»Weise Worte«, sagte Ben.
Jose erwahnte nicht, dass es die Worte seines Vaters waren.
»Interessant, dass du von der Isla Maldita sprichst«, fuhr Ben fort. »Gerade heute haben wir uber sie gesprochen. Sie ist nicht bewohnt, nicht wahr? Die Manner von einem der Patrouillenboote schworen, sie hatten Rauch von der Insel aufsteigen sehen.«
»Jaja«, sagte Jose und verbiss sich ein Grinsen. »Dort gehen irgendwelche alten Piratengeister um.«
»Vielleicht gehen auch ein paar Leute um, die sich zu sehr fur unsere Plane auf den Inseln interessieren.«
Jose trat seine Zigarette ebenfalls aus. »Deutsche«, sagte er.
Eine Weile schwiegen sie. Irgendwo zirpten Zikaden. Der Wind spielte in der Takelage der Schiffe im Hafen. Jetzt wird er gehen, dachte Jose, und ich habe nichts uber das Fliegen gesagt und die Gelegenheit ist beinahe voruber. Aber was konnte er sagen? Wie konnte er Ben erklaren, dass er fliegen musste? Dass es das Wichtigste auf der Welt war? Dass der Himmel dort oben ihn rief, selbst dieser nachtliche Himmel? Er holte tief Luft.
»Geben Sie mir eine Chance«, sagte er. »Was muss ich tun, damit Sie mich mit in die Luft nehmen?«
Ben lachte leise. Er nahm ihn also doch nicht ernst. »Wie ware es, wenn du zur Isla Maldita schwimmst und herausfindest, was dort wirklich geschieht?«
Jose lie? eine ganze Weile verstreichen, ehe er antwortete. Eine Idee hatte begonnen, sich in seinem Kopf zu formen, und er wartete, bis sie greifbar war. »Schwimmen«, sagte er schlie?lich, »werde ich nicht.«
Am nachsten Morgen war Juan Casafloras Boot verschwunden. Und eine Menge Leute hatten eine Menge Theorien. Uber Juan Casaflora hatten immer eine Menge Leute eine Menge Theorien gehabt. Es dauerte zwei Tage, bis Ben Miller eine eigene Theorie entwickelte. Und da war es vielleicht zu spat. Da war schon jemand dem Boot gefolgt, der eine ganz andere Theorie hatte als Ben.
La grandeza del muerte
Die Gro?artigkeit des Todes
Es war, als hatte die Mariposa auf Jose gewartet. Er betrat sie leise, ungehort von den Besitzern der anderen Boote im Hafen. Niemand sah ihn.
Unter Deck fand er mehrere gro?e Kanister mit Trinkwasser und mit Benzin, einen Gaskocher und Dosen mit eingemachten Nahrungsmitteln. Juan Casaflora hatte sich auf eine lange Reise eingerichtet. Und er hatte, dachte Jose, eine noch langere angetreten: eine Reise zu einem Ort, den niemand kannte. Ins Jenseits. Er, Jose, hatte ein anderes Ziel: die Isla Maldita.
Der Amerikaner, Ben, er hatte seine Worte nicht ernst gemeint, naturlich nicht. Er hatte sich uber ihn lustig gemacht, genau wie sie alle. Bald wurde sich niemand mehr uber ihn lustig machen. Er wurde es schaffen. Er wurde zur Isla Maldita segeln, ganz allein, und fur sie herausfinden, was dort vor sich ging. Und dann wurde Ben sein Versprechen halten mussen. Jose wurde fliegen.
Er ging noch einmal zuruck zu den Baracken, um seinen Rucksack und etwas Brot zu holen, rasch, rasch, leise, leise – alles war still dort. Er bemuhte sich, das Gesicht seines schlafenden Vaters nicht zu lange anzusehen. Als er zum zweiten Mal in dieser Nacht auf das Deck der Mariposa sprang, schaukelte sie sacht, als wollte sie ihn begru?en.
