Er dachte an seinen Besuch in Bolithos Vaterhaus. Ehe er es betrat, hatte er geglaubt, da? er dort nur Neid empfinden wurde. Sein eigenes, armseliges Herkommen lie? sich nur schwer abschutteln. Er rief sich Bolithos Vater zuruck, die gro?en Gemalde an den Wanden, die Atmosphare von Dauer und Tradition, als waren die gegenwartigen Bewohner nur Teil eines Musters. Verglichen mit seinem eigenen kleinen Vaterhaus in Rochester, war ihm das Haus der Bolithos wie ein richtiger Palast vorgekommen.
Herricks Vater hatte als Angestellter in Rochester fur eine Firma gearbeitet, die mit Fruchten handelte. Doch schon als kleines Kind verschlang Herrick mit sehnsuchtsvollen Augen alle Schiffe, die den Medway heraufkamen. Und um Schiffe baute sein eindrucksfahiger Geist die eigene Zukunft auf. Das war merkwurdig, denn in seiner Familie war noch niemand zur See gefahren.
Herricks Vater hatte vergeblich gefleht und vor den nur allzu zahlreichen Fallgruben gewarnt. Da die Herricks weder den notwendigen Familienhintergrund noch die finanzielle Sicherheit besa?en, sah er nur zu klar, worauf sein Sohn sich einlassen wollte. Als Kompromi? schlug er sogar einen sicheren Platz auf einem Indienfahrer vor, aber sein Sohn war nicht umzustimmen.
Der Zufall wollte es, da? in der Nahe von Rochester ein Kriegsschiff zur Reparatur ins Trockendock mu?te. Der Kapitan war mit dem Arbeitgeber von Herricks Vater befreundet: ein wurdiger, alterer Kapitan, der weder verstimmt noch verargert war, als ihn der Elfjahrige abfing und ihm den Wunsch vortrug, auf einem Schiff des Konigs zu dienen.
Angesichts des Kapitans und seines Dienstherren gab Herricks Vater nach. Man mu? ihm Gerechtigkeit angedeihen lassen, er nutzte seine mageren Ersparnisse aufs beste, um seinem Sohn auf den Weg zu helfen. Zumindest au?erlich fiel Herrick nicht ab, war ein so schmucker junger Herr wie jeder andere auch.
Jetzt war Herrick funfundzwanzig. Seit jener Zeit hatte er zah einen langen und harten Weg zuruckgelegt. Er hatte Demutigungen erfahren, war beispiellosem Widerstand der Hohergeborenen und Einflu?reichen begegnet. Der romantische Knabe hatte Federn lassen mussen und war mit den Jahren so hart geworden wie die gute Eiche unter seinen Fu?en. Aber eins hatte sich nicht geandert: Seine Liebe zur See umgab ihn wie ein schutzender Mantel.
Herrick lachelte vor sich hin, wahrend er unablassig auf und ab ging. Er fragte sich, was der kleine Neale, der an der Reling gahnte, von seinem Vorgesetzten mit dem ernsten Gesicht hielt. Oder die Ruderganger, die die Kompa?nadel und den Stand der Segel beobachteten. Oder Betts da oben auf seinem schwankenden Ausguck, Betts, dessen Gedanken zweifelsohne um das kreisten, was er getan hatte, und um das, was bei Evans Rachedurst noch vor ihm liegen mochte.
Er ging zur Luvreling und erschrak, weil er bereits den geschnitzten Delphin uber dem Steuerbordniedergang und dicht dabei die dicke, ha?liche Karronade sehen konnte. Wahrend seiner Grubeleien war eine halbe Stunde verflossen, und mit der Morgendammerung wurde wieder der Horizont sichtbar werden, wurde ein neuer Tag beginnen.
Durch das Zischen des Spritzwassers horte er plotzlich scharf und klar Betts' Stimme vom Ausguck:»An Deck! Segel voraus an Steuerbord. Rumpf noch unter der Kimm.»
Herrick ri? sein Fernglas aus der Halterung und schwang sich in die Besanwanten. Seine Gedanken kreisten um die unerwartete Meldung. Das Meer gewann bereits Gestalt und Gesicht, und dort, wo der Horizont sein mu?te, zeichnete sich eine hellgraue Linie ab. Oben, hoch uber den schwankenden Decks, mu?te Betts das andere Schiff in der zogernd heraufkommenden Dammerung eben erkennen konnen.
