Bolitho blickte in die Gesichter der Manner. Wie gut er inzwischen die meisten von ihnen kannte! Er sah alles in diesen letzten Augenblicken. In manchen Augen glitzerte Angst, Erregung, auch die gleiche Wildheit, die ihn selber uberkommen hatte. Und manche Gesichter waren von schierer brutaler Kampfeslust verzerrt.
Kurz befahl er:»Wir gehen unter diesen uberhangenden Buschen ins Wasser. La?t Schuhe und Strumpfe und alles andere bis auf die Waffen hier. Allday, Sie sorgen dafur, da? die Pistolen gut eingewickelt werden, damit sie trocken bleiben!»
Er inspizierte den Himmel. Es wurde schnell dunkel, nur an den Baumwipfeln hielt sich noch der sanfte Widerschein der Abendsonne. In der Bucht und bei der Brigantine war das Wasser schwarz und glanzlos wie flussiger Schlamm.
Die anderen schwammen mit hochgehaltenen Waffen, nur Keen uberholte ihn mit gleichma?igem Kraulen.»Ich schwimme zur Ankerkette, Sir«, flusterte er und grinste tatsachlich dabei.
Weiter, immer weiter… Dann hatten sie den halben Weg hinter sich, und Bolitho wu?te: wenn sie jetzt entdeckt wurden, waren sie verloren. Hoch ragten die Masten und Rahen uber ihnen auf, die gerefften Segel hoben sich scharf gegen den Himmel ab. In der Dammerung leuchtete die Ankerlaterne besonders hell. Nackte Fu?e platschten uber die Decksplanken, und ein Mann lachte wild auf: ein trunkenes Lachen. Vielleicht brauchte man eine Extraration Rum fur solche Arbeit, dachte Bolitho.
Und dann klammerten sie sich am Schiff fest; die Stromung zerrte an ihren Beinen und druckte sie gegen die rauhen Planken, so da? sie unter dem Uberhang des Schiffsrumpfes verborgen blieben.
«Hier kann man uns von den Booten aus nicht sehen, damit sind wir erst mal sicher«, keuchte Allday.
Da schallte ein furchtbarer Schrei uber das Wasser; Bolitho dachte im ersten Moment, es sei ein Todesschrei. Aber der Matrose neben ihm deutete zum Ufer, das sie eben verlassen hatten, und ware dabei fast abgetrieben.
Im letzten Abendschein war dort Rojarts gefalteltes Hemd deutlich zu erkennen. Er stand offen und ungedeckt da, die Arme weit ausgebreitet, als wolle er die ganze Bucht mit allem, was darin war, umarmen. Wieder und wieder schrie er, dann drohte er mit den Fausten und stampfte mit den Fu?en, als sei er verruckt geworden.
Bei Rojarts plotzlichem Erscheinen wurde es an Bord der Brigantine schlagartig still; dann horte Bolitho Stimmengewirr und Schritte auf den Planken und wu?te, da? es mit der Uberraschung vorbei war. Keen hing am Wasserstag unter dem Bugspriet, lie? sich jetzt aber zu Bolitho hintreiben. Verzweifelt keuchte er:»Niemand hat Rojart darauf vorbereitet, da? es das Schiff ist, das die
Ehe der Qualm ihm die Sicht versperrte, sah Bolitho noch, wie Rojart von einer vollen Ladung gehackten Bleis weggeschleudert wurde: ein blutiger Fetzen, an den nichts mehr an einen Menschen erinnerte. Bolitho klammerte sich an das
Tau, das Allday um das Wasserstag geschlungen hatte, und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Achtern krachte ein zweiter Schu?, und er fuhr zusammen, denn der Schiffsrumpf erzitterte unter seinen Handen wie ein lebendes Wesen. Diesmal war es eine Kugel; er horte sie durch die Baume zischen und in der Ferne einschlagen.
Und in diesem Moment eroffneten Soames und seine Leute an der anderen Seite des Lagers das Feuer.
VII Herricks Entscheidung
Die vereinzelten Musketenschusse wurden fast von dem wilden Geschrei der entsetzten Sklaven ubertont. Auf der anderen Seite der Brigantine sprangen Manner polternd in ein Boot und stie?en wilde Rufe aus, offenbar um die Genossen am Lagerplatz anzufeuern. Bolitho gab Allday ein Handzeichen.»Jetzt! Uber den Bug!«Mit bleiernen Gliedern zog er sich hoch und kletterte uber das kurze Vordeck an Bord. Das He rz klopfte ihm an die Rippen, unter sich vernahm er das erregte Flustern seiner Manner.
