Bolitho sagte nichts. Der Generalinspekteur konnte ihm eine zusatzliche Last bei seiner Aufgabe sein. Es schien absurd, jemanden mit so hochtrabend klingendem Titel zu einer Inspektionsreise nach Westindien zu schicken, wenn England, allein im Kampf gegen Frankreich und die Flotten Spaniens stehend, taglich eine Invasion erwartete.
Bolithos Instruktionen besagten klar, da? er Viscount Somervell ohne Verzogerung zu treffen hatte, auch wenn dies bedeutete, da? er sich sofort zu einer anderen Insel begeben mu?te, Jamaika eingeschlossen.
Doch der Gesuchte befand sich hier. Immerhin etwas.
Bolitho fuhlte sich mude. Er hatte die meisten Offiziere und Beamten des Stutzpunkts kennengelernt, zwei Schoner besichtigt, die fur die Navy umgebaut wurden, und war bei den Batterien gewesen, wobei Jenour und Glassport Muhe gehabt hatten, mit ihm Schritt zu halten.
Er lachelte schwach. Dafur bu?te er jetzt.
Glassport wartete, bis er an seinem Wein nippte, und bemerkte dann:»Es gibt einen kleinen Empfang fur Sie heute abend, Sir Richard. «Er unterbrach sich, als er in die grauen Augen blickte.»Kaum dem Anla? angemessen, aber er wurde erst arrangiert, nachdem man Ihr. ah, Flaggschiff gemeldet hatte.»
Bolitho merkte das Zogern. Noch einer, der an seinem Schiff zweifelte.
Glassport mochte eine Absage befurchtet haben, denn er haspelte weiter:»Viscount Somervell erwartet Sie.»
«Verstehe. «Ein Wink zu Jenour.»Informieren Sie den Kommandanten.»
Als der Leutnant sich abmeldete, sagte Bolitho:»Mein Bootssteurer soll es ihm ausrichten. Sie bleiben bei mir.»
Jenour nickte. Er lernte heute eine ganze Menge.
Bolitho wartete, bis Yovell ihm den nachsten Stapel Papiere brachte. Glassport sah ihm beim Umblattern zu.
Dies also war der Mann hinter der Legende, ein zweiter Nelson, sagten manche. Doch alle Welt wu?te, da? Nelson hoherenorts nicht sehr beliebt war. Er war der richtige Mann, um eine Flotte zu fuhren. Notwendig. Aber hinterher? Glassport studierte Bolithos gesenkten Kopf, die Strahne uber dem Auge. Ein ernstes, empfindsames Gesicht, dachte er, das man sich in den Gefechten, uber die er soviel gelesen hatte, schwer vorzustellen vermochte. Er wu?te, Bolitho war mehrmals schwer verwundet worden und am Fieber fast gestorben. Aber insgesamt waren das nicht viele Informationen. Ritter des Bath-Ordens, aus einer guten alten Seefahrerfamilie stammend — und England sah in ihm einen Helden: all das, was Glassport gern gewesen ware und gehabt hatte. Warum war er nach Antigua gekommen? Es bestand wenig oder gar keine Aussicht fur ein Unternehmen zur See, selbst vorausgesetzt, die einzelnen Flottillen wurden verstarkt und ein Ersatz fur die.
Er erschrak, als Bolitho gerade diesen Punkt beruhrte, als konnten die grauen, zwingenden Augen Gedanken lesen.
«Die Spanier haben uns die Fregatte
Bolitho griff zum Degen.»Aber bestimmt zwei Pferde, mein Junge.»
Sein plotzlicher Eifer uberraschte ihn selber. War er lediglich ein Ablenkungsmanover von anderen Sorgen?» Sie sind doch aus Hampshire, richtig?»
Jenour nickte.»Jawohl, das hei?t.»
«In Hampshire kann man reiten. Zwei Pferde — sofort!»
Glassport starrte vom einen zum andern.»Aber der Empfang, Sir Richard. «Er schien entsetzt.
«Der Ausflug wird mir Appetit machen. «Bolitho lachelte.»Ich bin rechtzeitig zuruck.»
Bolitho musterte forschend sein Gesicht im Wandspiegel, dann strich er sich die lose Strahne aus der Stirn. Im Spiegel sah er auch Allday und Ozzard, die ihn besorgt beaugten, wahrend sich Stephen Jenour nach ihrem Ritt das Hinterteil massierte.
Der Ausflug war hei? und staubig gewesen, aber zunachst unerwartet heiter. Allein schon die Gesichter der Passanten, als sie an ihnen voruber durch den diesigen Sonnenschein galoppierten, waren sehenswert.
