. Nur ein paar Posts weiter unten fand sich ein Kommentar von Cora – der erste, den sie gefunden hatte, aber chronologisch gesehen der neueste.
Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, freundschaftlich war es nicht.
„Hör dir das mal an“, sagte Zoe und las einen der Kommentare laut vor. „Du bist so durchschaubar, du Bitch! Hör auf damit, Sachen über mich zu posten. Wenn du mir was zu sagen hast, dann sag es mir ins Gesicht!“
„Wie bitte?“ Shelley schnappte nach Luft.
„Das ist ein Kommentar von Cora Day auf Michelle Youngs Facebook-Seite“, sagte Zoe triumphierend. „Bis zu diesem Zeitpunkt schienen sie miteinander befreundet gewesen zu sein. Michelle antwortet mit einer Beleidigung, auf die Cora dann nicht weiter reagiert. Da haben sie sich dann wahrscheinlich gegenseitig geblockt.“
„Und wie lange ist das her?“, fragte Shelley nachdenklich.
Zoe sah sich das Datum des Posts an. „Etwas über einen Monat.“
„Also, fassen wir zusammen“, sagte Shelley, die dabei zu lächeln begann. „Cora Day zerstreitet sich mit Michelle Young, die dann etwa einen Monat später tot ist. Dann sagt Cora eine Verabredung mit Lorna Troye ab, die deshalb allein wandern geht und dabei auf die gleiche Art und Weise stirbt, wie zuvor Michelle.“
„Und laut Gerichtsmediziner ist es durchaus möglich, dass die Morde von einer Frau begangen wurden, insbesondere, wenn man einen möglichen Adrenalinschub in Betracht zieht, der einer Täterin womöglich mehr Kraft gegeben hätte, als man es von einer Frau normalerweise erwartet.“
„Außerdem hatte der Mörder oder die Mörderin kein Problem damit, die beiden Frauen am helllichten Tage direkt anzusprechen, obwohl sie beide allein unterwegs waren. Er oder sie machte sich keine Sorgen darüber, dass die Frauen möglicherweise weglaufen könnten, was darauf schließen lässt, dass sie den Täter oder die Täterin bereits kannten.“
„Sieht ganz so aus, als hätten wir eine Verdächtige“, sagte Zoe und war nun genauso aufgeregt wie Shelley. Und warum auch nicht? Diese Spur könnte der Schlüssel zur Lösung des ganzen Falles sein.
„Ich werde den Sheriff nach Cora Days aktueller Adresse fragen“, sagte Shelley und sprang sogleich von ihrem Stuhl auf. Der neu gewonnene Enthusiasmus war ihr sichtlich anzumerken.
KAPITEL ACHT
Zoe saß auf dem Fahrersitz ihres Leihwagens und warf einen Blick auf das Gebäude, vor dem sie geparkt hatten. Sie schaute in Richtung des zweiten Stocks des Wohnhauses, denn das war Cora Days Meldeadresse. Keine schlechte Gegend, in der sie wohnte. Ihr Wohnhaus schien früher ein Einfamilienhaus gewesen zu sein, das nun in drei voneinander abgetrennte Wohnungen geteilt worden war.
„So weit, so … langweilig“, sagte Zoe und schaute dabei die Straße auf und ab. Hie und da waren gut gepflegte Rasenflächen zu sehen, auf dem Bürgersteig wuchsen Bäume an den dafür vorgesehenen Stellen und das Grundstück auf der anderen Straßenseite wurde von einem makellosen weißen Zaun eingegrenzt. Aber Morde geschehen eben nicht nur in schlechten Gegenden, in denen viele arme Menschen leben. Morde konnten überall und zu jeder Zeit geschehen – wenn sie in ihrer Zeit beim FBI irgendetwas gelernt hatte, dann wohl genau das.
„Gut möglich, dass der Schein trügt“, sagte Shelley und bestätigte damit Zoes Gedankengang, als die beiden Agentinnen aus dem Auto ausstiegen. „Womit müssen wir hier rechnen?“
Zoe zuckte mit den Schultern, ging zu Shelley auf den Bürgersteig und knöpfte ihr Jackett zu. „Am besten rechnen wir mit gar nichts. Wenn Cora eine psychotische Mörderin ist, dann lässt sich nicht vorhersagen, wie sie auf uns reagieren wird. Vielleicht läuft sie weg. Oder sie lügt uns an. Vielleicht bedroht sie uns sogar. Und dann wäre da auch noch die Möglichkeit, dass sie in aller Ruhe die Morde gesteht und wir noch vor dem Abendessen wieder auf dem Heimweg sind.“
„Das hört sich nach Wunschdenken an“, sagte Shelley mit einem schiefen Grinsen.
„Kann schon sein“, sagte Zoe, seufzte und machte den ersten Schritt in Richtung des Wohnhauses. Das war immer noch ein unangenehmes Gefühl, der Moment, kurz bevor man zum ersten Mal mit einer unter Verdacht stehenden Person sprach. Die Anspannung, die Hoffnung, dass man sich auf der richtigen Spur befand und kurz davor stand, den Fall zu lösen, oftmals verbunden mit dem Schock, der damit einherging, sich vorzustellen, dass eine ansonsten so normal wirkende Person tatsächlich ein kaltblütiger Mörder sein konnte. Und ganz besonders die Angst, die man bei jedem Fall verspürte: dadurch ausgelöst, dass man nun womöglich mit einer gewaltbereiten, kriminellen Person in Kontakt treten würde, einer Person, die einen im schlimmsten Fall sogar ohne zu zögern erschießen oder anderweitig angreifen konnte.
Zoe hatte zudem bemerkt, dass diese Angst immer größer geworden war, je näher sie John und Shelley stand und je stärker die Zahlen in ihrem Kopf in den Hintergrund rückten.