»Nur langsam! Wir werden gehen, aber nicht ohne vorher unsere Pflicht zu thun.«
Hinaus mit Euch. Ihr habt hier nichts zu befehlen; ich leide es nicht!«
Er faßte den General beim Arme; dieser aber stieß ihn von sich ab.
»Kerl, wage es noch einmal mich anzurühren, so sollst Du sehen, was passirt! Ist dies Euer Vater?«
Eins der Kleinen nickte.
»Und dies Eure Mutter?«
»Ja.«
»Kunz, nimm den Knaben herab!«
»Versucht es einmal!« drohte der Schiffer, indem er zum Stocke griff.
»Kunz!«
Der Diener erhielt einen \Vink, welchen er sofort verstand. Er eilte hinaus und kam bald mit Polizei und einigen Schiffern zurück, mit deren Hilfe der Mann gebunden wurde. Dann konnte man Kurt ungestört aus seiner Lage befreien. Er war in der Weise geschlagen worden, daß er kaum noch die nöthige Besinnung besaß die Umstehenden zu erkennen. Er hatte sich, um den Schmerz zu beherrschen und nicht zu schreien, in die Lippen und die Zunge gebissen. Auch die Mutter war von den Streichen, welche ihren Kopf getroffen hatten, beinahe betäubt und konnte nur in kurzen abgerissenen Worten Auskunft ertheilen. Der Knabe war ohne Geld nach Hause gekommen, und als sein Vater dazu gehört hatte, wie Kurt mit dem Prinzen, von dem er doch eher hätte etwas verdienen sollen, umgesprungen war, hatte er seine Wuth nicht zügeln können und war über Mutter und Sohn in dieser unmenschlichen Weise hergefallen. Die Polizei führte ihn ab.
Die Wunden der Beiden wurden von den theilnehmenden Nachbarn mit Essig behandelt und dann verbunden. Kurt konnte sich wieder ankleiden.
»Armer Junge!« meinte der General. »Willst Du fort aus diesem Hause?«
»Nein.«
»Wirum nicht?«
»Ich bleib bei meiner Mutter.«
»Ah, brav! Aber wenn sie nun auch fortgeht?«
»Und auch die Geschwister?«
»Ja.«
»Und der Vater nicht?«
»Nein.«
»So gehe ich mit, gnädiger Herr. Aber wohin sollen wir?« »Zu mir. Ich werde für Euch sorgen. jetzt muß ich nach Hause. Könntest Du mich begleiten, oder sind die Schmerzen zu groß dazu?«
Der Knabe lächelte, schien sich aber dennoch zugleich zu schämen.
»Ich habe oft so ausgesehen und doch sogleich wieder arbeiten müssen.«
»So komm!«
Er legte der Mutter, welche noch immer wie gelähmt an ihrem Platze saß, seine Börse in den Schooß und verließ das Haus. Magda ergriff die Hand des Knaben.
»Armer Kurt! Du bist so gut und so muthig, hast mich aus dem Wasser gezogen und mußt Dich dafür so sehr schlagen lassen! Thut es noch recht sehr weh?«
Sein jugendliches Gesicht erhellte sich.
»Nun gar nicht mehr.«
»Ist es auch wahr?«
»Ja.«
Das kleine Mädchen ahnte nicht, welchen Eindruck ein einziges Wort, ein einziger Blick oder Händedruck hervorbringen kann. Sie ließ den Knaben nicht los, bis sie die Wohnung des Generals erreichten.
Dort bot sich ihnen ein sonderbarer Anblick dar. Auf dem Korridore stand sämmtliches Dienstpersonal und korrespondirte durch die verschlossene Thür mit drei weiblichen Stimmen, welche man im Innern bitten, rufen, befehlen, jammern und wehklagen hörte.
»Was gibt es?« frug der General.
Alle wollten zu gleicher Zeit antworten; aber die schrille Stimme der Zofe errang zuletzt den Sieg.
»Was es gibt, Excellenz? Ein Unglück, ein großes, fürchterliches, ungeheures Unglück.«
»Welches?«
»Ja, das wissen wir nicht.«
»Macht auf!«
»Wir können nicht. Der Schlüssel ist fort.«
»So wartet!«
Er trat zur Thür und klopfte.
»Wer ist drin?«
»Wir!« antworteten kreischend die drei schwesterlichen Stimmen.
»Ihr habt Euch eingeschlossen?«
»Nein!« klang es unisono.
»Was ist geschehen?«
»Mach auf und bring Hilfe! Das Zimmer wimmelt von »
»Ungeheuern ,« rief eine zweite Stimme.
»Schlangen ,« die dritte.
