In der salzbespruhten Scheibe spiegelte sich Vibarts Gestalt. Er stand mitten in der Kajute und gerade so unter der kreisenden Lampe, da? sein Gesicht im Schatten lag. Hinter ihm zeichnete sich Fahnrich Farquhars schlanker Umri? ab.
Bolitho mu?te seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um keine Bewegung zu machen und ruhig zu bleiben, wahrend er erwog, was Farquhar gemeldet hatte. Bolitho hatte nochmals die Schiffsjournale durchgesehen und gerade versucht, Vibarts holzerne Reserve zu durchbrechen, um den Ersten und dessen Meinungen besser kennenzulernen.
Es war ein schwieriges und anscheinend fruchtloses Unternehmen, wie auch alles andere wahrend der vergangenen zwanzig Tage. Vibart war zu vorsichtig, seine Feindseligkeit offen zu zeigen. Er hatte sich auf kurze, nichtssagende Antworten beschrankt, schien das, was er uber das Schiff und dessen Besatzung wu?te, als personlichen Besitz zu huten.
Dann war Farquhar mit seiner Geschichte von Betts' Angriff auf den Proviantmeister hereingesturzt: nur eins der vielen Vorkommnisse, die seine Gedanken von dem, was vor ihnen lag, ablenkte, von der eigentlichen Aufgabe, die Fregatte zu einer einzigen, festen Kampfeinheit zu machen.
Bolitho zwang sich dazu, die beiden Offiziere anzusehen.»Wache! Mr. Evans soll kommen. «Er horte, wie sich der Ruf uber Deck fortpflanzte, und sagte:»Es kommt mir so vor, als ob dieser Seemann provoziert wurde.»
Vibart pa?te sich dem Schwanken des Schiffes an. Die Augen hielt er auf einen Punkt uber der Schulter des Kapitans gerichtet.»Betts ist kein Neuling«, sagte er heiser.»Er wei?, was er tut.»
Bolitho wandte sich ab und blickte wieder uber die leere See. Wenn es nur nicht gerade jetzt passiert ware, dachte er bitter. Noch ein paar Tage, und das feuchte, vom Wind geschuttelte Schiff ware in der Sonne gewesen, unter der die Manner ihre Umgebung bald vergessen und die Blicke ins Weite gerichtet hatten, statt einander zu belauern.
Er horte, wie das Wasser um das Ruder gurgelte, und vernahm das ferne Achzen der Pumpen, an denen die Wache arbeitete, um das unvermeidliche Sickerwasser zu lenzen. Er fuhlte sich mude und bis zum Au?ersten erschopft. Seit die
den Anker lichtete, hatte er sich voll eingesetzt und keine Anstrengung gescheut, das Schiff in den Griff zu bekommen. Er hatte mit den meisten Neulingen gesprochen und Kontakt mit der regularen Mannschaft hergestellt. Er hatte seine Offiziere beobachtet und dem Schiff das Au?erste abverlangt. Er hatte in diesem Augenblick stolz sein konnen. Die Fregatte, richtig gefuhrt, reagierte auf Ruder und Segel so lebhaft und bereitwillig wie ein Vollblutpferd.
Die meisten Neuen waren jenen Kommandos zugeteilt worden, fur die sie sich am besten eigneten. Die Segelmanover ubertrafen schon jetzt seine Erwartungen. Bei der ersten passenden Gelegenheit beabsichtigte Bolitho, die Geschutzbedienungen zu drillen. Bis jetzt hatte er allerdings nur die Einteilungen vornehmen konnen. Der ewige sturmische Wind hatte sie bisher von allem anderen abgehalten.
Und nun das. Er kochte innerlich. Kein Wunder, da? ihn der Admiral gebeten hatte, auf Farquhars Verhalten zu achten. Es klopfte. Evans betrat affektiert die Kajute, seine Augen glitzerten im Lampenlicht wie Perlen.
«Nun, Mr. Evans«, sagte Bolitho und hob ungeduldig die Hand.»Berichten Sie, was geschehen ist — alles.»
Er drehte sich um und blickte wieder uber die See, als Evans seine Erzahlung vom Stapel lie?. Anfanglich schien Evans nervos, ja sogar nicht ohne Furcht, doch als Bolitho ihn sein Garn ohne Unterbrechung oder Bemerkungen abspinnen lie?, wurde seine Stimme scharfer und gehassiger.
«Aus welchem Fa? kam das Fleisch, mit dem Betts nach Ihnen warf?»
Die Frage uberrumpelte Evans.»Nummer zwolf, Sir. Ich sah selber, wie es verstaut wurde. «Schmeichlerisch fugte er hinzu:»Ich tue mein Bestes, Sir. Die Kerls sind undankbare Hunde.»
