Bolitho zahlte bis zehn und stieg dann ebenfalls hinauf, wo ihn ein spitznasiger Offizier mit einem Teleskop unterm Arm begru?te, der ihn musterte, als sei er soeben einem Stuck alten Kases entstiegen.
«Sie mussen nach achtern gehen, Sir. «Dabei zeigte er zur Schanze, wo Pears soeben in Gesellschaft des Flaggschiffkommandanten dem Schatten zustrebte.
Bolitho sah sich auf dem Achterdeck um, das dem der
Trojan,
Pears war in der Menge verschwunden; Bolitho nickte einigen Leutnants zu, die wie er nur stillschweigend geduldet waren.
Eine hohe Gestalt erschien aus dem Gedrange, und Bolitho erkannte Lamb, den Kommandanten der
Bolitho dachte an den schnittigen Schoner, an die plumpe
Aber der Kommandant schob den schwergewichtigen Mann beiseite und enthullte eine schlanke Gestalt, die dem Dicken allerdings nur knapp bis zur Schulter reichte.
Konteradmiral Graham Coutts sah eher wie ein Leutnant als wie ein Flaggoffizier aus. Sein dunkelbraunes Haar trug er im Nacken lose zusammengebunden. Er hatte ein junges Gesicht, faltenlos und ohne die Maske der Autoritat, die man sonst so oft zu sehen bekam.
Der Admiral streckte die Hand aus.»Bolitho, nicht wahr?«Er nickte und lachelte gewinnend.»Ich bin stolz, Sie kennenzulernen. «Dann winkte er einem Steward nach Wein und fuhr leichthin fort:»Ich wei? alles uber Sie und vermute, wenn
«Sehen Sie diesen Herrn dort, Bolitho? Das ist Sir George Helpman aus London. «Seine Lippen schurzten sich ein wenig.»Ein „Experte" fur unsere Malaise hier, eine wichtige Personlichkeit, auf die alle horen sollten.»
Plotzlich war er wieder Admiral.»Amusieren Sie sich gut, Bo-litho, lassen Sie sich reichen, was Ihnen zusagt. Das Essen ist heute ausgezeichnet!»
Er wandte sich ab, und Bolitho sah, wie er den Mann aus London begru?te, den er nicht sonderlich zu mogen schien. Sein Hinweis hatte fast wie eine Warnung geklungen, obwohl Bolitho nicht ganz einsah, was ein Leutnant wie er damit zu tun haben sollte.
Er dachte uber Coutts nach, der keineswegs dem Bild entsprach, das er sich von ihm gemacht hatte. Schon jetzt empfand er fur den Admiral Bewunderung und Loyalitat, wenn er sich das auch nach diesen wenigen Minuten des Kennenlernens selbst noch nicht eingestehen wollte.
Es wurde schon dunkel, als die Gaste aufbrachen. Einige waren so betrunken, da? man sie in ihre Boote tragen mu?te, andere torkelten mit glasernem Blick allein zum Fallreep, vorsichtig jeden Schritt erzwingend, um sich keine Blo?e zu geben.
Bolitho wartete und beobachtete vom Achterdeck, wie die Gaste hinuntergeleitet, einige auch mit Taljen uber die Reling gehievt und in die langsseits liegenden Boote gefiert wurden.
Er kam an einer Kabine vorbei, deren nicht ganz geschlossene Tur einen kurzen Blick ins Innere ermoglichte. Eine kichernde Frau hatte die nackten Arme um den Hals eines Offiziers geschlungen, der ihr das Kleid abstreifte. Ihr Mann oder Begleiter lag womoglich betrunken in einem der Boote, dachte Bolitho und lachelte. War er schockiert, war er neidisch? Er wu?te es selber nicht.
Ein Bootsmaat rief eifrig:»Ihr Kommandant kommt, Sir!»
«Aye. Rufen Sie das Boot. «Bolitho uberprufte den Sitz seines Degengurtes und ruckte den Hut zurecht.
Pears erschien mit Kapitan Lamb. Sie schuttelten sich die Hande, dann folgte Pears Bolitho in ihr Boot.
Als es abgelegt hatte und in die starke Stromung hinaussteuerte, bemerkte Pears:»Widerlich, das Ganze!»
Drauf verfiel er in Schweigen und bewegte sich nicht, bis sie die erleuchteten Stuckpforten der
Bolitho stand in dem schwankenden Boot neben Hogg, als Pears, der nach der Fallreepskette griff, ausrutschte. Bolitho glaubte ihn fluchen zu horen, war sich aber nicht ganz sicher. Dennoch fuhlte er sich irgendwie ausgezeichnet durch Pears, der sich schon wieder vollkommen in der Gewalt hatte, wenn auch nur unter gro?er Anstrengung. Der Zwischenfall machte ihn menschlicher, als Bolitho ihn je erlebt hatte.
Pears scharfe Stimme kam von oben:»Stehen Sie nicht herum wie eine Salzsaule, Mr. Bolitho! Wenn Sie nichts zu tun haben, so mussen andere doch arbeiten!»
