Jetzt ging es mit Hilfe des Bergstockes leichter und schneller vorwärts. Wir kamen oben an und bemerkten jenseits unten im Thale eine zahlreiche Herde, welche ruhig graste. Der Kapitän wollte, wie vorhin, gerade auf die Tiere zu. Ich hielt ihn zurück.
»Halt, Mr. Turnerstick; auf diese Weise vertreibt Ihr sie wieder. Steigt hier rechts hinab; da ist der Weg sehr leicht, und stellt Euch dort unter jenen Kiri-Holzbaum. Ich gehe links hinunter und treib Euch die Ziegen gerade in den Schuß.«
»Well, so lasse ich es mir gefallen. Macht, daß Ihr hinunter kommt; ich muß in fünf Minuten sechs haben!«
»Mit zwei Kugeln?«
»Pshaw! Ich schieße allemal ihrer drei durch und durch!«
»Wird schwierig sein! Wollt Ihr nicht lieber meinen Henry-Stutzen nehmen? Ich habe ihn wieder geladen, und er hat fünfundzwanzig Schüsse, welche Ihr abgeben könnet, ohne laden zu müssen.«
»Das ist ja ganz außerordentlich profitabel! Gebt her, und zeigt mir, wie mit dem Dinge umzugehen ist!«
Ich erklärte ihm die Konstruktion; dann eilte er, nachdem er mir die Sonntagsbüchse eingehändigt hatte, von dannen. Es war wirklich urkomisch, seine breite Gestalt an dem Bergstocke mit weit gespreizten Seemannsschritten hinabwiegen und balancieren zu sehen.
Ich war viel eher zur Stelle, als er. Sobald ich ihn unter dem Kiri wußte, pirschte ich mich auf die Tiere zu und drückte auf etwa achtzig Schritte zweimal los. Beim ersten Schusse stürzte das Tier im Feuer, der zweite aber hatte, da ich des Gewehres nicht sicher war, weniger gut getroffen; die Ziege sprang seitwärts ab und floh die Höhe hinan, welche derjenigen gegenüber lag, von der wir herabgekommen waren.
Die übrigen Tiere galoppierten grad auf meinen wackern Frick Turnerstick los. Dieser ließ sie bis auf vierzig Schritte herankommen, trat dann hinter dem Baume hervor und hob das Gewehr. Zu meiner größten Verwunderung bemerkte ich, daß er nicht schoß. Er schnitt mir, der ich, hinter den Ziegen herrennend, ihm dieselben entgegentrieb, allerlei wunderliche Grimassen, strampelte ungeduldig mit den Füßen, hielt das Gewehr zum Abdrücken fertig und schoß doch nicht. Die Ziegen eilten an ihm vorüber; er drehte sich um, zielte und arbeitete mit der Rechten in heftiger Aufregung an dem Stutzen herum.
Unterdessen entkamen die Tiere, und ich erreichte ihn.
»Warum schießt Ihr denn nicht, Sir?« fragte ich höchlich verwundert.
Er wandte sich zu mir herum. Sein sonst so gutmütiges Gesicht glänzte vor Wut wie Zinnober, und seine Stimme donnerte förmlich, als er mir antwortete:
»Was soll ich? Schießen soll ich? Wen denn? Doch wohl Euch? Schämt Euch, Charley, daß Ihr weniger Umsicht habt, als so ein Tier! Diese braven Ziegen waren so verständig, mir grad in das Rohr zu segeln, und ihr seid so unverständig, hinter ihnen dreinzuspringen. Und dabei mutet mir der Mensch zu, daß ich losdrücken soll. Wenn ich Euch nun erschossen hätte, he!«
»Mich erschossen?« fragte ich, beinahe steif vor Erstaunen bei diesem Vorwurfe. »Das ist ja ganz unmöglich, denn ich war ja volle zweihundertfünfzig Schritte hinter den Tieren.«
»Thut nichts! Das muß ich verstehen! Ich bin ein alter erfahrener Mann, und ihr seid noch jung. Laßt Euch ein Beispiel erzählen. Master Cornpush, den ich nicht leiden kann, kommt zu mir und sagt mir Dinge, die mich wütend machen. Ich nehme ihn und werfe ihn die obere Treppe hinab, oder vielmehr, will ihn nur die obere Treppe hinabwerfen; er aber ist so ungeschickt und stürzt alle beiden Treppen hinunter, und ich mußte eine schwere Menge Strafgelder zahlen. So ist es mir mit diesem unglücklichen Master Cornpush ergangen; warum kann es mit der Kugel nicht ganz dasselbe sein? Ich will bloß die Ziegen treffen, aber die Kugel will partout zu Euch hinüber, fliegt über die Ziegen hinweg und Euch in den Kopf nun, was dann, he? Und Ihr fragt, warum ich nicht geschossen habe, statt daß Ihr mir dafür dankt, daß ich so geistesgegenwärtig war, Euch das Leben zu retten? Charley, das hätte ich nicht von Euch erwartet!«
Ich gestehe, ich war vollständig verblüfft über diesen Vorwurf, welcher mit solchem Ernste und solcher Ueberzeugung vorgetragen wurde; auch wollte ich den Mann nicht noch mehr in Harnisch bringen und darum antwortete ich nur:
»Aber warum schoßt Ihr denn nicht hinter den Ziegen her?«
»Konnte ich, wenn dieser Henry oder Harry oder Parrystutzen nicht losgehen will? Ich habe gedrückt und gekniffen, gezogen und geschoben aus Leibeskräften pshaw, er wollte einmal nicht! Hier habt Ihr Eure Schießröhre wieder! Wenn ich wieder einmal auf Ziegen gehe, so nehme ich mir eine Feueresse mit; von der weiß ich doch wenigstens, daß sie losgeht! Wo nehme ich nun meine sechs Tiere her, he?«
»Hm, leider,« lachte ich; »sechs Ziegen auf zwei Schüsse!«
»Charley, bringt mich nicht in Krawall! Her mit meiner Büchse! Habt ihr etwas damit geschossen?«
»Ja, zwei. Die eine ist tot, und die andere ging dort hinauf; sie ist verwundet und hat stark geschweißt.«
»Ist das etwa zu verwundern?« fragte er ingrimmig. »Wenn so ein armes Tier verwundet ist und einen solchen Berg hinauf muß, wird es doch wohl schwitzen dürfen!«
Jetzt wurde aus meinem Lachen ein förmliches Gelächter. Das aber brachte ihn so in Harnisch, daß er mir die Büchse aus der Hand riß.
