Er sah Pascoe auf einem der Wasserbehalter kauern. Den Kopf in die Hande gestutzt, starrte er auf die vorbeiziehende grune Wand. Sein Hemd war an einer Schulter aufgerissen, und die frisch vernarbte Haut hob sich in stumpfem Rot von der Sonnenbraune ab. Er rief:»Kommen Sie nach achtern, Mr. Pascoe. «Er mu?te seine Aufforderung wiederholen, ehe der Junge den Kopf hob und dann langsam wie ein Schlafwandler uber die dosenden Matrosen stieg.
Bolitho sagte leise:»Bedecke deine Schulter, Junge. Die wird so wund gebrannt wie rohes Fleisch, wenn du sie der Sonne aussetzt.»
Er sah zu, wie Pascoe sein Hemd zurechtzog und bemerkte den frischen Schwei?, der ihm bei der Anstrengung auf die Stirn trat. Plotzlich dachte er an Stepkyne und verfluchte ihn.
Er fuhr fort:»Es kann sein, da? du morgen an dem Riemen vorn im Bug hinaufklettern mu?t, um dich umzusehen. Du bist der leichteste an Bord, also ist es besser, wenn du deine Krafte schonst.»
Pascoe drehte sich um und sah zu ihm auf, die Augen von seinem ungekammten Haar halb verdeckt.»Das schaffe ich schon, Sir. «Er nickte fluchtig.»Das schaffe ich bestimmt.»
Bolitho wendete sich ab, war nicht fahig, die fieberhafte Entschlossenheit des Jungen anzusehen, die ihn zu keiner Stunde zu verlassen schien. Nie wurde er vor einer Aufgabe zuruckscheuen, selbst wenn sie normalerweise einem abgebruhten Seemann ubertragen wurde; Bolitho wu?te, der Junge wurde sich eher umbringen, als eine Niederlage eingestehen. Als ob er die Schande seines Vaters als standigen Ansporn sahe, als ob er glaube, sich bewahren zu mussen, um dadurch Hughs Makel zu tilgen.
Als der Junge nach dem achtern folgenden Kutter ausspahte, warf Bolitho wieder einen verstohlenen Blick auf ihn. Was wurde er sagen, wenn er die ganze Wahrheit erfuhr? Da? sein Vater noch lebte und unter falschem Namen in New Holland eine Strafe verbu?te? Er wies den Gedanken sofort von sich. Die Ferne allein heilte nichts, das wu?te er jetzt. Es wurde die Qualen des Jungen nur verlangern, ihn mit neuen Zweifeln oder falschen Hoffnungen erfullen.
Allday leckte sich die Lippen.»Wachwechsel! Die nachsten an die Riemen.»
Bolitho beschattete die Augen, um zum leeren Himmel aufzusehen. Nur ein gelegentliches Platschern um den Steven lie? ahnen, da? sich das Boot bewegte. Das ruckweise, kummerliche Vorwartskommen schien kein Ende zu nehmen, als sie weiter in diese grune Unwirklichkeit vorstie?en.
Er tastete nach seinem Kompa? und starrte eine volle Minute darauf. Ein Insekt kroch uber das Glas, in plotzlichem Arger wischte er es fort. Bestenfalls konnten sie bis zum Einbruch der Nacht die vollen zehn Meilen schaffen. Und dies war noch der leichteste Teil ihrer Fahrt. Am folgenden und am dritten Tag wurden ihnen gro?ere Strapazen bevorstehen, je weiter die Boote in den Sumpf vordrangen. Er warf einen schnellen Blick auf die Matrosen in seiner Nahe. Ihre Gesichter waren schmutzig und bedruckt, und sie schlugen die Augen nieder, als sie bemerkten, da? er sie beobachtete. Kampfen und notfalls sterben, das konnten sie verstehen. Von vertrauten Mannern und Dingen umgeben, waren sie auf den Kampf gefa?t und mit der strengen Disziplin und unanfechtbaren Autoritat einverstanden. Doch ihre Haltung beruhte auf Vertrauen, auf einem Ehrenkodex. Dem Vertrauen aufeinander und auf die Tuchtigkeit ihrer Offiziere, die ihr Leben bestimmten.
Jetzt aber, unter dem Befehl eines Mannes, den sie nicht einmal kannten, und bei einer Aktion, die ihnen ebenso fragwurdig erscheinen mu?te wie ihre Umgebung, kamen ihnen die ersten Zweifel. Und aus dieser Unsicherheit konnte der Keim eines Fehlschlags erwachsen.
Er sagte:»Geben Sie Befehl zum Ankern. Wir wollen Rationen verteilen und eine halbe Stunde rasten. «Er wartete, bis Allday das nachfolgende Boot benachrichtigt hatte, ehe er hinzufugte:»Pro Mann einen Becher Wasser, und sorgen Sie dafur, da? die Leute langsam trinken.»