Bolitho wandte sich um und klopfte auf die Papiere, die auf seinem Tisch lagen.»Ich habe die Ladung ebenfalls gepruft, Mr. Evans. Vor zwei Tagen, als alles beim Exerzieren war.«Uber Evans dunkles Gesicht huschte Erschrecken, und Bolitho wu?te, da? er mit seiner Vorspiegelung ins Schwarze getroffen hatte. Wut loderte plotzlich wie Feuer in ihm auf. Was er den Offizieren gesagt hatte, war alles umsonst gewesen. Selbst die beinahe ausgebrochene Meuterei schien Leute wie Evans oder Farquhar nichts gelehrt zu haben.
«Dieses Fa? war im unteren Laderaum, nicht wahr?«fragte er heftig.»Und wie viele sind noch da unten?»
«Funf oder sechs, Sir. «Evans Blicke schweiften nervos durch die Kajute.»Sie gehoren zu den ursprunglichen Vorraten, die ich. .»
Bolitho schlug mit der Faust auf den Tisch.»Sie machen mich krank, Evans. Dieses Fa? und die anderen, an die Sie sich plotzlich entsinnen, sind wahrscheinlich schon vor zwei Jahren ubernommen worden, damals, als Sie zur Blockade von Brest ausliefen. Hochstwahrscheinlich sind sie undicht, und auf jeden Fall sind sie vollig verfault.»
Evans blickte zu Boden.»Ich — ich wu?te das nicht, Sir.»
«Konnte ich Ihnen das Gegenteil beweisen, Mr. Evans«, sagte Bolitho barsch,»wurde ich Sie Ihres Ranges entheben und auspeitschen lassen.»
Vibart regte sich.»Ich erhebe Protest, Sir. Mr. Evans handelte, wie er es fur richtig hielt. Betts hat ihn angegriffen. Um diese Tatsache kommen wir nicht herum.»
«So scheint es, Mr. Vibart. «Bolitho blickte ihn kalt an, bis Vibart beiseite sah.»Ich unterstutze gewi? die Bemuhungen meiner Offiziere, meine Befehle auszufuhren. Aber eine sinnlose Bestrafung durfte derzeit mehr schaden als nutzen. «Bolitho fuhlte sich plotzlich zu mude, um einen klaren Gedanken zu fassen, aber Vibarts Arger schien ihn anzustacheln.»In zwei Wochen oder so sto?en wir zu Sir Samuel Hoods Geschwader, und dann werden wir mehr als alle Hande voll zu tun haben. Bis dahin«, fuhr er ruhiger fort,»wird jeder von Ihnen, jeder einzelne, meine Befehle taglich in die Tat umsetzen. Nutzlose Brutalitat hat noch nie zu etwas Gutem gefuhrt. Ist ein Mann beharrlich ungehorsam, dann wird er ausgepeitscht werden. Was jedoch diesen besonderen Fall anlangt, schlage ich ein milderes Experiment vor. «Bolitho bemerkte, wie Vibarts Unterlippe vor kaum unterdrucktem Arger zuckte.»Betts kann sieben Tage Sonderdienst auferlegt bekommen. Je eher die Angelegenheit der Vergessenheit anheimfallt, je eher konnen wir den Schaden heilen. «Er hob kurz die Hand.»Machen Sie weiter, Mr. Farquhar.»
Als Evans kehrt machte, um dem Fahnrich zu folgen, sagte Bolitho unbetont:»Ach, Mr. Evans, ich sehe keinen Grund, Ihre Unterlassung ins Logbuch einzutragen. «Evans sah ihn halb dankbar, halb furchterfullt an.»Vorausgesetzt, ich kann darlegen, da? Sie dieses Fleisch fur Ihre eigenen Zwecke erworben haben, vielleicht fur Ihren personlichen Bedarf?»
Evans Augen glitten kurz zu Vibart hinuber und kehrten dann zu Bolithos unbewegtem Gesicht zuruck.»Erworben, Sir? Ich,
Sir?»
«Ja, Evans,
«Wenn Sie meinen, Sir.»
Bolitho senkte die Augen, um Vibart seinen aufkeimenden Arger zu verbergen. Er hatte dem Ersten den ihm zukommenden Teil an Verantwortung angeboten, ja ihm Vertrauen angetragen; der Leutnant schien es jedoch als Zeichen der Schwache zu deuten, als Unsicherheit. Seine Bundigkeit sprach die Geringschatzung so deutlich aus, als hatte er sie uber das Schiff gebrullt.
Es fiel Vibart sicher nicht leicht, von einem so viel jungeren Kapitan Befehle entgegenzunehmen. Bolitho versuchte nochmals, Vibarts Feindseligkeit mit Verstandnis zu begegnen.