»Gutes altes Madchen«, flusterte Jose, wahrend er sich an der Reling entlangtastete. »Ich brauche dich, und du brauchst mich, denn ein Boot ohne Skipper ist ein totes Boot, tot wie dein Juan Casaflora.«
Jose brauchte das Vorsegel der Mariposa nur auszurollen, ein Zug an der richtigen Leine und es entfaltete sich hell in der dunklen Nacht. Im Licht einer Streichholzflamme machte er die Leinen los und weckte das Schiff aus seinem Schlaf. Er kummerte sich nicht ums Gro?segel, das Vorsegel musste reichen, bis er genug Ruhe und Licht hatte, um sich mit den Tauen und Segeln, den Klemmen und Klampen und Rollen und Segeln der Mariposa vertraut zu machen. Soweit er es beurteilen konnte, war die Mariposa mit allem ausgestattet, was ein Schiff brauchte – allem au?er einem Funkgerat. Aber er wurde kein Funkgerat brauchen. Seine Reise war eine geheime, niemand brauchte davon zu wissen. Er steuerte die Mariposa mit einem Gefuhl der Gluckseligkeit durch die Nacht; gerauschlos glitt der schlanke Holzkorper an den anderen Schiffen vorbei, hinaus aus der schutzenden Bucht, und dann brach der Himmel auf, und der Mond goss sein Licht ins Meer gleich Milch in Kaffee. Der Milchpazifik verfarbte sich unwirklich wei? wie im Traum. Erst ein gutes Stuck vor der Kuste von Baltra entzundete Jose die Bordlaternen, Grun und Rot fur Steuerbord und Backbord, Wei? am Bug und Wei? am Heck. Er hatte ungesehen losfahren wollen, aber er hatte keine Lust, drau?en in der Nacht mit irgendeinem anderen Schiff zusammenzusto?en.
Er war kein Dummkopf. Er war Jose Julio Fernandez. Ein Mann. Kein Kind.
Er sah zu den Sternbildern empor, die uber ihm glitzerten wie merkwurdig geformte Perlenketten, und pragte sich den Kurs ein, den er fahren musste. Es war nicht schwer. Er war oft nachts mit den Fischern von Isabela hinausgefahren, und er war schon als Kind immer wieder von der Farm entwischt, um den weiten Weg zur Kuste zu laufen, wo die Segler anlegten. Silvio hatte ihn am haufigsten mitgenommen. Jose und der Pazifik waren alte Bekannte.
Eine Weile stand er ganz still am Heck der Mariposa und versuchte die Nacht in sich aufzunehmen: die erste Nacht auf dem Meer, die ihm allein gehorte.
In der Ferne tauchten die Lichter eines anderen Schiffs auf, eines gro?en Schiffs, und im Mondlicht erkannte er es: Es war die Isabelita, deren Heimatinsel auch Joses Insel war. Isabela. Er hob die Hand zu einem stummen Gru?. Er war froh, dass er die Positionslichter gesetzt hatte. Sie wurden sich naturlich fragen, was fur ein Schiff das war, das ihnen um diese Zeit entgegenkam.
»Das Schiff eines Toten«, flusterte Jose. Die Worte zitterten in der Nacht.
Es waren die verkehrten Worte, sie riefen die Angst aus den dunklen Tiefen der See herauf, wo sie lauerte – zusammen mit den unbekannten Geschopfen, deren Namen unaussprechlich und undenkbar waren. Die Abuelita hatte nur wispernd von ihnen erzahlt, riesig sollten sie sein und schrecklich, voller Tentakel, voll spitzzahniger Mauler und todlicher Stachel …
»Nein. Es ist nicht das Schiff eines Toten«, sagte Jose laut. »Es ist jetzt mein Schiff.«
Das waren bessere Worte. Die Angst tauchte zuruck ins Wasser und nahm die undenkbaren Geschopfe mit. Aber eines der Meeresungeheuer schien seinem Willen entkommen zu sein. Etwas regte sich vor ihm im Wasser, zur Linken, backbord voraus. Jose horte ein Platschern, und dann sah er im Mondlicht etwas um sich schlagen.
Die Abuelita kicherte zufrieden in seinen Gedanken.
