Die Gig ruderte zu den franzosischen Schiffen zuruck, so schnell sie gegen die starke Stromung ankommen konnte. Bolitho ballte die Fauste, da? ihm die Nagel ins Fleisch bissen, als das Geschutz wieder feuerte und zwei weitere Ungluckliche zappelnd zur Gro?rah des Flaggschiffs aufstiegen.
Der franzosische Admiral hatte nicht einmal die Ruckkehr der Gig abgewartet. Er hielt sich an die gesetzte Frist. Hielt seine Drohung ein.
Die Gig verschwand hinter den ankernden Schiffen, und dann murmelte Gossett:»Eins holt schon die Ankertrosse ein, Sir.»
Vom Bug kam der Ruf:»Anker kurzstag, Sir.»
Inch trat vor, aber er sah Gossetts grimmiges Gesicht und dessen kurzes Kopfschutteln. Deshalb machte er auf dem Absatz kehrt und befahl laut:»Weitermachen! Marssegel setzen!«Selbst als er sein Sprachrohr senkte, verriet Bolitho mit keinem Zeichen, da? er etwas gehort hatte, noch wendete er die Augen von den feindlichen Schiffen ab.
«An die Brassen! Beeilung!«Ein Tampen schlug einem Mann klatschend uber die Schultern, und vom Bug her kam der Ruf:»Anker ist los!»
Langsam, sogar widerstrebend, fiel die
ab und gewann Fahrt. Das wa?rige Sonnenlicht fiel wie Silber auf ihre sich blahenden Segel, als sie mit dem ablandigen Wind davonsegelte.
Bolitho ging nach Luv, den Blick immer noch auf die franzosischen Schiffe gerichtet. Lequiller. Den Namen wurde er sich merken. Lequiller — ein Schandname!
Ein Steuermannsmaat legte gru?end die Hand an die Stirn.»Verzeihung, Sir?»
Bolitho starrte ihn an. Er mu?te laut gesprochen haben. Er sagte:»Der Tag wird kommen. Verlassen Sie sich darauf!»
Dann kletterte er die Leiter zur Hutte hinauf und sagte knapp:»Sie konnen Ihre Leute wegtreten lassen, Hauptmann Dawson.»
Sobald der letzte Marinesoldat an ihm vorbeigepoltert war, begann er auf dem verlassenen Huttendeck auf- und abzugehen. Sein Kopf war vollig leer. Bis auf einen Namen.
Das war alles, was er hatte. Doch eines Tages wurde er ihn stellen, und wenn dieser Tag kam, wurde er weder Mitleid kennen noch Pardon gewahren, bis die Erinnerung an jene elenden, zuk-kenden Gestalten getilgt war.
V Die Jagd beginnt
Funf Tage nach der Ruckkehr der
zu den beiden anderen Schiffen sa? Bolitho in seiner Kajute, das Fruhstuck unangetastet vor sich, und blickte teilnahmslos durch ein Heckfenster auf den leeren Horizont. Er konnte sich an keine Tage erinnern, die so lang oder so inhaltslos gewesen waren, und wu?te, da? das ganze Schiff seine dunkle Vorahnung teilte.
Als er wenige Minuten, nachdem sein Schiff im Kielwasser der anderen wieder seine Position eingenommen hatte, an Bord der
Pelham-Martin hatte ihn wortlos und ohne Unterbrechung angehort. Tatsachlich konnte Bolitho sich nicht an einen Ausdruck oder irgendeine Reaktion erinnern, die entweder auf Verargerung oder Besorgnis hinwies. Er hatte lediglich gesagt:»Kehren Sie auf Ihr Schiff zuruck, Bolitho. Ich werde sofort einen Bericht fur Sir Man-ley Cavendish aufsetzen.»
Und wieder war Bolitho wie ein unbeteiligter Zuschauer auf seinem Achterdeck hin und her gewandert, wahrend an den Rahen des Flaggschiffs aufflatternde Signalflaggen wenigstens fur ein paar Stunden Anzeichen der Dringlichkeit und Zielstrebigkeit verraten hatten. Zum Gluck waren wahrend der kurzen Abwesenheit der
die beiden Schaluppen zu dem kleinen Geschwader zuruckgekehrt, und wahrend die eine nordwarts jagte, um die Schiffe des Vizeadmirals zu suchen, wendete die andere und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, um die beiden ubriggebliebenen Fregatten zu holen.
