«Sehr entgegenkommend von Ihnen«, meinte Keen.»Wenn ich nur gewu?t hatte.»
Bolitho lachelte ernst.»Sie hatten trotzdem so gehandelt.»
An Deck stampften viele Fu?e, und Taljen quietschten, als der Wachoffizier die Manner an die Brassen rief.
Auf einem uberfullten Kriegsschiff konnte eine einzige Frau vieles bedeuten, nicht zuletzt Ungluck. Landratten mochten uber solchen Aberglauben spotten, aber wer zur See fuhr, wurde bald eines besseren belehrt.
«Suchen Sie die junge Frau auf, Val, und sagen Sie mir dann, was Sie von ihr halten. In Gibraltar konnen wir sie auf die
Bolitho wartete, bis die Tur sich geschlossen hatte, und nahm dann wieder unter den Heckfenstern Platz. Erneut dachte er an Falmouth, seine frohe Heimkehr, und wie er seine einzige, neugeborene Tochter Elizabeth so ungeschickt im Arm gehalten hatte, da? er von Belinda ausgelacht worden war.
Bolitho hatte immer verstanden, da? es fur jede Frau schwer sein mu?te, uber die Schwelle seines Hauses zu treten. Es barg zu viele Schatten und Erinnerungen, zu hohe Erwartungen. Belinda war nur in Cheneys Fu?spuren getreten, oder so mu?te es ihr zumindest vorgekommen sein.
Am hartesten hatte Bolitho die Entdeckung getroffen, da? Cheneys Portrat — das Gegenstuck zu dem, das sie von ihm hatte anfertigen lassen — aus dem Raum, in dem die beiden Bilder nebeneinander hingen, entfernt worden war. Cheney vor dem Hintergrund der Landzunge, mit Augen so grun wie die See, und er in seinem Rock mit den wei?en Aufschlagen als der junge Kapitan, den sie so sehr geliebt hatte. Sein Portrat hing nun bei den anderen neben dem seines Vaters, Kapitan James Bolitho.
Er hatte geschwiegen, weil er Belinda nicht verletzen wollte, aber gestort hatte ihn der Vorfall doch. Er kam ihm wie Verrat vor.
Immer wieder sagte er sich, da? Belinda ihm nur helfen, anderen zu verstehen geben wollte, wie wertvoll er fur sein Land war. Doch er war in Falmouth zu Hause, nicht in London.
Seufzend wandte er seine Gedanken Allday zu. Der hatte vermutlich die gespannte Atmosphare in Falmouth gespurt. Doch zeigte er nicht, was er davon hielt. Oder vielleicht war er so mit der Entdeckung seines Sohnes beschaftigt gewesen, da? ihm keine Zeit fur Spekulationen blieb.
Bolitho stellte sich die beiden vor, wie sie hier in der Kajute vor ihm gestanden hatten: Allday kraftvoll und stolz in seiner blauen Jacke mit den Goldknopfen, den Kopf lauschend geneigt, als Bolitho zu dem jungen Matrosen John Bankart sprach.
Bolitho entsann sich, wie Allday vor zwanzig Jahren als Opfer einer Pre?patrouille an Bord seiner Fregatte
gebracht worden war. Damals war er wie dieser junge Matrose gewesen: klare Augen und ein ehrliches Gesicht mit einer Andeutung von Aufsassigkeit. Ohne gro?es Zogern hatte er sich von der Pre?patrouille verpflichten lassen. Das Leben auf dem Bauernhof gefiel ihm nicht, und zudem wu?te er, da? es ihm als Freiwilligem auf einem Kriegsschiff besser gehen wurde als einem Zwangsverpflichteten.
Seine Mutter war ledig gewesen. Allday hatte angedeutet, der Bauer habe seine Mutter oft unter der Drohung, sie und ihr Kind andernfalls vor die Tur zu setzen, mit ins Bett genommen. Das hatte in Bolitho einen Nerv beruhrt: Die Erinnerung an Adams Eintreffen auf dem Schiff, als er nach dem Tod seiner ledigen Mutter den ganzen Weg von Penzance zu Fu? zuruckgelegt hatte. Die Parallele war zu offensichtlich.
Alldays Sohn hatte sich bereits als guter Seemann entpuppt, der reffen, splei?en und steuern konnte, und zwar ebensogut wie andere von hoherem Rang und langerer Dienstzeit. Als zweiter Bootsfuhrer wurde er nur wenig Kontakt mit dem Admiral haben, sondern sich mehr um die Instandhaltung der Barkasse und Botengange kummern und Allday allgemein zur Hand gehen. Furs erste fand Bolitho diese Losung brauchbar.