»Sei still, Abuelita«, flusterte Jose. »Du hast keine Ahnung, und du bist alt und au?erdem gar nicht da! Es ist nur ein Seelowe.«
Ah ja?, hohnte die Abuelita. Ein Seelowe mit langen Armen und Beinen, die durch die Nacht schnellen wie die Wedel einer Palme?
Sie hatte recht. Es war kein Seelowe. Jose horte das Keuchen des Unaussprechlichen in der Nacht. Er wollte das Steuerruder herumrei?en und fliehen, doch seine Hande waren starr vor Angst und gehorchten ihm nicht. Der Wind drehte kaum merklich, die Mariposa gierte nach Lee und drehte ihren Bug ohne sein Zutun ein wenig nach backbord, und jetzt hielt sie genau auf das zu, was kein Seelowe war. Er sah es untergehen, wieder auftauchen … – und plotzlich erkannte er, was es war.
Es war keiner der Unaussprechlichen aus der Tiefe, der versuchte, heraufzukommen. Es war ein Mensch, der versuchte, nicht unterzugehen. Ein Mensch, der mitten in der Nacht, mitten auf dem Pazifik, mit dem Tod kampfte.
Jose war mit einem Satz bei der Backbordreling. Er beugte sich hinuber und streckte beide Arme aus. Kurz darauf bekam er einen Armel zu fassen, dann ein Handgelenk, und er zog. Die Person im Wasser wehrte sich, vielleicht hielt sie Joses Griff fur den Griff des Meeres – doch sie hatte keine Kraft mehr. Er fragte sich, wie lange sie schon mit dem Wasser kampfte. Das Meer zog an seiner Beute wie ein argerliches Tier, aber schlie?lich gelang es Jose, den anderen Menschen uber die Reling zu zerren. Dann lagen sie beide an Deck in einer Pfutze aus Salzwasser.
Jose rappelte sich auf, korrigierte mit einem raschen Blick zum Himmel den Kurs und stellte das Steuerrad fest. Eine Weile wurde die Mariposa den Kurs von allein halten.
Er hockte sich neben den Korper, der sich jetzt nicht mehr ruhrte. Es war ein Junge, vielleicht so alt wie er selbst, nur viel magerer. Verglichen mit den Jungen auf den Farmen wirkte er beinahe zerbrechlich – zerbrechlich und blass wie Porzellan. Im transparenten Mondlicht sah das Gesicht des Jungen auf seltsame Art aus wie ein Puppenkopf, jedoch ein Puppenkopf ohne Wimpern und Augenbrauen … Jose beugte sich dichter uber den Jungen. Nein, er hatte Wimpern. Sie waren nur ungewohnlich hell. Und es war nicht das Mondlicht, das seine Haut so blass wirken lie?. Er war blass. Ein Europaer.
Genau in diesem Moment schlug der Junge die Augen auf. Sie waren beunruhigend hell, genau wie seine Wimpern. Was, fragte sich Jose, sagte man zu einem Auslander, dem man das Leben gerettet hatte? Er legte sich einen schonen englischen Satz zurecht, wurdig der Situation …
Da sagte der Junge in perfektem Spanisch: »Du Idiot!« Er hustete, spuckte noch einen Mundvoll Pazifik aus und fugte hinzu: »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«
Als die Mariposa sich ihr naherte, war die Person, in deren Pass der Name Jonathan Smith stand, schon beinahe nicht mehr vorhanden. Das Meer hatte begonnen, Jonathans Lungen zu fullen, und er merkte, dass sein Korper sich wehrte. Er wollte sich nicht wehren, er wollte endlich heimkehren zu denen, die er verloren hatte: Mama. Papa. Julia. Sie waren tot, und um zu ihnen zu kommen, musste er ebenfalls sterben.
Er spurte den festen Griff einer Hand, und zuerst dachte er, es ware die seiner Mutter, die ihn zu sich hinuberzog. Aber dann schlug er die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht, ein Gesicht mit dunklen Augen, groben Wangenknochen und sonnengefarbter Haut. Er sah sich um und merkte, dass er sich auf einem Boot befand und dass es noch immer Nacht war und um ihn noch immer das Meer.