Nun war es dunkel, die Dammerung setzte auf den Inseln fruh ein. Bolitho musterte sich sorgfaltig, wahrend sein Ohr schon den Klang der Violinen und das dumpfe Gemurmel aus dem Salon auffing, in dem der Empfang stattfand. Ozzard hatte ihm frische Strumpfe von Bord gebracht, Allday den Reprasentationsdegen und ihn gegen das alte Erbstuck, das Bolitho trug, ausgewechselt.
Bolitho seufzte. Die meisten Kerzen wurden durch hohe Sturmglaser geschutzt, daher war die Beleuchtung nicht zu grell.
So blieben vielleicht sein zerknittertes Hemd und die Schmutzflecken, die der Sattel auf seinen Breeches hinterlassen hatte, unbemerkt. Sie hatten keine Zeit gefunden, noch zur
zuruckzukehren. Verdammter Glassport und sein Empfang! Bolitho hatte viel lieber in seiner Kajute alles durchdacht, was der Fregattenkommandant ihm mitgeteilt hatte.
Commander Matthew Price war fur die Fuhrung eines so schonen Schiffes noch reichlich jung. Die Consort mit ihren sechsunddrei?ig Geschutzen hatte sich zwischen einigen Untiefen vor Venezuela durchgewunden, als sie von einer Kustenbatterie unter Feuer genommen wurde. Unglucklicherweise stand sie so dicht unter Land, da? sie auf Grund geriet. Es war schon so, wie Glassport berichtet hatte: Ein Schoner hatte den Gro?teil der Besatzung abgeborgen, mu?te sich aber davonmachen, als ein spanisches Kriegsschiff auf der Bildflache erschien.
Commander Price sa? in seinem Alter noch auf keiner Kapitansplanstelle, und wenn das Kriegsgericht gegen ihn entschied, was sehr wahrscheinlich war, mu?te er alles verlieren. Bestenfalls wurde man ihn zum Leutnant zuruckstufen. Der schlimmste Fall war nicht auszudenken.
Wahrend Price in einem kleinen, regierungseigenen Haus die Verhandlung erwartete, hatte er viel zu bedenken. Nicht zuletzt, da? Gefangenschaft oder gar der Tod im Gefecht besser fur ihn gewesen waren. Denn sein Schiff war wieder flottgemacht worden und gehorte nun zum Geschwader Seiner Allerkatholischsten Majestat in La Guaira auf dem spanischen Festland. Fregatten aber waren ihr Gewicht in Gold wert, und England bedurfte ihrer immer dringender. Als Bolitho noch im Mittelmeer diente, waren zwischen Gibraltar und der Levante nur sechs Fregatten verfugbar gewesen. Der Vorsitzende der Kriegsgerichtsverhandlung wurde dies bei seinen Erwagungen nicht ignorieren konnen.
In seiner Verzweiflung hatte der junge Kommandant den Vizeadmiral gefragt, was wohl bei der Verhandlung herauskommen wurde. Bolitho hatte ihm gesagt, er musse erwarten, die Spitze des Degens auf dem Tisch gegen sich gerichtet zu sehen. Sein Schiff aufs Spiel zu setzen, war eine Sache, es an den verha?ten Feind zu verlieren, war eine vollig andere. Er konnte Price nichts vormachen, das Urteil vermochte er nicht zu beeinflussen. Price hatte viel riskiert, um die spanische Starke zu erkunden. Zusammen mit dem, was Bolitho schon wu?te, konnten seine Informationen au?erst wertvoll sein. Aber dem Kommandanten der Consort wurde das jetzt nicht helfen. Eine Standuhr schlug.
Bolitho sagte:»Ich glaube, es ist Zeit. Sind unsere Offiziere schon da?»
Jenour nickte und zuckte zusammen, als der Schmerz wieder durch seine Schenkel und Huften scho?. Der Admiral war ein prachtiger Reiter, und das gleiche hatte er auch von sich selbst gedacht. Bolithos kleiner Scherz uber die Leute aus Hampshire hatte ihn angespornt, doch zu keiner Zeit hatte er Bolithos Tempo halten konnen. Er entgegnete:»Der Erste Leutnant traf mit ihnen ein, als Sie sich umkleideten, Sir Richard.»