Er stand auf und ging in seine Schlafkammer, wo er nach kurzem Zogern eine Schublade aufzog und die hubsche ovale Miniatur Cheneys herausnahm. Der Kunstler hatte ihren Ausdruck perfekt getroffen. Bolitho legte das Bild zuruck unter seine Hemden. Was ist nur mit mir los? dachte er. Ich bin glucklich verheiratet, habe eine zehn Jahre jungere Frau und nun eine reizende Tochter. Und trotzdem… Er wandte sich um und ging zuruck in die Tageskajute.
Wenn sie erst zur Flotte gesto?en waren, wurde sich alles andern. Dann erwarteten ihn Gefechte, Gefahren und die Fruchte des Sieges. Er versuchte, seine Gedanken auf die kommenden Monate zu konzentrieren, und fragte sich, wie Lapish reagieren wurde, wenn seine Fregatte zum ersten Mal kampfen mu?te. Doch statt dessen dachte er an das Portrat, das aus dem Salon verschwunden war, und wunschte sich plotzlich, er hatte es mitgenommen.
Tief unter Bolithos geraumigem Quartier mit der vergoldeten Heckgalerie lag das stickige Krankenrevier im fensterlosen Orlopdeck unter der Wasserlinie. Schwankende Laternen lie?en dunkle Schatten uber die Wande huschen, und die machtigen Deckenbalken waren so niedrig, da? man nicht aufrecht stehen konnte. Seit das Schiff erbaut worden war, hatte das Orlopdeck kein Tageslicht mehr gesehen.
Winzige Kammern saumten den gro?en Raum in der Mitte, in denen die Decksoffiziere fast ohne Bewegungsfreiheit ihre Privatsphare zu wahren versuchten. Nicht weit davon fuhrten die Midshipmen, von denen erwartet wurde, da? sie sich beim Schein eines in olgefullten Muscheln oder alten Dosen schwimmenden Dochts auf die Offiziersprufung vorbereiteten, ihr chaotisches Leben. Sie alle teilten das Deck mit dem Pulvermagazin, wo schon ein einziger Funke katastrophal wirken mu?te. Unter ihnen enthielten die gro?en Frachtraume alles, was zum Betrieb des Schiffes notwendig war und es auf Monate hinaus unabhangig machte.
Das Krankenrevier ganz hinten am Fu? des Niedergangs wirkte mit seinem wei?en Anstrich und den Regalen voller Glaser und Flaschen vergleichsweise licht. Keen schritt darauf zu und senkte automatisch den Kopf, um sich nicht an den Balken zu sto?en; seine Epauletten glitzerten, als er eine Laterne nach der anderen passierte. Dunkle Umrisse und verschwommene Gesichter tauchten in der Dusternis auf, dieser von See und Himmel so weit entfernten Welt, und verbla?ten wieder.
Keen sah James Tuson, den Schiffsarzt, mit seinem Assistenten sprechen, einem gro?en blassen Mann von den Kanalinseln, der Carcaud hie?. Letzterer war mehr Bretone als Englander, aber intelligent und des Lesens und Schreibens machtig. Keen wu?te, da? sich Tuson, der schon Arzt auf der
Keen mochte den silberhaarigen Tuson, obwohl er ihn auch jetzt nicht genauer kannte als auf dem vorigen Schiff. Er war ein guter Chirurg, zwanzigmal besser als die meisten seiner Kollegen. Doch er blieb fur sich, was in dieser wimmelnden Welt zwischen den Decks nicht einfach war, und kam nur zu den Mahlzeiten in die Messe.
Ein Seesoldat, dessen Kreuzbandelier im schwachen Licht sehr wei? wirkte, nahm Haltung an und bedeutete Tuson, da? der Kommandant gekommen war. Es war eine kluge Vorsichtsma?nahme, an der Tur einen Posten aufzustellen, dachte Keen. Die Besatzung war nun schon seit Monaten fast ohne Unterbrechung auf See. Da schwebte jede Frau in Gefahr, und eine, die als Gesetzesbrecherin abgestempelt war, ganz besonders.
Tuson murmelte etwas, und sein Assistent verschmolz mit dem Schatten.
«Wie geht's ihr?«fragte Keen.
Tuson rollte sich die Hemdsarmel herunter und dachte uber die Frage nach.
«Sie sagt keinen Ton, jedenfalls nicht zu mir. Sie ist jung, unter zwanzig, hat reine Haut und ihren Handen nach zu urteilen keine Feldarbeit verrichtet. «Er senkte die Stimme.