»Molchen und Drachen ,« die erste wieder.
Und dann kreischte es in fürchterlichen Dissonanzen:
»Lindwürmer, Madenwüriner, Bandwürmer, Chamäleons; o, komm, ich falle vom Tische, ich vom Stuhle, ich vom Sopha, Hilfe, Hilfe, Hilfe!«
Da gab Kunz dem Gärtner, welcher natürlich auch mit anwesend war, einen Wink und dieser blickte nieder.
»Ah,« meinte er,«»da habt Ihr vergebens gesucht, und hier liegt der Schlüssel am Boden!«
»Her damit!« gebot der General.
Er öffnete, und nun bot sich ein Anblick, der nicht nur den Herrn, sondern auch die Dienerschaft zum lauten Lachen zwang.
»Wer hat das gethan?« frug der Herr.
»Ich nicht,« antworteten Alle.
»So! Wo sind die Thiere hergekommen?«
»Hier aus dem Korbe,« berichtete Freya.
»Ah!« machte der General und streifte dabei seinen Leibdiener mit einem raschen Blicke. »Da hat sich der Hektor in diese Thiere verwandelt. Wunderbar! Macht, daß Ihr sie aus dem Hause bringt!«
Er ging.
»Fort doch damit, greift zu!« gebot Freya, und ihre Schwestern stimmten bei.
Der Gärtner schüttelte höchst bedenklich den Kopf.
»Der Hektor in diese Thiere verwandelt? Hm, gefährlich! Mein Dienst ist nicht hier, sondern im Garten!«
Er ging. Auch Kunz zog ein eigenthümliches Gesicht.
»Der Hektor? Hm, ist stets ein obstinates Viehzeug gewesen, das den Teufel im Leibe hatte. Aber ich habe nicht die Damen, sondern den Herrn General zu bedienen.«
Auch er verließ das Zimmer. Weder Magda noch eine der Dienerinnen getrauten sich, eines dieser häßlichen Thiere zu erfassen. Da erschien endlich Kurt unter der Thür. Er hatte sich bisher aus Bescheidenheit zurückgehalten. Die Schwestern sahen ihn und jubelten.
»Da kommt ein Retter! Kurt, lieber Kurt, schaffe dieses Gewürme fort!«
»Wohin?«
»Wohin Du willst, nur fort!«
Er sah den offenen, umgestürzten Korb, richtete ihn wieder empor und sperrte alle die schrecklichen Geschöpfe, welche er mit der größten Schnelligkeit fing, in denselben ein.
»So, meine gnädigen Fräuleins, nun können Sie ihn fortbringen lassen.«
Die Damen verließen ihre Festungen, auf denen sie bisher so arg belagert worden waren.
»Wir danken Dir, Junge!« rief Zilla. »Du darfst gar nicht wieder fort von uns.«
»Nein, Du bleibst hier bei uns!« stimmte Wanka bei.
»Natürlich!« bestätigte auch Freya. »Er bleibt hier, denn er muß ja vor allen Dingen meine arme Mimi suchen, welche sich wegen dieses Prinzen aus dem Fenster stürzen mußte. Und dann gleich muß er versuchen herauszubekommen, wer uns diesen Streich gespielt hat, denn wir müssen Rache nehmen!«
»Rache!« rief auch Wanka.
»Rache!« rief auch Zilla. »Dreifache Rache; und der Herr Lieutenant von Wolff wird uns nach Kräften unterstützen!«
Zweites Kapitel: Himmel und Hölle
Mitten in der weiten Ebene erhebt sich ein vielfach zerklüfteter, aus gewaltigen Basaltmassen bestehender Berg, welcher mit seinem Haupte hoch in die Wolken ragt und seine Füße weit in das Land hineinstreckt, wie ein vom Himmel gefallener Titane oder ein aus dem Innern der Erde emporgeschleuderter riesiger Cyklope, der nun seit Jahrtausenden im Schlummer liegt, um von den gigantischen Kämpfen auszuruhen, die ihn vom Olympos stürzten oder aus dem Orkus an das Tageslicht hervorgetrieben haben.
Auf seinem Gipfel stand seit uralten Zeiten eine Burg, die den Namen Himmelstein führte. Sie wurde niemals erobert und zerstört, denn ihre Lage machte sie vollständig uneinnehmbar. Aber der Zahn der Zeit nagte unaufhaltsam an ihren Mauern, und als sie in den Besitz des königlichen Hauses kam, war es nothwendig geworden, sie von Grund auf zu renoviren, wobei ihre Einrichtung in jeder Beziehung den Ansprüchen der neueren Zeit angepaßt wurde. jetzt gehörte sie als Privateigenthum dem Prinzen Hugo, der »tolle Prinz« genannt.