«Mr. Neale«,rief er,»entern Sie auf und sehen Sie zu, was Sie entdecken konnen. Wenn Sie mir etwas Falsches melden, machen Sie mit der Neunschwanzigen Bekanntschaft, ehe Sie eine Stunde alter sind.»
Neale grinste. Ohne ein Wort zu sagen, kletterte er wie ein Affe die Gro?wanten hinauf.
Herrick bemuhte sich, ruhig zu bleiben und, wie er es Bolitho abgesehen hatte, von neuem auf und ab zu gehen.
«Eine Fregatte, Sir!«rief Betts wieder.»Kein Zweifel. Steuert Sudost.»
Neales Diskant erganzte die Meldung.»Sie lauft vor dem Wind, fliegt wie ein Vogel, Sir. Unter Vollzeug.»
Herrick atmete gerauschvoll aus. Eine Sekunde lang hatte er geglaubt, es konnte ein Franzose sein. Selbst drau?en, so allein und auf sich gestellt, war das nicht unmoglich; aber die Franzosen segelten nachts selten schnell oder weit. Fur gewohnlich drehten sie nachts bei. Nein, das war kein Feind.
Wie um Herricks Schlu?folgerung zu bestatigen, rief Betts:»Ich erkenne die Takelage, Sir. Es ist ein englisches Schiff.»
«Sehr gut. Melden Sie weiter alles. «Herrick lie? das Sprachrohr sinken und blickte uber das Achterdeck. Innerhalb der wenigen Minuten hatte es starkere Kontur und Wirklichkeit gewonnen. Ein heller werdendes Grau lag uber dem Deck, und er konnte schon die Gesichter der Ruderganger erkennen.
Brachte die andere Fregatte neue Befehle? Vielleicht war der amerikanische Krieg bereits beendet, und sie wurden nach Brest zuruckkehren oder nach England? Herrick spurte einen Anflug von Enttauschung. Anfanglich hatte ihn die Aussicht, weiterhin auf der ungluckseligen
Dienst tun zu mussen, nicht gerade begeistert. Doch jetzt, bei dem Gedanken, da? er Westindien moglicherweise uberhaupt nicht sehen sollte, war er sich seiner Abneigung nicht mehr so sicher.
Neale verschmahte Wanten und Webeleinen, glitt direkt eine Pardune hinunter und kam keuchend zum Achterdeck gerannt. Herrick fa?te einen Entschlu?.»Empfehlung an den Kapitan, Mr. Neale, und melden Sie ihm, da? wir ein Schiff des Konigs gesichtet haben. Es wird in etwa einer Stunde mit uns auf gleicher Hohe sein, vielleicht sogar eher. Er wird sich darauf vorbereiten wollen.»
Neale sauste den Niedergang hinunter, und Herrick blickte uber die wogende Wasserwuste. Bolitho wurde es noch starker betreffen, dachte er. Wurde die
heimbeordert, verwehten alle seine Hoffnungen und Plane. Seine private Schlacht war dann verloren, bevor sie uberhaupt begonnen hatte.
Dann erklang ein leiser Schritt neben ihm, und Bolitho fragte:»Nun, Mr. Herrick, was hat es mit jenem Schiff auf sich?»
IV Das Signal
Bolitho stutzte das Fernrohr in die Luvnetze und wartete, bis ihm das andere Schiff ins Blickfeld kam. Wahrend der Zeit, die er gebraucht hatte, um aus seiner Kajute auf das Achterdeck zu gelangen und Herricks erregte Meldung entgegenzunehmen, war die Sonne langsam uber den Horizont heraufgekommen. Die kurzen steilen Wellen lagen nun nicht mehr im Schatten der Nacht, sondern ein blasses Gold filterte uber die endlose Weite der wei?en Kamme.
Mit den steilen Pyramiden der Segel und dem geschlossenen Gischtschleier, der den hohen Bug umspruhte, bot das andere Schiff in dem kraftiger werdenden Licht einen schonen Anblick. Es segelte schnell, die Masttopps schimmerten in dem weichen Fruhlicht wie Kruzifixe.