«Sie hat mehrere Blutergusse. Ich furchte, sie ist vergewaltigt oder sexuell schwer mi?handelt worden. «Er seufzte.»Unter den gegebenen Umstanden mochte ich eine genauere Untersuchung nicht riskieren.»
Keen nickte. Das Madchen war plotzlich zu einer Person geworden, mehr als nur ein Opfer.
Der Arzt beobachtete ihn aufmerksam.»Hier kann sie nicht bleiben, Sir.»
Keen wich aus.»Ich werde mit ihr reden. Es sei denn, Sie raten mir davon ab?»
«Keineswegs. «Der Arzt ging voran zum Krankenrevier.»Sie wei?, wo sie ist. Aber haben Sie bitte Geduld mit ihr.»
Keen trat ein und sah die junge Frau bauchlings unter einem Laken liegen. Sie schien zu schlafen, aber Keen merkte an ihren raschen Atemzugen, da? sie nur so tat. Als der Arzt das Laken wegzog, sah er, wie sich ihre Ruckenmuskulatur spannte.
Tuson meinte leise:»Die Wunde heilt, aber. «Er hob den losen Verband an, und Keen sah den tiefen Einschnitt, den die Peitsche hinterlassen hatte. Im Schein der Laterne wirkte die Narbe schwarz.
Tuson wies auf ihr langes, dunkelbraunes Haar; es war wirr und verfilzt, und als der Arzt es beruhrte, versteifte sie sich wieder.»Sie braucht ein Bad und frische Kleider«, sagte er.
«Sobald wir vor Anker gehen, schicke ich einen Leutnant hinuber zur
«Nein, bitte nicht! Bitte, bitte, nicht zuruck auf dieses Schiff!»
Keen reagierte verdutzt auf den Ausbruch. Diese junge Frau war trotz der Blutergusse und ihres zotteligen Haars fast eine Schonheit. Sie hatte kleine, wohlgeformte Hande und gro?e Augen, aus denen sie ihn flehend ansah.
«Nur ruhig, Kleine«, sagte er und streckte die Hand nach ihr aus, aber Tuson schuttelte rasch den Kopf.
«Das ist der Kapitan«, sagte der Arzt.»Er hat Sie vor der Auspeitschung bewahrt.»
Sie schaute in Keens besorgtes Gesicht und fragte:»Sie, Sir?«Es war kaum mehr als ein Flustern.»Sie waren das?»
Sie sprach mit weichem westenglischem Akzent. Keen konnte sich nicht vorstellen, weshalb sie vor Gericht gestellt und dann auf diesem schmutzigen Schiff mit anderen Straflingen in die Verbannung geschickt worden war.
«Ja. «Um ihn herum achzte und stohnte das Schiff, gelegentlich unterbrochen von einem lauten Krachen, wenn der Kiel in ein Wellental tauchte. Doch Keen war sich nur ihres Schweigens bewu?t, als stunde plotzlich die Zeit still.
Er horte sich fragen:»Wie hei?en Sie?»
Sie warf dem Arzt einen raschen Blick zu. Er nickte ermunternd.
«Carwithen. «Sie zog das Laken enger um sich, als Tuson den Verband wieder auflegte.»Woher stammen Sie?»
«Aus Lyme, Sir, in Dorset. «Sie hob das zierliche Kinn; Keen sah, da? es zitterte.»Aber geboren wurde ich in Corn-wall.»
«Dacht' ich mir's doch«, grunzte Tuson. Er richtete sich auf.»So, jetzt liegen Sie still, damit die Wunde nicht wieder aufplatzt. Ich lasse Ihnen was zu essen bringen. «Er wandte sich zur Tur und gab seinem wartenden Assistenten einen Wink.
Das Madchen schaute immer noch Keen an und flusterte heiser:»Sind Sie wirklich der Kapitan, Sir?«Keen merkte, da? sie im Begriff war, die Beherrschung zu verlieren. Er war mit zwei jungeren Schwestern aufgewachsen und kannte die Anzeichen. Bei Gott, sie hatte ja auch genug gelitten.
«Ja. «Er ging zur Tur und blieb stehen, als der Rumpf wegsackte und dann widerwillig seine achtzehnhundert Tonnen der nachsten Welle entgegenhob.
Das Madchen wandte den Blick nicht von seinem Gesicht.»Was werden Sie mit mir machen, Sir?«Ihre Augen glanzten. Wenn sie in Tranen ausbrach, durfte er nicht mehr da sein.
