Little sprach leise, aber eindringlich auf zwei neue Leute ein, wobei seine gro?en Hande wie Spaten durch die Luft fuhren, um seine Erklarungen zu verdeutlichen. Er bemerkte Bolitho und stohnte:»Gro?er Gott, Sir, die sind wie Holzklotze!»
Bolitho beobachtete seine beiden Kadetten und uberlegte, wie er die Mauer durchbrechen konne, die zwischen ihm und den beiden stand. Er hatte erst am Tag zuvor kurz mit ihnen gesprochen. Die
Jury war gro? fur sein Alter, hatte ein freundliches Gesicht, einen blonden Haarschopf, und konnte seine Aufregung kaum beherrschen. Er sprach auch als erster.»Wissen wir eigentlich, wohin die Fahrt geht, Sir?»
Bolitho sah ihn ernst an. Nur vier Jahre trennten sie. Jury ahnelte zwar nicht seinem toten Freund, doch er hatte die gleiche Haarfarbe.
Er tadelte sich selber fur seine Gedanken und antwortete:»Das werden wir fruh genug erfahren. «Seine Worte kamen scharfer heraus, als er beabsichtigt hatte, darum fugte er hinzu:»Es ist ein gut gehutetes Geheimnis, jedenfalls soweit es mich betrifft.»
Jury beobachtete ihn neugierig. Bolitho wu?te, was er dachte, kannte die vielen Fragen, die er gern gestellt hatte, um diese neue, so vieles von ihm fordernde Welt zu entdecken. Genauso war er selber einmal gewesen.
Bolitho sagte:»Ich mochte, da? Sie im Gro?mast aufentern, Mr. Jury, und die Arbeit der Leute oben beaufsichtigen. Sie, Mr. Merrett, bleiben bei mir, um Meldungen nach vorn oder achtern zu uberbringen, wenn notig.»
Er lachelte, als ihre Blicke uber die Wanten zum drohenden Gewirr der Takelage emporwanderten, zur riesigen Gro?rah und den kleineren Rahen daruber, die nach jeder Seite wie Bogenenden weit uber Bord ragten.
Die beiden alteren Offiziersanwarter, die Fahnriche Henderson und Cowdroy, hatten ihre Posten achtern am Besanmast, wahrend die restlichen beiden zu Rhodes am Fockmast gehorten.
Stockdale stand wie zufallig in Bolithos Nahe und schnaufte:»Guten Morgen auch, Sir!»
Bolitho lache lte ihn an.»Nichts bereut, Stockdale?»
Der riesige Mann schuttelte den Kopf.»Nein, Sir. Brauchte 'ne Veranderung. Wird mir guttun.»
Little grinste uber das Rohr eines Zwolfpfunders hinweg.»Ich wette, er konnte die Gro?brasse allein bedienen!»
Einige Matrosen tuschelten miteinander und zeigten, als das Tageslicht zunahm, auf Gebaude an Land.
Vom Achterdeck kam prompt die Ruge:»Mr. Bolitho, sorgen Sie bitte fur Ordnung bei Ihren Leuten! Das sieht mehr nach einer Hammelherde aus als nach einer Kriegsschiffsbesatzung!»
Bolitho grinste.»Aye, aye, Sir!«Und fur Little fugte er hinzu:»Schreiben Sie jeden Mann auf, der…»
Er konnte den Satz nicht beenden, denn Kapitun Dumaresqs Hut tauchte am achteren Niedergang auf und darunter seine massige Gestalt, die sich mit offensichtlichem Gleichmut auf die Luvseite des Achterdecks begab.
Bolitho gab den beiden Kadetten noch einmal leise Instruktionen.»Hort zu, ihr beiden: Geschwindigkeit ist wichtig, aber nur insoweit, als Befehle trotzdem korrekt ausgefuhrt werden. Hetzen Sie die Leute nicht unnotig, die meisten von ihnen sind alte Hasen und schon seit Jahren auf See. Beobachten Sie, lernen Sie, aber packen Sie zu, wenn einer der neuen Leute Mist macht.»
Beide nickten eifrig, als hatten sie eben fundamentale Weisheiten vernommen.
«Vorn alles klar, Sir!»
Das war Timbrell, der Oberbootsmann. Er schien uberall zugleich zu sein. Mal war er hier, um die Finger eines Mannes richtig um eine Brasse zu legen und sie davor zu bewahren, da? sie in einen Block gerieten und zerquetscht wurden; mal war er da, um seinen Rohrstock auf die Schultern eines anderen niedersausen zu lassen, der sich blode anstellte. Die Wirkung war meist ein kurzer Aufschrei des Betroffenen und schadenfrohes Grinsen der anderen.
Bolitho horte den Kommandanten etwas sagen; Sekunden spater stieg die rote Nationalflagge zur Mastspitze empor und stand so steif im Wind wie eine bemalte Metallplatte.
Wieder Timbrells Stimme:»Anker ist kurzstag, Sir!«Er beugte sich uber die Backsreling vorn und beobachtete aufmerksam die Stromung unter dem Bugspriet.