«Sie haben einen guten Ausguck, Mr. Herrick. Mein Kompliment, da? er die Fregatte so zeitig gesichtet hat«, rief er uber die Schulter.
Selbst fur einen erfahrenen Seemann war es keine Kleinigkeit, bei Dunkelheit oder Dammerung ein Schiff auszumachen und zu identifizieren. Dies war ganz gewi? ein Englander. Und irgendwie kam Bolitho der Umri? sogar vertraut vor.
Hinter sich horte er die Rufe der Maate und das schrille Trillern der Pfeifen.
«Alle Mann an Deck! Alle Mann an Deck! Nehmt die Beine in die Hand!»
Wahrend von vorn die ublichen Geruche aus der Kombuse drangen, stellte er sich vor, wie die schlaftrunkenen Manner stohnend und schimpfend aus den Hangematten kletterten. Ein neuer Tag auf See, doch dieser war nicht wie jeder andere. Die See war nicht langer leer und feindlich. Das andere Schiff erinnerte die Manner womoglich daran, da? sie Teil von etwas Wirklichem und Wichtigem waren.
Bolitho bemerkte, da? die gro?en Rahen der Fregatte gebra?t wurden, und horte Herrick sagen:»Sie halst, Sir. Wir werden bald auf gleicher Hohe liegen.»
Bolitho nickte abwesend. Das fremde Schiff wurde halsen, um mit ihnen parallel zu laufen, wobei es die
in Lee lassen wurde. Wie Herrick vermutet hatte, konnte das gut und gern neue Befehle bedeuten.
Bolitho kletterte aus den Wanten an Deck zuruck. Er fuhlte sich plotzlich mude. Ihn frostelte. Das Spritzwasser hatte sein Hemd durchna?t. Es klebte ihm am Leib, und an den Wangen spurte er sein feuchtes Haar. Sein Schiff hatte sich von neuem verandert. Auf dem Achterdeck schienen sich die Menschen geradezu zu drangen. Die Offiziere hielten sich auf der Leeseite und beobachteten die andere Fregatte durch ihre Glaser. Fahnrich Maynard sah aufgeregt zu dem fremden Schiff hinuber. Durch sein gro?es Fernrohr versuchte er so viel wie moglich zu erkennen. Da er Signalfahnrich war, wu?te er, da? Bolitho ihn nicht aus den Augen lie?.
Auf dem Hauptdeck drangten sich die aus dem Schlaf gerissenen Leute, und die Bootsleute mu?ten ihre Tampen haufiger als sonst gebrauchen, um jene vom Schanzwerk zu treiben, die uber das Wasser spahten. Erregt und schwatzend verstauten sie ihre Hangematten in die Kasten. Wahrend sie sich dem Niedergang zur Kombuse zubewegten, starrten sie noch immer auf das fremde Schiff.
Bolitho hob das Glas ans Auge, als kleine schwarze Balle zu den Rahen des anderen Schiffs hochstiegen und sich im Wind entrollten.
Vibart lehnte sich an das Kompa?haus und knurrte Maynard an:»Los, entschlusseln Sie.»
Maynard blinzelte und blatterte hastig im Signalbuch.»Sie hat ihre Nummer gesetzt, Sir: achtunddrei?ig. Es ist die
Bolitho schob das Fernrohr mit einem Ruck zusammen. Naturlich. Er hatte sie sofort erkennen mussen. Als er noch auf der
war, hatte er die
Buch.
Die
auf gleichem Kurs. Der weite Bogen hatte sie hinter die
gebracht, aber als sich ihre Segel blahten und fullten, kam sie schnell luvwarts auf.
Maynards Signalgasten setzten das Unterscheidungssignal der
Bolitho fragte sich, was Mastermann sagen wurde, wenn er ihn als Kommandanten vorfand. Das Signalbuch wies noch Pomfret als Kapitan aus.
«Signal, Sir«, rief Maynard.
Drehen Sie bei. Haben Botschaften an Bord.»
Die Sonnenstrahlen fuhren glitzernd uber die geschlossenen Stuckpforten der
zuschwang.
«Sie braucht kein Boot zu fieren, Sir«, sagte Herrick.»Sie konnten einen Steg ruberlegen. «Er rieb sich die Hande.»Ob sie frisches Gemuse an Bord hat?»