Doch als Tag um Tag verging und nichts das Warten und die Ungewi?heit unterbrach, wu?te Bolitho, da? eine neue Demonstration der Starke sinnlos war. Das Ausfalltor stand weit offen, doch war es unwahrscheinlich, da? noch mehr gro?e Schiffe darauf warteten, die Wachsamkeit des Kommodore auf die Probe zu stellen.
Wieder und wieder stellte sich Bolitho die Frage, was er hatte tun konnen. Wenn er vor der Kuste geblieben ware, um die franzosischen Schiffe zu beobachten, ware Pelham-Martin nicht informiert worden. Doch durch seine sofortige Ruckkehr zum Geschwader hatte er dem Feind die Flucht erlaubt, ihm ermoglicht, sich in Luft aufzulosen, als hatte er nie existiert.
Die dritte Moglichkeit hatte er ohne zu zogern verworfen. Doch wahrend er in seiner erzwungenen Isolation sich gramte und brutete, konnte er nicht langer den wahren Wert dieser einen Tat beurteilen. Menschlichkeit und Ehre wurden in der kalten und strengen Atmosphare einer Kriegsgerichtsverhandlung anders gewertet. Es war wie eine finstere Drohung, da? Pelham-Martin dieses Mal von keinem verlangte, seinen Bericht mit zu unterschreiben.
Verschiedentlich hatte er angesetzt, Cheney wieder einen Brief zu schreiben, sie auf Nachrichten vorzubereiten, die jederzeit kommen und ihr nur Verzweiflung bringen konnten. Wenn PelhamMartin seinen Bericht so abgefa?t hatte, da? er damit die volle Verantwortung dem Kommandanten der
aufburdete, dann wurde es nicht lange dauern, bis man in Falmouth von Bolithos Schande erfuhr — mit allen schrecklichen Konsequenzen.
Er setzte sich auf, als eine Stimme rief:»An Deck! Segel in Luv voraus.»
Er zwang sich, am Schreibtisch sitzenzubleiben, bis ein Mid-shipman ihm in aller Form meldete, da? ein Schiff in Nordwest gesichtet worden war. Dann zog Bolitho trotz seiner wachsenden Ungeduld erst seinen Uniformrock an und begab sich gemessenen Schritts auf das Achterdeck.
Inch kam eilig auf ihn zu.»Eine Fregatte, Sir. «Besorgt beobachtete er Bolithos Gesicht.»Wird sie Depeschen bringen, Sir?»
«Vielleicht. «Bolitho spurte Inchs Befurchtungen und fugte ruhig hinzu:»Haben Sie keine Sorge. Ihre Rolle ist in meinem Logbuch eindeutig festgehalten.»
Inch trat einen Schritt vor.»Daruber mache ich mir keine Sorgen, Sir. Es geht nur darum, da?…»
Bolitho musterte ihn ruhig.»Um was geht es?»
Inch reckte seine schmalen Schultern.»Es ist so verdammt unfair, Sir. Wir denken alle gleich.»
Bolitho beobachtete die Mowen, die in Lee uber die Laufbrucke schwebten und dann herunterschossen. Die Vogel waren toricht genug gewesen, den weiten Weg von Land her zuruckzulegen, obwohl die Verpflegung sogar fur die Besatzung selbst knapp genug bemessen war.
Dann sagte er:»Sie werden uber Dinge, die Sie in diesem Zusammenhang vermuten, in der Offiziersmesse nicht mehr diskutieren, Mr. Inch. Es kann jederzeit erforderlich werden, da? Sie das Kommando ubernehmen mussen. Falls Sie Ihr Herz zu freimutig offenbaren, konnten Sie sich dadurch verwundbar machen, wenn Sie es sich am wenigsten leisten durfen. «Er bemerkte Inchs niedergeschlagenes Gesicht und fugte hinzu:»Trotzdem danke ich Ihnen.»
Als die Fregatte naherkam, wurde schnell offenkundig, da? sie mehr als nur Depeschen an Bord hatte. Als sie die Segel kurzte und direkt auf die langsamen Zweidecker zulief, erkannte Bolitho, da? sie am Fockmast die Flagge eines Vizeadmirals trug, und die Fulle der aufflatternden Signale sagte ihm, da? Sir Manley Cavendish personlich gekommen war, um mit moglichst geringer Verzogerung Urteil und Strafe zu verkunden.
Midshipman Gascoigne schrie:»An alle! Beidrehen!»
Als Offiziere und Mannschaften auf Stationen eilten, fugte er atemlos hinzu:»Flaggschiff an
Kommandant in drei?ig Minuten zum Rapport.»