Ungefähr auf der Höhenmitte des Berges liegt auf der Nordseite desselben ein Mönchs- und auf seiner südlichen Seite ein Nonnenkloster. Die beiden geistlichen Anstalten sind beinahe so alt wie die einstige Burg, und gleichen, von unten aus gesehen, mit ihren hohen dicken Umfassungsmauern kleinen Festungen, sind aber in ihrem Innern ganz den Anforderungen der Gegenwart gemäß eingerichtet und bieten ihren Bewohnern und Bewohnerinnen alle die Bequemlichkeit, welche die »Hirten Christi« und die »Bräute des Hirnmels« zu beanspruchen haben.
Tief unten am Fuße des Berges liegt zwischen üppigen Feldern und grünenden Hainen, die sich langsam zur Höhe ziehen, ein kleines schmuckes Städtchen, einst den Rittern und Kämpen da oben zu Lehn gehörig und auch jetzt noch unter der direkten Botmäßigkeit des alten Schloßvogtes stehend, der seinem gegenwärtigen Herrn außerordentlich treu ergeben ist, von seinen Untergebenen aber mehr gehaßt und gefürchtet als geehrt und geliebt wird.
Wenn man von diesem Städtchen ostwärts geht, gelangt man in eine tiefe enge Schlucht, durch welche sich ein wildes Wasser rauschend Bahn gebrochen hat und das Rad einer Mühle treibt, die wie ein Schwalbennest an den steilen Felsen hängt.
Die Umgebung der einsamen Mühle ist mehr als romantisch, sie ist schauerlich. Die Schlucht heißt die Höllenschlucht, und darum darf es nicht Wunder nehmen, daß man die Mühle die Höllenmühle genannt hat. Das Schloß heißt Himmelstein, und in den beiden Klöstern werden die nach der Seligkeit lechzenden und dürstenden Seelen für den Himmel zubereitet; daher sagt der Städter oder der ländliche Bewohner der Umgegend, wenn er den Berg besteigen will, er wolle »zum Himmel« empor; will er dagegen sein Korn zur Mühle bringen, so meint er: »ich gehe in die Hölle.« Droben der Himmel und unten die Hölle. Haben diese Bezeichnungen auch in Beziehung auf das Glück, auf das Thun und Treiben der Bewohner der beiden Orte ihre Berechtigung?
Die Höllenmühle galt seit langen, langen Zeiten im weiten Umkreise für einen unheimlichen Ort, den man eher fliehen als aufsuchen solle. Sie war der Schauplatz von Tragödien gewesen, deren Verlauf man nicht genau kannte, welche aber gerade in Folge dessen der Zunge Veranlassung gaben, das Dunkle mit noch größeren Schrecken auszuschmücken, so daß eine Reihe von grauenhaften Sagen entstanden, die weithin über das ganze Land ihre Ausbreitung fanden.
Der alte Stamm der Höllenmüller hatte sich in seinem Familien- und auch äußeren Leben durch allerhand Unglücksfälle ausgezeichnet. Der letzte war in dem rauschenden Mühlenwasser ertrunken; seine Wittwe hatte das Besitzthum verkaufen müssen und war dann fortgezogen und spurlos verschollen.
Es war ihr allerdings nicht leicht geworden einen Käufer zu finden, und nur durch die Hilfe eines Agenten war sie die Mühle um einen Preis losgeworden, der kaum die Hälfte ihres eigentlichen Werthes betrug. Ihr Nachfolger war eine hohe blonde Gestalt, wie man sie hier im Süden selten findet. Er stammte aus Norland und war kein Katholik, weshalb er von den geistlichen Vätern und Müttern da oben nicht eben freundlich angesehen wurde. Er hatte sein Vaterland nur verlassen, weil er nicht eigentlich ein Vermögen besaß und hier für seine Ersparnisse Herr eines Besitzthurns wurde, dessen Ankauf ihm als ein höchst vortheilhafter bezeichnet worden war.
Es war im Frühherbste. Die Räder der Mühle standen, denn es hatten alle Hände mit dem Einbringen und Bergen der überaus reichen Ernte zu thun. Eben wieder war ein Wagen voll prächtiger Roggengarben vor der beinahe gefüllten Scheune abgeladen worden, und nun saß die Familie des Müllers nebst den Knappen und Dienstboten um den im Freien aufgestellten Tisch, um das Vesperbrod einzunehmen.