«Am Ankerspill — Achtung!»
Bolitho warf noch einen schnellen Blick nach achtern: auf den
Kommandostand, auf Gulliver mit seinen drei Rudergangern am gro?en Doppelrad; auf Colpoys mit seinen Seesoldaten an den Kreuzbrassen, den Fahnrich der Wache und Henderson, den Signalfahnrich, der immer noch zur wild killenden Flagge emporschaute, weil er furchtete, da? sie sich in ihrer Leine vertornen konnte. Im Augenblick war ihm das wichtiger als sein Leben.
An der Querreling stand Palliser mit einem Steuermannsmaaten und — etwas abseits — der Kommandant auf fest verwurzelten, stammigen Beinen, die Hande unter den Rockscho?en, mit einem Blick seinen gesamten Befehlsbereich umfassend. Zu seinem Erstaunen sah Bo-litho, da? Dumaresq unterm Rock eine scharlachrote Weste trug.
«Vorsegel los!»
Die Manner auf der Back vorn erwachten zum Leben. Ein vertraumter Neuling ware fast von ihnen niedergetrampelt worden, als die gro?en Leinwandflachen der vorderen Stagsegel in plotzlicher Freiheit flatterten und schlugen.
Palliser warf dem Kommandanten einen Blick zu und erntete ein fast unmerkliches Nicken. Darauf hob der Erste Offizier das Megaphon und rief:»Enter auf! Marssegel los!»
Die Webeleinen uber beiden Laufbrucken hingen plotzlich voller Matrosen, die wie Affen zu ihren Rahen aufenterten, wahrend die fixesten Burschen noch hoher hinaufkletterten, um etwas spater, wenn das Schiff in Fahrt war, dort ihren Teil der Arbeit zu leisten.
Bolitho verbarg seine Besorgnis unter einem Lacheln, als Jury hinter den sicher zupackenden und wieselschnellen Matrosen aufenterte.
Neben ihm krachzte Merrett:»Mir wird ubel, Sir.»
Slade, der alteste Steuermannsmaat, der gerade vorbeieilte, knurrte:»Dann schluck's runter! Wenn du hier spuckst, Burschchen, lege ich dich ubers Kanonenrohr und verpasse dir sechs Schlage, damit du's lernst!«Er eilte weiter, gab Befehle, schubste Manner auf ihre Station und hatte den kleinen Kadetten schon wieder vergessen.
Merrett schluchzte:»Mir ist wirklich furchtbar schlecht!»
Bolitho sagte:»Gehen Sie nach Lee hinuber.»
Er schaute nach Pallisers Megaphon aus und dann hinauf zu seinen Mannern auf den Rahen und in die wogende Leinwand des Gro?marssegels, in die der Wind schon hier und da hineingefa?t hatte und die sich nun vollends zu befreien suchte.
«An die Brassen! Alle Mann — Achtung!«»Anker ist los, Sir!»
Wie ein befreites Tier schuttelte sich die
Das Schiff drehte weiter, bis die Kuste wie in einem wilden Reigen am Bugspriet und der grazilen Galionsfigur vorbeizutanzen schien.
«Mehr Leute an die Luv-Fockbrassen! Schreiben Sie den Mann auf, Mr. Slade! Lassen Sie den Anker festzurren — Beeilung jetzt!»
Pallisers Stimme war uberall. Als der Anker tropfend unter dem Kranbalken hing und schnell beigeholt und festgezurrt wurde, damit er nicht gegen die Bordwand schlug, wurden die damit beschaftigten Leute von Pallisers alles ubertonendem Sprachrohr schon wieder anderswohin kommandiert.»Setzt Fock und Gro?segel!»
Die beiden gro?ten Segel des Schiffes entfalteten sich an ihren Rahen und blahten sich in dem frischen Wind wie eiserne Brustpanzer. Bolitho machte eine kleine Pause, um Atem zu holen und seinen Hut zurechtzurucken. Die Landschaft, durch die er auf der Suche nach Freiwilligen gestreift war, lag querab in Lee, wahrend der Bug der
Dumaresq hatte sich anscheinend uberhaupt nicht bewegt. Das Kinn im Halstuch vergraben, beobachtete er das Ufer, das an ihnen vorbeiglitt.
Bolitho wischte sich ein paar Wassertropfen — war es Regen oder salzige Gischt? — aus den Augen. Er war aufgeregt und freute sich plotzlich, da? er dazu noch fahig war.
Durch die enge Ausfahrt ging es in den Sund hinaus, wo Drake einmal der spanischen Armada aufgelauert hatte, wo schon hundert
Admirale Plane geschmiedet hatten, die uber ihre nachste Zukunft entscheiden sollten. Wohin hatte das alles gefuhrt?» Lotgast in die Luv-Rusten, Mr. Slade!»