«Bestatigen. «Bolitho sah Inch an.»Lassen Sie beidrehen und mein Boot aussetzen. «Vor den Augen seiner Umgebung bemuhte er sich, gelassen zu erscheinen.»Ich habe noch Zeit, meine Galauniform anzuziehen.»
Wahrend das Schiff im leichten Wind dumpelte und Petch ein sauberes Hemd und die beste Uniform bereitlegte, sah Bolitho sich in seiner Kajute um, dachte an die vielen dramatischen und hoffnungsvollen Szenen, die sich hier abgespielt hatten und in Zukunft noch abspielen mochten. Von hier waren die Kommandanten an Deck gegangen, um im Kampf zu fallen oder uber einen der Dutzend Feinde zu triumphieren, die England hatte. Waren gegangen, um befordert zu werden oder Zeuge beim Vollzug einer Auspeitschung zu sein, um einem Schiff in Not beizustehen oder lediglich, um die voruberziehende Schonheit einer Wolkenformation oder eines Kustenstrichs zu bewundern. Es war merkwurdig, da? dasselbe Schiff, das dem einen Ruhm und Vermogen brachte, fur einen anderen Schande und Untergang bedeutete.
Er zog seine Halsbinde fest und bemerkte, da? Petch ihn besorgt ansah. Wahrscheinlich fragte er sich, ob er am nachsten Tag um diese Zeit nicht schon einem neuen Herrn dienen wurde.
Inch trat ein.»Ihr Boot ist klar, Sir«, meldete er. Nach einer Pause fugte er hinzu:»Der Kommodore hat sich bereits auf die Fregatte ubersetzen lassen.»
Bolitho streckte die Arme aus, um sich in seinen schweren, goldbestickten Uniformrock mit den wei?en Aufschlagen helfen zu lassen: den Rock, den Cheney so bewundert hatte. Es kam wie erwartet. Die beiden vorgesetzten Offiziere wollten sich zuerst ungestort unter vier Augen besprechen, dachte er grimmig.
«Sehr gut, Mr. Inch. Ich bin bereit.»
Er wartete, bis der umstandliche Petch ihm den Sabel umgegurtet hatte, und ging dann schnell zur Tur.
Tiefe Stille lastete uber dem Hauptdeck, als er auf die Schanzpforte zuschritt. Es beruhrte ihn merkwurdig, da? er immer noch so viele Gesichter unter der Besatzung sah, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte. Mit der Zeit hatte er das andern konnen. Er blickte zum Rigg und zu den lose schlagenden Segeln auf. Mit der Zeit hatte noch sehr vieles anders werden konnen.
Die Pfeifen trillerten, und die Marinesoldaten prasentierten ihre Musketen, als er sich von Deck schwang und in das Boot hinunterstieg.
Er sa? steif auf der Heckbank, als die Riemen den Schlag aufnahmen und das Boot zur fernen Fregatte ruderten. Erst jetzt bemerkte er, da? jeder Rudergast sein bestes kariertes Hemd angezogen hatte und da? Allday einen blauen Rock mit Messingknopfen trug, den er noch nicht an ihm gesehen hatte.
Allday hielt die Augen auf die Fregatte gerichtet und sagte mit gedampfter Stimme:»Nur um es ihnen zu zeigen, Captain. Sie sollen alle wissen, was wir empfinden.»
Bolitho packte den Griff seines Sabels und starrte uber die Kopfe der Matrosen hinweg. Er konnte keine Worte finden, wagte nicht, auf Alldays schlichte Demonstration seiner Loyalitat zu antworten.
Der Buggast machte an der Kette fest, und ohne zu warten, bis Allday aufgestanden war, zog Bolitho sich zum Deck der Fregatte hinauf und hob gru?end den Hut zum Achterdeck.
Einen Augenblick blickte er zu dem Schiff hinuber, das er gerade verlassen hatte. Dann reckte er die Schultern und nickte dem jungen Kommandanten der Fregatte fluchtig zu.»Gehen Sie bitte voran.»
Die Achterkajute der Fregatte war niedrig und spartanisch im Vergleich zu der eines Linienschiffes, aber Bolitho fuhlte sich augenblicklich zu Hause. Als er das erste Mal das Kommando einer Fregatte ubernahm, fand er das Quartier, verglichen mit einer kleinen Schaluppe, furstlich, doch als er jetzt unter den niedrigen Decksbalken den Kopf einzog, wurde ihm die Enge wieder bewu?t, die durch die drei Anwesenden noch spurbarer wurde.