Da sagte der Erste plotzlich:»Wenn Sie erst etwas langer an Bord der
sein werden, Sir, sehen Sie es vielleicht anders. «Er wiegte sich auf den Absatzen und blickte den Kapitan ausdruckslos an.
Bolitho entspannte sich. Da? Vibart ihm den einzigen Weg zeigte, die Angelegenheit zu beenden, empfand er fast als Erleichterung. Er ma? ihn kalt.»Ich habe jedes Journal an Bord studiert, jedes Logbuch, Mr. Vibart. Trotz meiner begrenzten Erfahrung habe ich noch kein so offenkundig kampfunwilliges Schiff kennengelernt, keins, das so unfahig war, seine Pflicht zu erfullen.»
Vibarts Zuge zeigten Uberraschung.
«Nun, Mr. Vibart, wir kehren in die Kriegszone zuruck, und ich beabsichtige, den Feind zu suchen und zu stellen,
Er entlie? den Ersten Leutnant mit einem kurzen Kopfnicken, drehte sich wieder um und starrte auf das schaumende Kielwasser unterhalb des Fensters. Als sich die Tur schlo?, stand er noch vollig unter der Gewalt der Anspannung und krallte die Hande ineinander, bis er vor Schmerz zusammenzuckte. Er hatte sich Vibart zum Feind gemacht, aber es war ihm nichts anderes ubriggeblieben, es stand zu viel auf dem Spiel. Er lie? sich auf die Fensterbank sinken. Stockdale kam herein und begann, eine Decke uber den Tisch zu legen.
«Ich habe der Ordonnanz befohlen, Ihr Abendessen zu bringen, Sir. «Sein Ton verriet Mi?trauen. Er konnte Atwell, den Kajutsteward, nicht leiden und beobachtete ihn unablassig.»Ich nehme an, da? Sie allein essen werden, Sir?»
Bolitho sah Stockdale fluchtig an und erinnerte sich an Vibarts aufwallende Verbitterung.»Ja, Stockdale, ich esse allein.»
Leutnant Thomas Herrick zog den von Spritzwasser durchweichten Schal enger um den Hals und kroch tiefer in den Wachmantel. Uber den schwarzen, schwankenden Toppen flimmerten klein und bla? die Sterne. Trotz der scharfen Luft spurte er, da? die Morgendammerung nicht mehr fern war.
Dunkelheit umhullte das schwer stampfende Schiff. Alle Formen der einsamen Decks sahen unwirklich und ganz anders aus als bei Tage. Die gezurrten Kanonen glichen Schatten, und die summenden Wanten und Stagen schienen geradewegs in den Himmel zu fuhren, ohne Anfang und ohne Ende.
Herrick ging gedankenverloren auf dem Achterdeck hin und her und achtete kaum darauf. Er hatte das alles schon oft gesehen und war in der Lage, eine Wache allein mit sich und seinen Gedanken zu verbringen. Gelegentlich blieb er neben dem gro?en Doppelrad stehen, hinter dem die beiden Ruderganger wie dunkle Statuen aufragten. Sie beobachteten die zitternde Nadel und die gebra?ten Segel. Die Kompa?laterne beleuchtete zum Teil ihre Gesichter.
Vorn schlug es blechern drei Glasen. Ein Schiffsjunge regte sich an der Reling, rieb sich die Augen und kam nach achtern, um die Kompa?laterne zu putzen und das Stundenglas umzudrehen.
Immer wieder suchte Herricks Blick das schwarze Rechteck des Kajutniedergangs. Er fragte sich, ob Bolitho endlich schlief. Wahrend der Morgenwache war der Kapitan bereits dreimal an Deck erschienen, dreimal innerhalb von anderthalb Stunden, lautlos, ohne alle Vorwarnung, ohne Rock, ohne Hut. Sein wei?es Hemd und die Kniehose hatten sich verschwommen gegen die rollende schwarze See abgezeichnet. Ein gespenstiger, unwirklicher Anblick, die verkorperte Ruhelosigkeit eines gemarterten Geistes. Bolitho war jedesmal nur so lange geblieben, um nach dem Kompa? zu spahen oder einen Blick auf die Wachtafel neben dem Rad zu werfen. Danach war er an der Luvseite des Decks ein paarmal auf und ab gegangen und dann wieder nach unten verschwunden.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hatte es Herrick gereizt und verargert. Mu?te es nicht bedeuten, da? der Kapitan seinem Dritten Leutnant nicht zutraute, die Wache allein zu gehen? Aber als Herrick den Zweiten um vier abloste, hatte ihm Okes hastig zugeflustert, da? Bolitho fast die ganze Nacht an Deck gewesen sei.