Die Müllerin war eine jener Frauen, welche, obgleich sie stets mit Sorge und Arbeit zu kämpfen haben, doch niemals alt werden. Das treue, ewig heitere Gernüth übt einen erhaltenden Einfluß auf die Gestalt und die Gesichtszüge, und die Jahre gehen vorüber wie die Stürme an der Eiche; sie rütteln, sie schütteln, aber sie bewirken nur, daß sich die Wurzeln immer tiefer in den Boden gründen. Neben ihr saß ihr Ebenbild, ihre Tochter, ein kräftiges freundliches Mädchen, dessen Wuchs und Züge wohl geeignet waren, auch einen Mann zu fesseln, der sonst nicht an eine gewöhnliche Müllerstochter dachte.
Die originellsten Personen des kleinen Kreises waren jedenfalls die beiden Knappen. Der Eine hatte die Jugendjahre längst schon hinter sich. Er war lang und stark gebaut und besaß eine Nase, über welche man beinahe hätte erschrecken können. Der Ausdruck Habichtsnase sagte nichts, geradezu nichts, diesem riesigen Theile des Gesichtes gegenüber, der bei einer entsprechenden Haltung seines Besitzers und der geeigneten Stellung der Sonne leicht einen fünf Meter langen Schatten geben konnte. Und das Eigenthümlichste an dieser Nase war, daß sie an jedem Gefühle und Gedanken, an jeder Bewegung und an jedem Worte des Knappen sich durch eine entsprechende Färbung, Haltung oder Bewegung zu betheiligen strebte.
Im Gegentheile von ihm hatte der andere Knappe gar keine Nase. Er hatte sie jedenfalls durch irgend einen Unglücksfall verloren und besaß nun jenen eigenthümlichen Ton der Stimme, welcher nasenlosen Leuten unvermeidlich ist. Dazu war ihm das linke Bein am Knie amputirt, und er trug an Stelle des fehlenden Gliedes einen hölzernen Stelzfuß, welcher zu besserer Haltbarkeit sehr dick mit Eisen beschlagen war.
»Wie steht es, Klaus,« frug der Müller den Langnasigen. »Werden wir noch heut den Roggen hereinbringen?«
»Versteht sich ganz von selber, Meister Uhlig!«
Er nickte während dieser Antwort, und es war drollig anzusehen, daß sich dabei die Spitze seiner Nase erst hob, dann schnell senkte und nachher in ihren früheren status quo zurückkehrte. Den Andern fiel dies nicht auf, da sie diese Beweglichkeit des Riechorganes bereits gewohnt waren.
»Wenn nicht vielleicht ein Gewitter kommt!«
»Fällt ihm nicht ein!«
Ohne daß er den Kopf bewegte, ging die Nase herüber und hinüber, um zu bekräftigen, was ihr Besitzer ausgesprochen hatte.
»Brendel kann Dir heut nicht mehr helfen.«
»Ich?« frug der Stelzfuß verwundert. »In wie so denn, wenn ich fragen darf?«
»Der Braune ist lahm geworden; Du mußt zum Thierarzt reiten.«
Auf allen Mienen zeigte sich ein erwartungsvolles Lächeln. jeder wußte, daß Brendel vor nichts so großen Abscheu hatte, als vor dem Reiten, und daß der Meister diese Bemerkung nur machte, um ihn in Angst zu bringen und ihn zu vermögen, die Geschichte zu erzählen, welche sie Alle längst kannten, weil er sie bei jeder Gelegenheit wieder auftischte.
»Reiten? Zum Thierarzte? In wie so denn? Kann ich nicht laufen?«
»Nein. Es ist zu weit.«
»So will ich fahren!«
»Geht nicht. Du hast nur ein Bein, und der Schimmel muß einmal gehörig in Gang genommen werden. Es bleibt also dabei, Du reitest!«
»Dann mag doch der Klaus den Weg machen. Er ist Wachtmeister bei den Kürassieren gewesen und versteht es besser als ich, den Schimmel in Gang zu bringen.«
»Der muß beim Wagen bleiben. Fürchtest Du Dich denn?« »Ich mich fürchten? In wie so denn? Aber ich reite nicht; ich reite sogar niemals.«
»Aber wenn ich es Dir befehle!«
»Das ist schlimm!«
»Warum?«
»Ich darf nicht reiten.«
»Nun, warum? Heraus damit!«
»Sie wissen es ja schon!«
»Ich? Was denn?«
»Von dem Gelübde.«
»Pah! Was denn für ein Gelübde?«
»Daß ich im ganzen Leben niemals wieder reiten will.«
»Ja, zum Teufel, warum eigentlich?«
»Na, wenn Sie es nicht wissen, da muß ich es erzählen, denn in wie so denn, weil Sie sonst denken, ich will Ihnen nicht gehorchen.«