Vizeadmiral Sir Manley Cavendish war dunn und grauhaarig, und obwohl seine Haut sonnengebraunt und wettergegerbt war, wirkten seine Wangen eingefallen; unter dem prunkvollen Galarock schien sein Atem schnell und flach zu gehen. Bolitho wu?te, da? er uber sechzig war; die Tatsache, da? Sir Manley in den vergangenen zwei Jahren nur fur wenige Stunden den Fu? auf festes Land gesetzt hatte, konnte kaum zur Starkung seiner offenbar angeschlagenen Gesundheit beigetragen haben. Aber seine Stimme lie? keine Schwache erkennen, und die eng uber einer herrischen Nase stehenden Augen waren so klar und forschend wie die eines Leutnants.
«Zumindest punktlich, Bolitho. «Er lie? sich muhsam in einen Sessel sinken.»Es ist besser, Sie setzen sich alle. Es kann eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, obwohl ich es nicht gewohnt bin, mich zu wiederholen.»
Bolitho nahm einen Sessel und war sich standig der Anwesenheit von Pelham-Martins massiger Erscheinung bewu?t, der an der gegenuberliegenden Wand sa?. Er hielt die rosigen Hande vor seiner Weste gefaltet, als ob er sich in Gegenwart seines Feindes selbst festhalten wolle.
Der dritte Anwesende war ein Flaggleutnant, ein ausdrucksloser junger Mann, der starr in das aufgeschlagen vor ihm liegende Logbuch sah, die Feder wie einen kampfbereiten Degen uber einer leeren Seite erhoben.
Cavendish sagte:»Ich habe die Berichte gelesen und erwogen, was getan werden kann, was getan werden mu?.»
Bolitho sah auf die Feder. Sie verharrte regungslos.
«Ich habe mit Ihrem Kommodore gesprochen und alles gehort, was geschehen ist, sowohl vor als auch nach dem Verlust der
Der Admiral nickte bedachtig.»Wenn Sie geblieben waren und den Kampf aufgenommen hatten, hatten Sie Ihr Schiff und vielleicht sechshundert Menschenleben geopfert. Sie sagen, Sie waren dazu bereit gewesen?«Er verschrankte die Finger und beobachtete Bolitho ein paar Sekunden.»Sie waren aber nicht bereit, das Leben anderer aufs Spiel zu setzen, die fur uns bereits verloren waren, sei es nun durch Versagen oder Nachlassigkeit?»
Bolitho erwiderte:»Dazu war ich nicht bereit, Sir. «Er horte das geschaftige Kratzen der Feder und spurte, wie sich sein Korper zum erstenmal entspannte. Er belastete sich selbst, konnte aber nichts dagegen tun. Nicht, wenn er nicht bereit war, Pelham-Martin zu beschuldigen oder eine Handlung anzuprangern, die jener immer noch fur richtig hielt.
Cavendish seufzte.»Damit ist alles gesagt, was dazu zu sagen war. «Er wendete scharf den Kopf und fixierte Pelham-Martin.»Wunschen Sie, noch eine Erklarung abzugeben?»
«Kapitan Bolitho war aus meinem Befehlsbereich abkommandiert, Sir. «Der Kommodore sprach schnell; in dem grellen Licht, da? durch die Heckfenster fiel, glanzte sein schwei?bedecktes, rundes Gesicht.»Doch ich bin uberzeugt. Das hei?t, ich meine, da? er unter den herrschenden Umstanden so handelte, wie er es fur richtig hielt.»
Cavendish sah seinen Flaggleutnant an. Es war nur ein kurzer Blick, aber Bolitho glaubte, darin Verachtung aufleuchten zu sehen.
Dann begann er:»Ich habe Ihrem Kommodore bereits gesagt, was ich beabsichtige. Aber da Sie unmittelbar betroffen sind, will ich Sie uber den Kern meiner Entschlusse unterrichten. «Er blatterte in den Papieren vor sich und fugte knapp hinzu:»Vier Schiffe sind vor Lorient meinem Geschwader entkommen, wie Ihnen zweifellos bekannt ist. Nun konnen weitere unserer Wachsamkeit entgangen sein. Glauben Sie, da? zwischen ihnen kein Zusammenhang besteht?«Er klopfte mit seiner kleinen, welken Hand auf die Papiere.»Ich habe jede verfugbare Fregatte alarmiert, jeden denkbaren Informanten befragt, doch nirgends war auch nur eine Spur von diesen Schiffen zu entdecken. «Er schlug mit beiden Handen flach auf die Tischplatte.»Keine einzige Spur!»