Bolitho blickte Hogg an und grinste. Das klang schon wieder mehr nach Pears.
Unter anderem gehorten die undankbaren Pflichten eines Wachoffiziers im Hafen zum Aufgabenbereich der Leutnants, wenn ihr Schiff in New York lag. Sie wurden dann fur volle vierundzwanzig Stunden abgestellt und mu?ten unter anderem die zahlreichen Boote uberwachen, die zwischen den Schiffen und den Anlegestellen verkehrten, damit keine feindlichen Agenten Gelegenheit zu Sabotage oder Spionage fanden. Ebenso mu?ten sie aufpassen, da? keine Deserteure in einer der vielen Hafenkneipen Unterschlupf suchten.
Seeleute, die an Land zu tun hatten, gerieten leicht in Versuchung, in einer Spelunke einzukehren; Betrunkene aber wurden festgenommen und auf ihre Schiffe zurucktransportiert, wo eine gute Tracht Schlage auf sie wartete.
Zwei Tage nach dem Besuch auf dem Flaggschiff hatte der Dritte Offizier der Trojan, Richard Bolitho, sich zur Verfugung des Hafenkommandanten zu halten. New York machte ihn nervos, diese Stadt, die nur darauf zu warten schien, da? etwas geschah, und zwar etwas Entscheidendes und Endgultiges. Hier herrschte standig Bewegung. Fluchtlinge kamen aus dem Landesinneren, Menschen drangten sich vor den Regierungsgebauden und suchten nach Angehorigen, andere wiederum brachen bereits auf, um das Land zu verlassen und nach England oder Kanada zu fliehen. Manche warteten auch darauf, vom Sieger reichen Lohn zu kassieren, gleichgultig, wer es auch sein wurde. Nachts war New York ein gefahrliches Pflaster, besonders in der ubervolkerten Hafengegend mit ihren Kneipen, Bordells, Spielhollen und billigen Absteigen. Alles war dort zu haben, wenn nur genugend Geld dafur geboten wurde.
Gefolgt von einem Trupp bewaffneter Seeleute, ging Bolitho langsam an einigen von der Sonne gebleichten Holzgebauden entlang, wobei sie sich vorsichtigerweise dicht an den Wanden hielten, um nicht von oben — absichtlich oder unabsichtlich — mit Unrat beworfen zu werden.
Er horte Stockdales keuchenden Atem und das gelegentliche Klirren von Waffen, als sie jetzt zur Hauptanlegebrucke kamen. Menschen waren kaum zu sehen, obwohl hinter den geschlossenen Fensterladen Musik und grolende oder fluchende Stimmen zu horen waren.
Ein Haus hob sich dunkel gegen das stromende Wasser ab, vor der Tur standen Marinesoldaten Posten, und ein Unteroffizier ging auf und ab.
«Halt, wer da?»
«Offizier der Wache!»
«Ihren Ausweis!»
Es war immer dasselbe, obwohl die Marineinfanteristen die me i-sten Flottenoffiziere vom Sehen kannten.
Der Unteroffizier stand stramm.»Zwei Leute von der
«Sie scheinen sich jetzt ruhig zu verhalten, Sergeant.»
Der Unteroffizier grinste.»Aye, Sir, jetzt. «Er zeigte auf zwei schlaffe Korper in Eisen.»Wir mu?ten sie erst beruhigen.»
Bolitho setzte sich an einen zerkratzten Tisch und lauschte auf die Gerausche drau?en — das Rattern von Radern auf dem KopfSteinpflaster, das gelegentliche Kreischen einer Hure. Er blickte auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Noch vier Stunden! In solchen Situationen sehnte er sich nach der
.
Was es doch bedeutete, frei zu sein, von diesem schwimmenden Durcheinander hier wegzukommen!
Der Unteroffizier erschien wieder und betrachtete ihn zweifelnd.»Ich habe einen Spitzel drau?en, Sir. «Er deutete mit dem Daumen zur Tur.»Kenne ihn schon langer, ein Gauner, aber zuverlassig. Er behauptet, ein paar Leute seien von der Brigg
Der Mann war typisch fur sein Gewerbe: klein, schmierig, hinterhaltig. Sie waren in allen Hafen der Welt gleich, diese Besitzer von Absteigequartieren, die an die Pre?kommandos Informationen uber Seeleute verkauften, die angeblich greifbar waren.
«Nun?»
Der Mann jammerte:»Es ist doch nur meine Pflicht, Sir, des Konigs Marine zu helfen.»
Bolitho musterte ihn kalt. Der Schurke sprach noch immer den Dialekt der Londoner Slums.»Wie viele?»
«Sechs, Sir!«Seine Augen glitzerten.»Feine, kraftige Kerle allesamt.»
Der Unteroffizier bemerkte beilaufig:»Sie stecken in Lucys Haus. «Er zog eine Grimasse.»Vermutlich inzwischen mit Syphilisblattern bis uber die Augen besat.»