Im Vorschiff hockten eng zusammengedrangt die nackten, gefesselten Sklaven. Verstandnislos beobachteten sie die Vorgange an Land. Zwei bewaffnete Matrosen der Brigantine standen an einem Drehgeschutz, aber da das Boot inzwischen auf dem Weg zur Kuste war, befand es sich in ihrem Schu?feld, und sie konnten nicht feuern.
«Drauf, Jungs!«brullte Allday und warf sich mit einem machtigen Satz an Deck. Sein schweres Entermesser fuhr in den Hals eines Mannes, der lautlos zu Boden sturzte. Der zweite Wachtposten lie? sich auf ein Knie nieder und zielte mit seiner Muskete auf Bolithos Manner, von denen inzwischen immer mehr an Bord geklettert waren. Der Blitz des Schusses erhellte die Gesichter. Bolitho horte die Kugel vorbeisausen und mit scheu?lichem Ton in Fleisch und Knochen einschlagen.
Immer mehr Leute der Brigantine sturzten sich von der Kampanje her ins Gefecht, wild um sich schie?end, ohne sich um die Todesschreie der Sklaven zu kummern, die ihnen in die Schu?linie gerieten. Eine nackte junge Frau — ihr Korper glanzte vor Schwei?, eine Kette klirrte zwischen ihren Handgelenken — versuchte, einen der verwundet am Boden liegenden Sklaven zu erreichen. War es ihr Mann oder ihr Bruder?
Aber einer von der Besatzung, der mit ein paar anderen das Achterdeck verteidigte, hatte sie bereits niedergehauen. Bolitho warf sich mit gezogenem Degen auf den Morder und spurte, wie dieser den Hieb mit seinem Sabel parierte. Das harte Gesicht des Mannes war von Ha? und irrer Wut verzerrt, als sie aufeinander einhieben und ihre Fu?e auf den blutbeschmierten Planken ausrutschten. Auf dem ganzen Deck wurde wild gefochten, und nur hier und da warf der Mundungsblitz eines Pistolenschusses kurz Licht auf Freund oder Feind. Bolitho trieb den Gegner ruckwarts gegen den Gro?mast und druckte seinen Oberkorper nach hinten. Die Parierstangen der beiden Waffen lagen gekreuzt vor der Kehle des Piraten. Bei dem Mann war jetzt die Wut in Angst umgeschlagen; Bolitho merkte es, machte seinen Degen mit einem heftigen Ruck frei und hieb ihm die Parierstange in die Zahne. Der Kerl schrie auf, ri? den Arm hoch, da fuhr Bolithos Degen ihm dicht unter der Schulter bis fast zum Griff in die Brust.
Allday sprang an Bolithos Seite und rief:»Gut gemacht, Cap-tain!«Er rollte den Mann mit einem Fu?tritt zur Seite und knurrte:»Noch einer, bei Gott!«Denn ein Matrose der Brigantine war aus den Wanten gesprungen. Ob er uberraschend von oben angreifen oder selbst einem Angriff entgehen wollte — Bolitho wu?te es nicht. Er horte nur Alldays Keuchen, das Sausen seiner Klinge, als er den Mann erst niederschlug und ihn dann mit einem weiteren furchtbaren Hieb erledigte.
«Da kommen zwei Boote, Sir!»
Bolitho sturzte zum Schanzkleid und duckte sich sofort, denn eine Kugel schlug dicht neben seiner Hand in die Reling.
«Nehmt sie mit dem Drehgeschutz unter Feuer!«brullte er.
Hinter ihm rannte ein Mann vorbei, der vor Alldays Degen floh und im Laufen eine Pistole abfeuerte. Bolitho fuhr mit einem Aufschrei herum; er spurte einen stechenden Schmerz im Oberschenkel. Aber als er sein Bein und den klaffenden Ri? in der Kniehose betastete, fuhlte er weder Blut noch den scharfen Schmerz von Knochensplittern. Der Kerl, der den ungezielten Schu? abgefeuert hatte, kam den schreienden Sklaven zu nahe. Ketten peitschten durch die Luft wie Schlangen, dann verschwand der Sklavenhandler unter einem sto?enden, tretenden Haufen kreischender, schwei?glanzender Neger.
Allday tastete nach Bolitho.»Wo sind Sie verwundet, Captain?«Selbst in dem Kampfeslarm, in dem Gebrull ringsum, war seine Besorgnis deutlich herauszuhoren.