So fragte er rundheraus:»Wie hei?en Sie mit Vornamen?»
Das schien sie abzulenken.»Zenoria.»
Er wich zuruck.»Gut, Zenoria, folgen Sie den Anweisungen des Arztes. Ich werde dafur sorgen, da? Ihnen kein Leid geschieht.»
Er ging an dem Posten vorbei, ohne ihn eines Blickes zu wurdigen. Was hatte er da getan? Wie kam er dazu, ihr Versprechungen zu machen? Er kannte sie doch nicht einmal!
Als er die Stufen des ersten Niedergangs hocheilte, wu?te er die Antwort auf die beiden Fragen bereits: Es war der reine Wahnsinn. Ich bin wohl nicht bei Trost, dachte er.
Plotzlich war er froh, wieder den Himmel zu sehen.
Leutnant Hector Stayt beugte sich uber den Tisch und legte Bolitho eine weitere Ausfertigung seiner Befehle zur Unterschrift vor. Wenn sie endlich auf der Reede von Gibraltar vor Anker gingen, wurden die Dokumente an alle anderen Kommandanten weitergereicht werden. Das mochte noch zwei Tage dauern, wenn der Wind gunstig blieb, oder auch langer. Seit dem Vorfall auf der
Bolitho uberflog Yovells runde Handschrift, ehe er seinen Namen daruntersetzte. Es waren gleichlautende Befehle, aber jeder Kommandant wurde sie bei der Lekture anders interpretieren.
Er dachte an Keen und ihren unerwarteten Passagier. Die franzosischen Schiffbauer hatten hinter der Kapitanskajute Platz fur einen zusatzlichen Kartenraum gelassen, der nun fur Zenoria Carwithen so behaglich wie moglich eingerichtet worden war. Eine Koje, ein Spiegel und saubere Laken aus der Messe hatten ihn verwandelt. Ozzard hatte sogar eine Kommode im Laderaum entdeckt und fur Zenoria aufgestellt. Wir durfen uns nicht zu sehr an ihre Anwesenheit gewohnen, dachte Bolitho. In Gibraltar mu? sie von Bord.
«Ich habe etwas uber dieses Madchen erfahren, Sir Richard«, sagte Stayt.
Es hatte nicht zum ersten Mal den Anschein, als habe der Flaggleutnant Bolithos Gedanken gelesen. Bolitho fand das enervierend.
«Ja?«Er schaute vom Kartentisch auf.
«Sie war an Krawallen beteiligt, die sich nicht weit vom Besitz meines Vaters ereigneten. Jemand wurde ermordet, ehe das Militar eintraf. «Er lachelte dunn.»Wie ublich zu spat.»
Bolitho schaute an ihm vorbei auf die beiden Degen am Schott. Einer so schimmernd und glanzend, der andere im Vergleich fast schabig.
Stayt interpretierte sein Schweigen als Interesse.»Ihr Vater wurde gehangt.»
Bolitho zog seine Taschenuhr hervor und klappte sie auf.»Zeit fur die Signalubung, Mr. Stayt. Ich komme gleich an Deck.»
Stayt ging. Er hatte einen federnden Gang, der gro?es Selbstvertrauen verriet. Bolitho runzelte die Stirn. Eingebildeter Fatzke.
Yovell trat an den Tisch und sammelte die Papiere ein. Dabei warf er Bolitho uber seine kleine Goldbrille hinweg einen Blick zu und sagte:»Ganz so hat es sich aber nicht ereignet, Sir Richard.»
Bolitho schaute ihn an.»Dann sagen Sie mir, wie es war.»
Yovell lachelte betrubt.»Carwithen war Drucker, Sir, ein guter sogar, wie ich horte. Einige Landarbeiter lie?en ihn Flugblatter drucken, Protestaufrufe gegen zwei Gutsbesitzer, die ihnen vorenthielten, was ihnen an Geld und Naturalien zustand. Dem Vernehmen nach war Carwithen ein Feuerkopf, der seine Meinung frei heraussagte, besonders wenn anderen Unrecht geschah. «Er wurde rot, aber Bolitho nickte.
«Keine Angst, Mann, sprechen Sie.»
Seltsam, da? ausgerechnet Yovell Bescheid wu?te. Wenn er an Land war, wohnte er in Bolithos Haus, aber da er aus Devon stammte, galt er bei den Einheimischen als Zugereister. Trotzdem schien er immer zu wissen, was vorging.
«Da Carwithens Frau kurz zuvor gestorben war, schickte man das Madchen nach seinem Tod aus der Grafschaft weg.»