«Lassen Sie meine Leute antreten, Sergeant. «Bolitho versuchte, nicht an die dadurch entstehende Verzogerung zu denken. Wahrscheinlich wurde es nichts mehr mit Schlaf.
Der Gauner lie? sich vernehmen:»Kommen wir ins Geschaft,
Sir?»
«Nein. Du wartest hier. Kriegen wir die Leute, bekommst du dein Geld. Wenn nicht — «, er blinzelte den grinsenden Marineinfanteristen zu — ,»gibt es eine Tracht Prugel.»
Er trat hinaus in die Nacht und verfluchte insgeheim sowohl den Seelenverkaufer wie uberhaupt diese erbarmliche Methode, Seeleute zu pressen. Trotz der Harte des Bordlebens meldeten sich viele Freiwillige, jedoch niemals genug, um die Verluste durch Tod oder Verwundung auszugleichen.
Stockdale fragte:»Wohin, Sir?»
«Zu Lucys Haus, dem Bordell.»
Einer der Seeleute kicherte.»Ich kenne es, Sir, bin schon dort gewesen.«»Dann fuhren Sie uns, vorwarts!»
Als sie in der engen, abschussigen und ubelriechenden Gasse angekommen waren, teilte Bolitho seinen Trupp in zwei Gruppen. Die meisten Leute der Stammbesatzung hatten schon an ahnlichen Aktionen teilgenommen, und selbst die gepre?ten Leute machten mit, sobald sie sich einmal an ihr neues Leben gewohnt hatten.
Bolitho starrte auf die verschlossene Tur, hinter der er Stimmengewirr und trunkenen Gesang horte. Er wartete noch ein wenig, dann zog er seinen Dolch und schlug mehrmals mit dem Knauf gegen die Tur, wobei er mit lauter Stimme rief:»Im Namen des Konigs — offnet!»
Drinnen horte man Getrappel und unterdruckte Schreie, das Splittern von Glas und einen schweren Fall, als sei jemand, der zu fliehen versuchte, von Stockdales Knuppel getroffen worden.
Plotzlich sprang die Tur auf, aber an Stelle der erwarteten Menschenmenge sah sich Bolitho einer Riesin gegenuber, vermutlich der beruchtigten Lucy. Sie war so gro? und breit wie ein Seebar und benutzte auch dieselben unflatigen Ausdrucke, als sie jetzt drohend die Faust erhob.
Lichter flammten ringsum auf, und aus den Fenstern beugten sich
Gestalten, die gierig auf die Szene herabstarrten und sehen wollten, wie Lucy die Marine in die Flucht schlug.
«Du pickeliger, gruner Lausejunge, wie kannst du behaupten, ich hatte hier Deserteure versteckt?«Sie stemmte die Arme in die Huften und funkelte Bolitho wutend an.
Andere Frauen, einige halbnackt, hasteten die wackelige Treppe im Hintergrund herunter, um zu sehen, was sich abspielte. Ihre bemalten Gesichter gluhten vor Aufregung.
«Ich tue meine Pflicht. «Bolitho widerte das hohnische und verachtliche Benehmen der Frau an.
Stockdale tauchte mit grimmiger Miene hinter ihr auf und keuchte:»Wir haben sie, Sir: Sechs, wie er gesagt hat.»
Bolitho nickte. Stockdale hatte also den hinteren Ausgang gefunden.
«Gut gemacht!«Mit plotzlichem Arger fugte er hinzu:»Wenn wir schon hier sind, wollen wir uns doch gleich mal nach weiteren,unschuldigen' Burgern umsehen.»
Lucy packte ihn unvermutet an den Rockaufschlagen und schurzte die Lippen, um ihm ins Gesicht zu spucken. Aber im nachsten Augenblick sah Bolitho nur nackte, strampelnde Beine und gewaltige Oberschenkel, als Stockdale die schreiende und fluchende Person die Stufen zur Stra?e hinunter trug. Ohne Umschweife steckte er ihren Kopf in einen Pferdetrog und hielt ihn mehrere Sekunden unter Wasser.
Als er sie loslie? und sie taumelnd nach Atem rang, sagte er:»Wenn du noch einmal so zu dem Leutnant sprichst, meine Schone, bekommst du meinen Dolch zwischen die Rippen, verstanden?«Dann nickte er Bolitho zu:»Alles in Ordnung, Sir!»
Dieser schluckte. Noch nie hatte er Stockdale so wutend erlebt.»Danke!«Er sah, wie sich seine Leute grinsend anstie?en, und kampfte um sein altes Selbstvertrauen.»Fangt an mit dem Durchsuchen!«Hinter ihm wurden die sechs Deserteure vorbeigefuhrt, einer von ihnen hielt sich den Kopf.
Aus einem Nachbarhaus schrie jemand:»La?t sie doch laufen, ihr Stinktiere!»
Bolitho trat ein und besah sich die umgesturzten Stuhle, leeren Flaschen und verstreuten Kleidungsstucke. Es sah eher aus wie in einem Gefangnis als wie in einem Freudenhaus.