Bolitho merkte jetzt, da? er auf einer Fregatte war. Hier gab es kein vorsichtiges Abwagen, keine behabigen Manover. Dumaresq wu?te, da? viele Augen an Land sie selbst zu dieser fruhen Stunde beobachteten. Er wurde so nahe an die Landzunge herangehen wie moglich, mit nur knapp einem Faden Wasser zwischen Kiel und Katastrophe. Er hatte den richtigen Wind und das Schiff, mit dem er dies riskieren konnte.
Hinter sich horte Bolitho, wie Merrett sich ubergab, und hoffte, Pal-liser wurde es nicht bemerken.
Stockdale scho? die Leine um Handballen und Ellenbogen auf, als sei er es von jung auf nicht anders gewohnt. Gegen seine kraftigen Unterarme wirkte die dicke Leine wie Kabelgarn. Er brummte mit seiner heiseren Stimme:»Jetzt bin ich frei, so frei, wie ich's mir wunsche.»
Bolitho antwortete nicht, denn er erkannte, da? der in vielen Kampfen ausgelaugte Boxer zu sich selber gesprochen hatte.
Pallisers Stimme weckte ihn wie ein Peitschenhieb.»Mr. Bolitho! Ich sage Ihnen schon jetzt, da? ich die Bramsegel gesetzt haben mochte, sowie wir durch die Enge sind. Damit haben Sie Zeit, Ihren Traum zu beenden und sich wieder um Ihren Dienst zu kummern, mein Herr!»
Bolitho beruhrte seinen Hut und nickte seinen Unteroffizieren zu. Palliser war in Ordnung, so lange sie sich in der Messe befanden. Aber an Deck war er ein Tyrann.
Merrett hatte sich uber die Kanone gebeugt und erbrach sich in den Wassergang.
«Verdammt noch mal, Mr. Merrett! Machen Sie das blo? schon sauber, bevor Sie abtreten. Und rei?en Sie sich zusammen!«Bolitho wandte sich ab, aufgebracht und gleichzeitig uber sich selber erstaunt. Pallisers Art war offenbar ansteckend.
III Jaher Tod
Die Woche nach dem Auslaufen der
Einmal, als Rhodes Bolitho auf Wache abloste, schrie er ihm uber das Getose wild schlagender Leinwand und tobender See ins Ohr:»Das ist typisch fur unseren > Herrn und Meisten: Er treibt das Schiff bis an die Grenze und pruft dabei jeden Mann auf Herz und Nieren. «Er duckte sich, als ein neuer Schauer eiskalten Spruhwassers uber sie hinwegzog.»Die Offiziere pruft er dabei naturlich auch, das wollen wir nicht vergessen.»
Die Stimmung an Bord war gereizt, und ein- oder zweimal flackerte Ungehorsam auf, der aber durch die kraftigen Fauste eines Maates oder die Drohung mit offizieller Meldung und Auspeitschen unterdruckt wurde.
Der Kommandant war viel an Deck und ging ruhelos zwischen Kompa? und Kartenraum hin und her, wobei er ihr Vorankommen mit Gulliver, dem Master, oder mit dem Ersten Offizier besprach.
Nachts war es noch schlimmer. Bolitho kam es vor, als ware es ihm noch kein einziges Mal gelungen, den Kopf wahrend der Freiwache in sein muffiges Kopfkissen zu vergraben, bevor ihn nicht ein heiserer» Alle-Mann«-Ruf wieder aufstorte.»Alle Mann! Ein Reff ins Marssegel!»
In solchen Augenblicken erkannte Bolitho den Unterschied: Auf einem Linienschiff hatte er sich mit den ubrigen nach einem solchen Kommando in die Masten arbeiten und seine Schwindelanfalle niederkampfen mussen, ohne die anderen etwas von seiner Angst merken zu lassen. Aber wenn er es dann geschafft hatte, war es vorbei. Jetzt, als Offizier, kam dagegen alles so, wie Dumaresq vorausgesagt hatte,
Mitten im heftigsten Sturm, gegen den die
Jury war mit oben gewesen und beim Hinabklettern von der Macht des Windes an die Wanten gepre?t worden. Am Fockmast hatten sie die gleichen Probleme mit Menschen und Tauwerk, Segeln und Rahen, wahrend das Schiff sein Moglichstes tat, sie alle in die tobende See zu schleudern.
Da erinnerte sich Bolitho, was Forster ihm zugerufen hatte. Der Befehlsverweigerer starrte ihn trotzig an, eine magere Gestalt in halb zerrissenem kariertem Hemd und Seemannshose.
«Was ist los mit Ihnen?«Bolitho mu?te schreien, um sich in dem Getose verstandlich zu machen.
«Ich kann nicht!«schrie der Mann zuruck und schuttelte wild den Kopf.»Kann nicht!»
Gerade kampfte sich Little fluchend vorbei und schleppte mit dem Bootsmann neues Tauwerk als Reserve fur den Gro?mast heran.
Er brullte:»Ich hieve ihn personlich nach oben, Sir!«Bolitho aber rief dem Matrosen zu:»Helfen Sie unter Deck an den Pumpen!»
Zwei Tage danach wurde der Mann als verschwunden gemeldet. Eine sorgfaltige Durchsuchung des Schiffes blieb ergebnislos.