Bolitho schob ihn beiseite und stie? zwischen zusammengebissenen Zahnen hervor:»Der Kerl hat meine Uhr getroffen, Gott verdamme seine Augen!»
Grinsend buckte sich Allday.»Fur ihn steht die Zeit jetzt auch still, schatze ich. «Bolitho warf einen Blick auf den leblosen Korper bei den keuchenden Sklaven. Sie hatten ihn buchstablich in Stucke gerissen. Er zerrte Allday weg.»Nicht zu nahe heran, sonst geht's Ihnen ebenso.»
«Undankbare Hunde!«Aber Bolitho stand schon bei der verlassenen Drehbasse und richtete den Lauf auf das vorderste Langboot.
«Die denken vielleicht, wir sind auch Sklavenjager, nur von der Konkurrenz. «Er ri? die Abzugsleine und fuhlte den hei?en Pulverqualm im Gesicht; das Schrapnell explodierte, ein Hagel gehacktes Blei schlug in das uberfullte Boot. Schreie, Fluche, ins Wasser klatschende Korper und einzelne Schusse vom Heck her. Er beugte sich vor, um zu sehen, wo Soames die Kuste erreicht hatte. Aber das lie? sich unmoglich feststellen. Musketenkugeln jaulten uber die Bucht; einmal glaubte er, den Klang von Stahl auf Stahl zu horen.
Dann wandte er sich um und uberblickte das Deck. Soeben rannte Keen vorbei, in der einen Hand eine leergeschossene Pistole wie eine Keule schwingend, in der anderen einen blitzenden Dolch. Bolitho packte ihn am Handgelenk.»Wie viele?»
Keen starrte ihn verwirrt an.»Wir haben funf Mann verloren«, sagte er dann.»Aber die Sklavenhandler sind alle tot, Sir, oder uber Bord gesprungen. «Bolitho horchte angestrengt auf Rudergerausche. Hoffentlich kam Soames bald zur Hilfe.
Ein dumpfer Aufprall achtern: vermutlich wieder ein Boot, dessen Besatzung entern wollte. Er zahlte seine kleine Truppe: funf Tote, ein Mann offenbar verwundet. Es fehlte ihm an Leuten. Heiser rief Allday:»Wir konnen eins von den Geschutzen an die Luke schaffen und ein Leck ins Schiff schie?en. Wenn wir sie auf der Kampanje festhalten konnen, bis… »
Bolitho schuttelte den Kopf und wies auf die Sklaven.»Sie sind alle aneinandergekettet — sie wurden mit ertrinken!»
Er merkte, wie der Kampfeswille seiner uberlebenden Manner erlosch wie ein Feuer unter einem Regengu?. Stumm blickten sie nach achtern, keiner hatte Lust, dem erwarteten Angriff als erster entgegenzutreten. Aber sie brauchten nicht lange zu warten. Die Kampanjeturen flogen auf, ein Haufen Manner sturmte an Deck, schrie und brullte in einem Dutzend Sprachen. Bolitho stand breitbeinig, den Degen quer vorm Leib.
«Kappt den Anker, damit sie ins flache Wasser treibt!«Eine Kugel zischte uber seinen Kopf hinweg, einer seiner Leute sturzte aufs Gesicht, Blut scho? aus seiner Kehle.
«Haltet stand, ihr Hunde!«brullte Allday. Aber es hatte keiften Zweck. Die ubriggebliebenen Matrosen hasteten zum Vorschiff und warfen die Waffen weg, die ihnen dabei hinderlich waren. Nur Keen war noch zwischen ihm und dem Bug; die Arme hingen ihm schlaff herab, sein junger Korper wankte vor Erschopfung.
«Kommen Sie, Captain!«sagte Allday.»Es hat keinen Zweck mehr!«Er feuerte noch einmal in den andrangenden Haufen und grunzte befriedigt: er hatte einen Todesschrei gehort.
In den nachsten Sekunden herrschte solches Durcheinander, da? keiner begriff, was eigentlich vorging. Im einen Augenblick sa? Bolitho rittlings auf dem Bugspriet, im nachsten schwamm er auf die schwarze Masse der Baume zu. Er wu?te nicht mehr, wann er getaucht und wieder hochgekommen war, aber seine Kehle war rauh wie Sandpapier, nicht nur vom Brullen, sondern vom schieren Uberlebenskampf. Schaum spritzte auf, er horte Getrampel an Bord der Brigantine, denn immer mehr ihrer Leute hatten jetzt schwimmend oder im Boot das Schiff erreicht und kletterten an Deck. Immer noch pfiffen Kugeln uber seinen Kopf, und mit einem erstickten Schrei sank ein getroffener Matrose unter die Wasserflache.