»Du Idiot!«, sagte er auf Spanisch. Er musste husten und spuckte einen Schwall Wasser aus. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«
Sein Spanisch uberraschte ihn selbst.
Er hatte zwar auf der Uberfahrt von Spanien kein Wort gesprochen, doch er musste wohl gelauscht haben, ohne es zu merken: tage-, nachte-, wochenlang. Und das wenige Spanisch, dass seine Mutter ihm beigebracht hatte, hatte sich in Jonathan ausgebreitet und war zu einem Garten aus Wortern und Satzen herangewachsen. Es war auf ganz naturliche Weise geschehen, ohne Absicht. Die Hulle, die Jonathan bis zu seinem Sturz ins Wasser gewesen war, hatte keine Absichten gehabt, keine Wunsche, keinen Willen.
Aber Jonathan, der jetzt aus der zerbrochenen Hulle geschlupft war, hatte durchaus einen Willen. Er hatte sich entschlossen, diese Welt zu verlassen – diese Welt, in der manche Menschen im Paradies lebten, auf Inseln voll bluhender Baume, und andere in der Holle, zwischen lichtlosen Nachten und verbrannten Hoffnungen. Er wollte zu seiner Familie. Er wollte verdammt noch mal nicht beim Sterben gestort werden.
»Ich habe dich gerettet«, sagte der Junge, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte, mit gro?em Ernst. »Mein Name ist Jose und ich habe dich gerettet.«
»Ich habe nicht darum gebeten, gerettet zu werden«, sagte Jonathan.
Jose ging nicht darauf ein. »Du musst etwas Trockenes anziehen«, sagte er. »Dahinten liegt mein Rucksack. Es sind ein paar Kleider drin. Ich kummere mich um mein Steuer. Die Mariposa ist ein gutes Schiff, aber ewig steuert sie sich nicht selbst.«
Jonathan kam auf die Beine, hielt sich an der Reling fest und spuckte noch einen Schwall Meerwasser aus. Er hatte wieder uber Bord klettern wollen, sich zuruckfallen lassen ins Wasser, das fortsetzen, was er begonnen hatte – aber auf einmal fehlte ihm die Kraft. Er war mude, unendlich mude. Sterben kostet Kraft. Morgen, dachte er. Morgen vielleicht.
Er fror. Er fand den Rucksack, und beinahe erschien es ihm jetzt zu anstrengend, sich danach zu bucken. Er sah, dass Jose ihn beobachtete. »Ich … gehe … in die Kajute, um die Sachen anzuziehen«, sagte er.
Jose zuckte die Schultern. »Bitte.«
Jonathan offnete die winzige Tur am Ende der Treppe. In der Kajute war es dunkel, er konnte nur einzelne Schemen erkennen: einen Tisch und zwei schmale Banke, Regale … Er tastete sich durch den Inhalt von Joses Rucksack, fand ein Hemd und eine Hose und schloss die Tur hinter sich. In absoluter Dunkelheit schalte er sich aus seinen nassen Kleidern, schlupfte in die trockenen Sachen und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach Tabak und Orangenschalen, nach Erde und Sonne und dem Saft gruner Pflanzen.
Auf einer der Banke fand er eine Wolldecke und verkroch sich darunter wie eine Schildkrote in ihrem Panzer. Die Schildkroten … am liebsten hatte Mama von den Schildkroten vorgelesen … Das Gerausch des Wassers, das drau?en gegen die Schiffswand schlug, war unbekannt und nah, ganz anders als die Gerausche der Isabelita oder des Ozeankreuzers, dessen stampfende Motoren ihn monatelang in den Schlaf gewiegt hatten. Dann waren da leise Schritte im Dunkeln, etwas wurde beiseitegeschoben: Jose musste heruntergekommen sein, um nach ihm zu sehen. Er verkroch sich tiefer unter der Decke. Sekunden spater schlief er fest und diesmal traumlos.