Bolitho schaute auf seine makellosen Strumpfe hinunter und dachte an die Zeit, als er noch ein kleiner Leutnant mit nur einem feinen Paar Strumpfe fur derartige Anlasse gewesen war. Die anderen waren uber und uber gestopft, ein Wunder, da? sie uberhaupt noch zusammengehalten hatten. Dann fiel ihm wieder ein, da? Kapitan Haven ersucht hatte, an Bord bleiben zu durfen. Haven hatte dies damit begrundet, ein Sturm konne ausbrechen und seine rechtzeitige Ruckkehr an Bord verhindern. Die Luft war wirklich schwer und feucht und die Sonne blutrot untergegangen.
Der Segelmeister der
Isaac Penhaligon aus Cornwall, bestand allerdings darauf, da? ein Sturm sehr unwahrscheinlich ware. Vielleicht zog Haven es vor, sich abseits zu halten, auch wenn ihm jemand auf dem Empfang seine Abwesenheit verubeln sollte.
Wenn nur Keen sein Flaggkapitan gewesen ware! Bolitho hatte ihn nur zu fragen brauchen, und Keen ware mit ihm gekommen, aus Treue, Freundschaft, Zuneigung. Aber Bolitho hatte Keen genotigt, in England zu bleiben, bis dieser seine Probleme mit der reizenden Zenoria gelost hatte. Mehr als alles andere hatte Keen sich namlich gewunscht, das dunkelaugige Madchen mit dem vollen kastanienbraunen Haar zu heiraten. Sie waren so sehr ineinander verliebt, da? Bolitho es nicht uber sich brachte, die beiden wieder zu trennen, kaum da? sie sich gefunden hatten.
Verglich er ihre Liebe mit seiner eigenen Ehe? Da horte er lieber auf, sich Gedanken zu machen. Es war jetzt nicht die rechte Zeit dazu. Vielleicht wurde es das niemals mehr sein.
Jenour fragte hoflich:»Sollen wir gehen, Sir Richard?»
Bolitho betastete sein linkes Auge, hielt dann aber inne und starrte statt dessen auf das nachste Sturmglas und seinen zarten Rauchfaden, der kerzengerade zur Decke stieg. Alles war hell und klar. Keine Trubung, keine Schatten, die ihn manchmal so plotzlich behinderten.
Zwei Lakaien, die sich bisher zuruckgehalten hatten, rissen die hohen Turflugel auf. Musik und Stimmengewirr brandeten in den Raum. Bolitho spannte seine Muskeln, als galte es, einer Musketenkugel zu widerstehen. Den von Pfeilern flankierten Korridor hinuntergehend, ratselte er uber Sinn und Zweck dieses stattlichen Gebaudes auf einer so kleinen Insel. Aber es war eben ein Platz, der durch den Krieg schon ofter ein wichtiger Angelpunkt in Englands Strategie geworden war.
Er horte Jenours Sohlen uber die Dielen tappen und lachelte halb uber des Leutnants Eifer, mit ihm Kopf an Kopf zu reiten. Sie hatten mehr wie Landjunker ausgesehen als wie Offiziere des Konigs.
Dann sah er die reichen Farben der Damengewander, die nackten Schultern und neugierigen Blicke, die ihn empfingen. Sie hatten kaum Zeit seit seiner Ankunft gehabt, wie schon Kommodore Glassport erklarte, aber wahrscheinlich war jeder offizielle Besucher oder ein Schiff aus England hier willkommener Anla? zum Feiern. Er bemerkte einige Offiziere von der
Ihr Blau und Wei? bot einen deutlichen Kontrast zum Rot und Scharlach der Armee und der Seesoldaten.
Wieder einmal mu?te er sich beherrschen, um nicht nach vertrauten Gesichtern zu suchen oder nach Stimmen; es durfte nicht so aussehen, als ob er einen Handschlag erwarte oder ein Zeichen des Wiedererkennens.
Zwischen zwei Pfeilern, einige Stufen erhoht, stand Glassport und blickte ihn an, zweifellos erleichtert, da? Bolitho nach seinem Ritt doch noch gekommen war. Im Mittelpunkt, elegant und unbeschwert, stand eine von Kopf bis Fu? in Wei? gekleidete Gestalt. Bolitho wu?te wenig uber den Mann, den zu treffen er gekommen war. Der Sehr Ehrenwerte Viscount Somervell, Seiner Majestat Generalinspekteur in der Karibik, schien nicht viel an sich zu haben, das ihn fur diesen Posten empfahl. Er war ein bekanntes Gesicht bei Hofe und auf den richtigen Empfangen, ein rucksichtsloser Spieler, wie einige meinten, und ein Fechter von Ruf. Letzterer war wohlbegrundet. Man wu?te, da? der Konig sich seinetwegen eingeschaltet hatte, als Somervell einen Mann im Duell totete. Fur Bolitho war das ein vertrautes und zugleich schmerzliches Milieu, fur das er nicht bestimmt war.