«Zusammenbleiben!«Mehr konnte er nicht rufen, denn immer wieder klatschten ihm ubel schmeckende Wellen in den Mund. Vom Strand her rannte eine wei?e Gestalt in das aufspritzende Wasser; Bolitho tastete nach seinem Degen und fiel dabei stolpernd vornuber, denn seine Fu?e stie?en auf Sand und Kies. Es war Soames, der ihn keuchend vor Anstrengung und mit zerzaustem Haar aufs Trockene zog. Bolitho rang verzweifelt nach Luft. Es war mi?lungen, und sie hatten manchen guten Mann verloren. Umsonst.
Allday kam aus dem Wasser; zwei weitere lagen wie tot auf dem Sand, doch verriet ihr schwerer Atem, da? sie noch lebten. Mehr waren nicht da.
Von der Brigantine her krachte ein Kanonenschu?, aber die Kugel ging weit daneben, fuhr splitternd durch die Baume, Vogel und Sklaven kreischten im Chor dazu.
Heiser berichtete Soames:»Ich konnte nur ein Boot erobern, Sir. Es waren zu viele Sklavenfanger an Land. «Seine Stimme zitterte vor Wut und Verzweiflung.»Als sie auf diesen spanischen Leutnant schossen, griffen meine Jungs an. Zu fruh. Tut mir furchtbar leid, Sir.»
«Sie konnen nichts dafur. «Schweren Schrittes ging Bolitho am Wasser entlang und spahte hinaus, ob noch ein Schwimmer kame.»Wie viele haben Sie verloren?»
«Sieben oder acht«, erwiderte Soames dumpf und mit einer Handbewegung zum Strand, wo mehrere dunkle Gestalten lagen.»Aber wir haben ein Dutzend umgelegt. «Und, fast schreiend vor plotzlicher Wut:»Wir hatten dieses verfluchte Schiff gekriegt! Bestimmt!»
«Ja. «Bolitho gab die Suche auf.»Lassen Sie unsere Leute antreten, dann gehen wir ins Boot. Wir mussen Mr. Fowlar und seine Truppe abholen, solange es noch finster ist. Bei Tageslicht kommt uns der Sklavenjager dazwischen, denke ich.»
Es war nur ein kummerliches Boot und leckte ziemlich stark; ein paar verirrte Musketenkugeln hatten es getroffen. Einer nach dem anderen kletterten die erschopften Manner hinein. Sie waren zu mude, um einander auch nur anzusehen; es war ihnen sogar gleichgultig, wo sie sich befanden. Wenn sie jetzt hatten kampfen mussen, waren sie kurz und klein geschlagen worden.
Bolitho betrachtete sie gespannt. Fluchtig dachte er an eine Au?erung, die Herrick vor vielen Wochen getan hatte:
«Um Gottes willen, was ist das?«murmelte Allday erschrocken.
«Die Sklaven im Lager. «Soames stand neben Bolitho, ihr Boot wollte soeben ablegen.»Sie wissen mehr als wir.»
Bolitho konnte sich nur mit Muhe im Gleichgewicht halten, denn das uberladene Fahrzeug schwankte gefahrlich in der
Stromung. Die Sklaven mu?ten inzwischen begriffen haben, da? sie — obwohl die Brigantine mit ihren Kanonen noch immer drau?en lag — jetzt nicht mehr gefesselt auf die andere Seite der Welt verschleppt wurden. Dieses Mal jedenfalls nicht. Bolitho dachte an die Boote der Eingeborenen, die Herrick gesichtet hatte. Vielleicht waren sie schon angekommen?
«Streicht Riemen!«kommandierte er.»Da ist Mr. Fowlar!»
Enttauscht starrte der Steuermannsmaat auf das Boot.»Da drin ist aber fur meine Leute kein Platz, Sir!»
«Sie mussen aber rein, wenn sie am Leben bleiben wollen. «Allday ubernahm die Ruderpinne und zahlte die ins Boot kletternden Manner. Irgendwie fanden sie alle Platz, doch die Riemen lie?en sich kaum bewegen, und das Boot lag so tief, da? es nur knappe sechs Zoll Freibord hatte.
«Ablegen!»