Plotzlich fragte Pascoe:»Wenn wir das Ende des Sumpfes erreichen, finden wir vielleicht frisches Wasser, Sir. «Seine dunklen Augen waren ernst und nachdenklich auf Bolitho gerichtet.»Aber ich nehme an, da? wir zuerst kampfen mussen.»
Bolitho beobachtete den ersten Matrosen am Wasserbehalter. Er hob den Schopfbecher an die Lippen und legte den Kopf weit zuruck, damit er auch den letzten Tropfen bekam. Aber er hatte Pas-coes Worte im Ohr, die ihm in diesem Augenblick mehr Sicherheit gaben, als er fur moglich gehalten hatte.
Er erwiderte:»Ich zweifle nicht daran, da? uns sowohl Wasser als auch Kampf erwartet. «Dann lachelte er trotz seiner ausgedorrten Lippen.»Aber trink jetzt deine Ration, mein Junge, und warte ab; alles zu seiner Zeit.»
Gegen Abend wurde dann jedes Weiterkommen unmoglich. So sehr die Matrosen sich auch mit den Riemen muhten, das Boot steckte in einem Bett aus Schlamm und verrottenden Wasserpflanzen fest. Vergebens waren Shamblers Drohungen und Alldays Fluche. Die Manner stutzten sich auf die Riemen, starrten nur in die sinkende Sonne und reagierten kaum. Sie waren erschopft und dem Zusammenbruch nahe, und als Langs Boot sich naherte, wu?te Bolitho, da? er sofort handeln mu?te, wenn sie die letzte Tagesstunde noch nutzen wollten.
«Raus aus dem Boot! Bewegung!«Ohne auf die widerspenstigen Gesichter oder schwirrenden Insekten zu achten, stieg er nach vorn in den Bug, streifte sein Hemd ab und loste den Sabel, lie? sich dann zahneknirschend in das ekelerregende Wasser hinab und griff nach einer Schleppleine.
Allday schrie:»Jetzt aber ran!«Auch er schwang sich uber das Dollbord, schlang sich eine weitere Leine uber die Schulter und watete hinter Bolitho her, ohne auch nur einen Blick zuruckzuwerfen, um zu sehen, wer ihm folgte.
Bolitho stapfte langsam durch den klebrigen Schlamm, spurte, wie er sich um seine Oberschenkel schlo? und dann bis zu den Huften stieg, wahrend er sich vorwarts kampfte. Die Leine schnitt ihm unter der vollen Last des Bootes in die Schulter. Dann horte er Platschern hinter sich, gefolgt von Fluchen und Stohnen, als die Manner das Boot verlie?en und einer nach dem anderen ihre Platze an den beiden Schleppleinen einnahmen.
«Zugleich!«Bolitho zog noch starker, unterdruckte die aufsteigende Ubelkeit, die ihm die stinkenden Gase verursachten.
Schlie?lich waren sie durch. Zitternd und achzend stemmten sie sich ins Boot zuruck, wo neuer Schrecken auf sie wartete.
Den meisten sa?en gro?e Egel am Korper. Manche versuchten, die schleimigen Wurmer abzurei?en, aber Bolitho rief:»Mr. Shambler, reichen Sie die Lunte weiter. Einer nach dem anderen soll die Biester abbrennen. Sonst bekommt ihr die Kopfe nicht los.»
Allday hielt die Lunte an sein Bein und fluchte, als der fette Egel auf die Bodenplanken fiel.»Mein Blut willst du saugen? Dafur sollst du braten!»
Bolitho hatte sich aufgerichtet und beobachtete, wie die sinkende Sonne die Schilfspitzen mit rot-goldenem Schimmer uberzog und Drohung und Verzweiflung vorubergehend durch ihre fremdartige Schonheit vergessen lie?.
Die anderen Boote folgten. Die Besatzungen wateten uber die seichten Stellen, ihre Gestalten verschwammen schon im schwindenden Licht.
«Wir wollen fur die Nacht ankern«, sagte Bolitho. Lang in dem anderen Boot nickte zustimmend.»Aber wir wollen noch vor der Morgendammerung aufbrechen und versuchen, den Zeitverlust wieder wettzumachen.»
Er musterte seine Leute. Die Matrosen kauerten auf ihren Platzen, kaum fahig, sich zu ruhren.
«Teilen Sie immer einen Mann als Wache ein, Allday. Wir sind alle so erschopft, da? wir sonst bis Tagesanbruch und noch langer schlafen.»
Er lie? sich langsam auf die Ducht zurucksinken. Pascoe schlief bereits, den Kopf gegen das Dollbord gelehnt, seine eine Hand hing beinahe bis ins Wasser. Behutsam hob er den Arm des Jungen ins Boot und lehnte sich dann gegen die Ruderpinne.