Herrick runzelte die Stirn. Tief im Innern spurte er, da? Bolitho mehr einem dunklen Antrieb folgte denn einem Plan, eher einer Stimmung als einer Neigung, geradezu als ware er ebenso gehetzt wie das Schiff. Es schien ihm unmoglich, still zu stehen, so als ginge es uber seine Kraft, langer als eine Minute an einem Fleck zu bleiben.
Eine undeutliche Gestalt bewegte sich an der Achterdeckreling, und Fahnrich Neales vertrauter Diskant klang durch die Dunkelheit.
«Betts hat sich soeben gemeldet, Sir.»
Neale schaute zu Herrick hoch und versuchte, die Laune des Dritten abzuschatzen.
Herrick ri? sich in die Gegenwart zuruck. Betts, der einer Auspeitschung oder Schlimmerem durch Bolithos Einspruch entgangen war, mu?te gema? Befehl um drei Glasen zum ersten
Strafdienst antreten. Vibart hatte deutlich klargestellt, was geschahe, falls er dem Befehl nicht folgte.
Er sah Betts hinter dem kleinen Seekadetten stehen und rief:»Vorwarts, Betts. Aber schnell.»
Betts kam an die Reling. Seine Stirn lag in Falten.»Sir?»
Herrick wies zum unsichtbaren Masttopp empor.»Los, hinauf mit Ihnen!«Es klang nicht barsch. Er mochte Betts. Ein stiller, aber fahiger Mann, dessen plotzlicher Wutausbruch Herrick mehr uberrascht hatte, als er sich eingestand.»Klettern Sie ins Gro?topp, Betts. Halten Sie Ausschau, bis der Erste Leutnant andere Order erteilt.»
Er spurte fluchtig Mitleid mit dem Mann. Hundertzehn Fu? uber Deck, ohne Schutz vor dem kalten Wind. . Betts wurde innerhalb von Minuten erstarren. Bei sich beschlo? Herrick bereits, Neale mit etwas warmem Essen hinaufzuschicken, sobald das Kombusenfeuer brannte.
Betts spuckte in die Hande und sagte tonlos:»Aye, aye, Sir. Scheint ein schoner Morgen?«Es klang, als bezoge sich seine Bemerkung auf etwas ganz Normales und Unwichtiges.
«Aye. «Herrick nickte.»Der Wind la?t nach, und die Luft wird trockener. «Was zutraf. Betts Instinkt hatte den Wetterumschlag gewittert, kaum da? er aus dem stickigen, uberfullten Kojendeck aufgetaucht war, wo achtzehn Zoll pro Mann und Hangematte der ublicherweise zugebilligte Platz waren.
«Sie haben Gluck gehabt, Betts«, sagte Herrick.»Bei acht Glasen hatten Sie ebensogut an der Grating tanzen konnen.»
Betts blickte den Dritten unbewegt an.»Es tut mir nicht leid, Sir. Ich meine, was geschehen ist. Ich wurde es wieder tun.»
Herrick argerte sich plotzlich. Warum hatte er die Sache erwahnt? Das ist der Haken bei mir, dachte er wutend. Stets will ich allem auf den Grund kommen, es verstehen. Immer mu? ich mich mit allem beschaftigen.
«Hinauf mit Ihnen!«sagte er schroff.»Und halten Sie ja gut Ausschau. Die Dammerung zieht bald herauf.»
Der Schatten des Mannes vermischte sich mit dem Umri? der Gro?wanten. Herricks Blicke folgten ihm, bis er sich in dem Netzwerk der Takelage verlor, das sich gegen den Nachthimmel abzeichnete.
Wiederum fragte er sich, warum Bolitho im Falle Betts so entschieden hatte. Weder Vibart noch Evans hatten die Angelegenheit erwahnt, was sie nicht geringfugiger, sondern eher bedeutsamer machte. Hatte Vibart vielleicht wieder seine Befugnis uberschritten? grubelte Herrick. Unter Pomfret hatte der allgegenwartige Erste alles in der Hand gehabt, jedes Vorkommnis kontrolliert, Tag fur Tag. Jetzt schien Bolithos ruhige Autoritat Vibart zu hemmen, und die Tatsache, da? die beiden nicht ubereinstimmten, lag beinahe offen zu Tage. Sie machte alles nur schlimmer. Das Schiff schien zwischen Vibart und Bolitho gespalten. Fruher hatte Herrick seinen Dienst verrichtet, sich aber sonst unparteiisch herausgehalten. Nun gewann er den Eindruck, als ob solche Neutralitat nicht mehr moglich sei.