Bolitho lachelte. Auf so etwas hatte er gehofft. Eine Zerstreuung. Das wurde die Manner von ihren Sorgen ablenken, wenn auch nur vorubergehend.
«Machen Sie weiter, Mr. Vibart. Lassen Sie bitte beidrehen.»
Vibart hob das Sprachrohr.»Bra?t die Gro?marsrah! Bewegung, Leute!»
Stockdale tauchte neben Bolitho auf. Er brachte den blauen Rock und den Hut des Kapitans. Er blinzelte zu dem anderen Schiff hinuber und grinste.»Wie in alten Zeiten, Kapitan. «Er blickte nach vorn, als Quintal, der Bootsmann, eine Flut von Fluchen und Obszonitaten loslie?. Die Manner hatten auf die plotzlichen Befehle nur langsam reagiert. Auf dem uberfullten Deck herrschte bereits ein Chaos. Die Leute der Freiwache rannten unaufhorlich in jene Manner hinein, die sich mit den verquollenen Brassen abqualten.
«Signal, Sir«, sagte Maynard heiser. Seine Lippen buchstabierten langsam:»Haben Sie Nachricht von Hoods Geschwader?»
Quintal hatte seine Leute endlich an den Stationen, und mit schlagenden und donnernden Segeln drehte sich die
schwer in den Wind.
Bolitho, mit den Armen schon halb im Rock, stie? Stockdale beiseite, als ihm bewu?t wurde, was die Frage bedeutete. Masterman hatte das nie und nimmer gefragt. Selbst wenn er die Verbindung zum Geschwader verloren hatte, mu?te er wissen, da? die
in diesen Gewassern fremd war. Wahrend seine Gedanken wild durcheinander wirbelten, verfolgte er hypnotisiert, wie die
weiter herumschwang, bis der Bugsprit der
Andiron
zu. Noch ein paar Sekunden, und, unbedroht und allmachtig, hatte die
gekreuzt.
Doch Bolitho merkte, wie sein Schiff sich durch den Wind arbeitete. Er verschlo? die Ohren gegen die Schreie und Fluche seiner Offiziere und Manner. Die Wochen des Segeldrills bei jedem Wetter machten sich jetzt bezahlt. Wie Marionetten zogen die Seeleute an Fallen und Brassen, vom Verhalten des Kapitans zu verwirrt, um zu verstehen, was vorging.
«Mein Gott, Sir«, rief Vibart.»Wir kollidieren. «Er starrte an Bolitho vorbei auf die heranbrausende
schlingerte noch immer in ihrer Drehbewegung. Ihr Bug folgte dem anderen Schiff wie eine Kompa?nadel.
«Kurs Sudost!«befahl Bolitho.»Zweites Reff ausschutteln!«Er achtete nicht auf die Wiederholung und Weitergabe seiner Befehle, sondern ging entschlossen zu dem rotrockigen Trommelbuben neben der Kajutenluke.
«Ruhr die Trommel. Klarschiff zum Gefecht!»
Der Ausdruck des Jungen schlug von Stumpfheit in Schrecken um. Doch Ausbildung und Disziplin behielten wiederum die Oberhand, und als die Trommel das Alarmsignal gab, wogte die Flut der Manner auf dem Hauptdeck nur einen Moment zogernd hin und her, ehe sie zerstob, als die
Geschutzbedienungen an die Kanonen rannten.
«Ihre Stuckpforten offnen sich«, keuchte Vibart.»Mein Gott, sie zeigt ihre Farben!»
Bolitho sah, wie die gestreifte amerikanische Flagge vom Wind entrollt wurde, wahrend sich die Stuckpforten der
von der anderen Fregatte abdrehte. Doch die
gekreuzt, und ihre bislang hinter dem Schanzkleid und den geschlossenen Pforten verborgenen Kanoniere hatten eine Salve nach der anderen durch die gro?en Kajutfenster gejagt. Die pfeifenden Kugeln hatten sein Kommandozentrum zerfetzt. Und da sich die Halfte seiner Manner noch hilflos und unvorbereitet unter Deck aufgehalten hatte, ware alles innerhalb weniger Minuten zu Ende gewesen.