Hoch oben erschienen bleich die ersten Sterne, und das Schilf ringsum rauschte leise in der plotzlichen Abendbrise. Einige Augenblicke wirkte sie nach der Hitze und dem Schmutz des Tages beinahe erfrischend, doch dieser Eindruck verging schnell.
Bolitho sa? zuruckgelehnt und beobachtete die Sterne. Er versuchte, nicht an die Stunden und Tage zu denken, die vor ihnen lagen. Im Bug stohnte ein Mann im Schlaf auf; und ein anderer flusterte leidenschaftlich einen Frauennamen, um gleich darauf wieder zu verstummen.
Bolitho zog die Knie ans Kinn, die getrocknete Schlammkruste zerkratzte ihm die Haut. Er blickte auf den schlaff vor ihm liegenden Pascoe hinunter. Ob auch er traumte? Von seinem Vater, den er nie gesehen hatte? Von einer Erinnerung, die fur ihn verha?t und beschamend geworden war?
Er legte die Stirn auf die verschrankten Arme und war auf der Stelle eingeschlafen.
XI Angriff im Morgengrauen
Wahrend des ganzen nachsten Tages ging der alptraumartige Marsch durch den Sumpf weiter, und standig wurden ihre Qualen durch die unbarmherzige Sonne noch gesteigert. Ob sie die Boote stakten oder watend durch den zahen Schlamm zogen, war allen schon gleichgultig. Sie hatten jedes Zeitgefuhl verloren und zahlten auch nicht mehr, wie oft sie die Boote verlie?en und wieder an Bord kletterten. Ihre Korper und zerrissene Kleidung waren dick von Schmutz bedeckt, ihre Gesichter aufgequollen vor Erschopfung.
Jetzt hatten sie im Sumpf eine offene Strecke erreicht, an der keine erkennbare Stromung die Oberflache krauselte. Sie war von einer dicken grunen Algenschicht bedeckt, Binsen und Schilf standen in vereinzelten Gruppen wie Geschopfe von einem anderen Planeten.
Am spaten Nachmittag, als sie die Boote uber eine halb versunkene Insel aus weichem Sand schleppen mu?ten, lie? einer der Manner die Leine fahren und sturzte um sich schlagend und schreiend nieder. Da er vollig von Schlamm und Algen bedeckt war, konnte man zunachst nicht erkennen, was geschehen war. Ein Teil der Leute drangte sich unsicher und erschreckt um das Boot, wahrend Bolitho und Allday den keuchenden Mann hineinhievten. Mit einem in Frischwasser getauchten Lappen sauberte Bolitho eine Stelle tief unten am Bein des Verletzten und legte eine kleine blutende Wunde frei. Er mu?te auf eine Schlange getreten sein, der Bi? war klar zu erkennen. Allday blieb bei dem Verletzten an Bord, wahrend Bolitho die anderen wieder an die Schleppleinen befahl. Er wu?te, da? es gegen das Schlangengift keine Hilfe gab; die Leute danebenstehen und zusehen zu lassen, wie ihr Kamerad elend starb, konnte nur schaden.
Wahrend sie sich weiter durch den Sumpf kampften, wurden sie von den grauenvollen Todesschreien des Mannes verfolgt; als Bo-litho sich einmal umsah, bemerkte er, da? die Matrosen ihn aus rotgeranderten Augen in schmutzbedeckten, unrasierten Gesichtern beobachteten und mehr Ha? auf ihn als Mitgefuhl mit ihrem Kameraden verrieten.
Barmherzigerweise brauchte das Gift nur eine Stunde, um sein
Werk zu vollenden; der leblose Korper wurde einfach uber Bord gesto?en, eine grimmige Warnung fur jene Boote, die dicht hinter ihnen folgten.
Die meisten konnten ihre Rationen aus Rindfleisch und hartem Schiffszwieback nicht mehr zu sich nehmen und begnugten sich mit der karglichen Zuteilung an Trinkwasser. Bolitho hatte sie wahrend einer kurzen Rast beobachtet. Die hastigen Bewegungen und die truben Augen in den erschopften Gesichtern waren ihm nicht entgangen, ebensowenig die Art, wie sie uber jeden Schopfbecher Wasser wachten, mit einem Ausdruck, der eher tierisch als menschlich war.
Doch trotz allem waren sie weitergekommen. Bolitho wu?te, da? aus ihrer fugsamen Geduld Ha? auf ihn geworden war, da? es nur eines geringfugigen Anlasses bedurfte, um aus dem Unternehmen eine blutige Meuterei zu machen.
Wahrend der Nacht lie? er alle Leute schlafen und wechselte sich beim Wachen mit Allday und Shambler ab. Doch im zweiten Boot war die Wachsamkeit ungenugend. Vielleicht hatte Leutnant Lang auch seine Fahigkeiten uberschatzt, die Leute unter Kontrolle zu halten.