Ein Lakai klopfte mit seinem langen Stab auf die Dielen und verkundete:»Sir Richard Bolitho, Vizeadmiral der Roten Flotte!»
Die plotzliche Stille war fast korperlich spurbar. Bolitho sah aller Augen auf sich gerichtet, als er uber den Teppich ging. Die Musiker mit ihren Instrumenten standen stockstill, ein junger Marineoffizier, der seinen Partner knuffte, erstarrte, als ihn Bolithos Blick streifte. Dann der kuhne Blick einer Lady in so tief ausgeschnittener Robe, da? sie sich uberhaupt nicht hatte anzuziehen brauchen, und der eines jungen Madchens, welches scheu lachelte und dann das Gesicht hinter einem Facher verbarg.
Der Viscount kam ihm zur Begru?ung nicht entgegen. Er stand wie zuvor, eine Hand nachlassig in die Hufte gestemmt, die andere an der Seite baumelnd. Sein Mund verzog sich zu einem Lacheln, das sowohl Belustigung als auch Langeweile bedeuten konnte. Seine Gesichtszuge waren die eines Jungeren, aber er besa? die tragen Augen eines Lebemannes, der schon alles gesehen hatte.
«Willkommen in…«Somervell stockte und drehte sich ungehalten um, als ein fahrbarer Kandelaber hinter ihm in den Saal gerollt wurde und ihn um seine elegante Pose brachte.
Der uberraschend grelle Lichtschein in Augenhohe kostete Bolitho die Balance, als er eben einen Fu? auf die erste Stufe setzen wollte. Eine Dame in Schwarz, die neben dem Viscount gestanden hatte, ergriff stutzend seinen Arm. Durch die vielen Kerzen lugten uberraschte und neugierige Gesichter wie auf einem Gemalde.
«Pardon, Ma'am!«Bolitho gewann sein Gleichgewicht wieder und versuchte gar nicht erst, sein Auge zu beschatten, als der Schleier daruber hinwegzog. Es war, als fiele er in tiefes Wasser, tiefer und tiefer.
«Es geht schon«, versicherte er. Die Robe der Dame war gar nicht schwarz, sondern von dunkelgrun schillernder Seide, die ihre Farbe in Falten und Kurven zu wechseln schien, was das blendende Licht erst jetzt enthullte. Der Rock war weit geschnitten, das Mieder mit dem tiefen Dekollete eng. Das Haar — soweit er sich entsann, war es lang und so dunkel wie sein eigenes gewesen. Jetzt trug sie es uber den Ohren zu Locken aufgeturmt.
Die neugierigen Gesichter, das wieder einsetzende Gemurmel, das mutwillige Geschwatz, alles schien vor seinen Augen zu verblassen. Er hatte sie einmal als Catherine Pareja gekannt, als Kate.
Er verga? seine momentane Behinderung, als er ihre Augen sah, in denen Besorgnis einer erzwungenen Ruhe wich. Sie hatte gewu?t, da? er kommen wurde. Die Uberraschung war nur auf seiner Seite.
Somervells Stimme schien von weither zu dringen. Auch er tat gelassen, hatte seine Haltung wiedergewonnen.»Naturlich, ich verga?. Sie beide kennen sich von fruher.»
Bolitho beugte sich uber ihre ausgestreckte Hand. Sogar ihr Parfum war noch das gleiche. Er horte sie erwidern:»Das ist lange her.»
Als Bolitho sich aufrichtete, wirkte Kate seltsam fern und selbstsicher, fast gleichgultig. Sie setzte hinzu:»Aber einen Helden vergi?t man nicht.»
Dann bot sie ihrem Gatten den Arm und wandte sich den ubrigen Gasten zu.
Bolitho war wie ins Herz getroffen. Sie trug die langen, goldenen Filigranohrringe, die er ihr in jener anderen unwirklichen Welt einmal gekauft hatte — in London.
Lakaien naherten sich mit Tabletts voll funkelnder Glaser. Das kleine Orchester erwachte wieder zum Leben. Doch uber die erhitzten, erregten Gesichter hinweg trafen sich ihre Blicke und schlossen alles andere aus.
Glassport sprach ihn an, aber er horte nicht hin. Trotz allem, was geschehen war, bestand das Band zwischen ihnen immer noch. Aber es mu?te zerrissen werden, bevor ihre Gefuhle sie beide zerstorten.