Als Bolitho aus schwerem Schlaf erwachte, spurte er, da? Allday ihn an der Schulter ruttelte und ihm eine Pistole in die Hand druk-ken wollte.
«Was ist los?«Eine Sekunde glaubte er, er hatte verschlafen, doch als er uber das Dollbord spahte, sah er, da? im Osten nur eine Andeutung von Helligkeit wahrzunehmen war und die Manner im Boot noch in ihrer verkrampften Haltung schliefen.
«Mr. Lang hat gemeldet, da? sein Wasservorrat geplundert worden ist, Captain. Das kann bose Folgen bei seinen Leuten haben, wenn sie aufwachen.»
Bolitho erhob sich taumelnd.»Behalten Sie die Pistole. «Er kletterte aus dem Boot und spurte, wie das schlammige Wasser seine Beine kuhl umfing, als seine Fu?e bei jedem Schritt auf das andere Boot zu einsanken. Lang erwartete ihn verstort.
«Wie schlimm ist e s?»
Lang hob ratlos die Schultern.»Kaum ein Tropfen ubrig. Fur den Rest des Vormarsches und den Ruckweg ist gerade noch ein Kanister vorhanden.»
Von einem der anderen Boote hallte eine Stimme uber den Sumpf:»Es wird Zeit zum Wecken, Sir!»
Bolitho hievte sich ins Boot.»Gehen Sie sofort zu Mr. Quince und warnen Sie ihn. Dann informieren Sie auch Mr. Carlyon. «Er packte den Leutnant am Handgelenk.»Und keine Pistolen, verstanden?»
Als die Manner in dem zweiten Kutter sich aus ihrem schweren Schlaf aufrichteten, starrten sie benommen Bolitho und dann einander an, als sie ihn sagen horten:»Wahrend der Nacht hat sich einer uber den Wasserkanister hergemacht. Zuerst hat er sich grundlich sattgetrunken und dann in seiner Gier den Rest auslaufen lassen. «Er deutete auf die schimmernde Pfutze im getrockneten Schlamm zu ihren Fu?en. Nachdrucklich fugte er hinzu:»Ich nehme an, ihr wi?t alle, was das bedeutet.»
Im Bug schrie eine Stimme:»Das mu? Mr. Lang selbst gewesen sein. Der hat die letzte Wache gehabt!«Ein Knurren war die Antwort, als er bosartig hetzte:»Die Offiziere sorgen doch immer nur fur sich!»
Bolitho stand vollig ruhig im Heck, die Hande in die Huften gestutzt. Eine plotzliche verzweifelte Wut packte ihn, weil er allein und unbewaffnet war. Doch noch starker war er sich der Scham bewu?t, die ihn uberkam, als ob wirklich er dafur verantwortlich ware.
Mit fester Stimme sagte er:»Das ist falsch. Aber ich bin nicht gekommen, um mit euch zu streiten oder um euer Verstandnis zu bitten. Ihr habt euch bisher gut gehalten, besser als erwartet. Ihr habt bereits erreicht, was manche fur unmoglich gehalten haben, und wenn es sein mu?, werdet ihr noch Besseres leisten, selbst wenn uberhaupt kein Wasser mehr da ist und ich euch mit blo?en Handen vorantreiben mu?te.»
Ein tastender Sonnenstrahl fiel spielerisch auf die gestapelten Waffen, und Bolitho bemerkte, da? mehr als einer einen Blick darauf warf.
Scharf sagte er:»Wenn ihr glaubt, ihr konnt euren Durst stillen, indem ihr mich totet, dann nur zu! Andernfalls will ich jetzt die Anker lichten und weitermachen.»
Die Stimme schrie gellend:»Hort nicht auf ihn, Jungs! Er versucht nur, seinen Leutnant zu decken!»
Bolitho stieg von der Ducht und schritt langsam auf die ihm am nachsten sitzenden Matrosen zu. Er konnte sehen, da? die anderen ihn uber den Sumpf stumm beobachteten. Allday stand mit einem Fu? auf dem Dollbord, um seinem Kapitan zu helfen. Er wurde zu spat kommen. Noch ehe er das andere Boot erreichte, konnte einer ein Entermesser packen und Bolitho niedermachen.
Bolitho sagte ruhig:»Ich habe schon feststellen mussen, je lauter einer schreit, desto gro?er ist seine Schuld. «Er blieb vor einer Ducht stehen. Sechs Leute waren jetzt hinter seinem Rucken, als er auf einen kraftigen, untersetzten Matrosen hinunterstarrte.
«Gestern mu?te ich Frischwasser verwenden, um die Wunde eines Verletzten zu saubern. Um festzustellen, wo die Schlange ihn gebissen hatte.»