»Charley, Ihr seid ein Barbar, ein vollständig gefühlloser Mensch; ich habe mit Euch nichts mehr zu schaffen. Segelt von Port Lloyd nach Canton, mit wem Ihr wollt, nur aber mit mir nicht!«
Er warf mir den Bergstock vor die Füße und schritt mit einer Gebärde der höchsten Indignation fort. Ich ließ ihn laufen, denn ich wußte sehr genau, daß er wieder kommen werde. Ich nahm also meinen Stock auf und stieg den Spuren der verwundeten Ziege nach. Gleich hinter der zu erglimmenden Höhe mußte die See liegen, wie ich von dem gegenüberliegenden Punkte der Thalwand gesehen hatte. Fährte und Schweiß waren deutlich zu erkennen und führten mich nach einem schmalen Plateau, welches sich senkrecht nach der See abzustürzen schien. Hart am Rande desselben lag die Ziege. Sie war schwer getroffen und versuchte, sich zu erheben, als sie mich erblickte. Ich machte durch einen sichern Schuß ihrer Qual ein Ende.
Kaum war der Knall verhallt, so war es mir, als ob ich tief unten einen Ruf vernähme. Ich legte mich nieder, bog den Kopf über den scharfen Rand des Felsens hinaus und blickte hinab. Ganz wie ich vermutet hatte, fiel die Felsenwand beinahe senkrecht zur Tiefe und bildete einen kleinen Halbkessel, welcher in seinem Hinterteile höchsten dreißig Fuß breit war, nach vorn, wo er von den Wogen der See bespült wurde, sich allmählich erweiterte und sich ringsum so streng abgeschlossen zeigte, daß ihn wohl noch nie ein lebendes Wesen betreten hatte. Von oben war wohl kaum hinabzukommen, und an der Wasserseite verwehrte eine scharfe Korallenbarre, über welche sich die See in hohen Wogen brach, den Zugang. Und doch stand ein Mensch da unten, der mich bemerkt hatte und mir durch Gestikulationen zu verstehen gab, daß er sich in einer verzweifelten Lage befinde.
Ich konnte die Laute hören, die Worte aber nicht verstehen, seine Kleidung jedoch sagte mir, daß er ein Chinese sei. Wie kam der Mann nach Stapleton-Island und noch dazu in diese unzugängliche Bucht? Freiwillig jedenfalls nicht. Aber wie war es möglich, ihn herauszubringen? Ich überlegte noch, wie dies möglich sei, als ich hinter mir Schritte hörte. Ich drehte mich gar nicht um, denn ich vernahm aus dem lauten Schnaufen, daß es mein reuig zurückkehrender Frick Turnerstick sei.
»Alle Wetter, war dies geklettert! Ich will lieber an tausend Mastbäumen hinauf, als diesen Berg wieder hinunter!« seufzte er.
Der gute Mann ließ ganz außer acht, daß er dennoch auf jeden Fall wieder hinab müsse.
Der gute Mann ließ ganz außer acht, daß er dennoch auf jeden Fall wieder hinab müsse.
»Wollt Ihr vielleicht auf dieser Seite hinab, Sir?« fragte ich, auf den Abgrund deutend.
Er streckte alle zehn Finger abweisend aus.
»Fällt mir niemals ein! Ich glaube, ich käme so unmäßig schnell in die Tiefe, daß der Kapitän Frick Turnerstick als Wrack unten läge, an welchem man weder Rumpf noch Masten oder Spieren und Stengen zu erkennen vermöchte.«
»Und doch müßt Ihr hinab!«
»Ich? Müssen? Warum? Charley, ich komme in ganz guter und rechtschaffener Absicht wieder, und Ihr wollt mich dafür geradezu in den Tod jagen. Ist das recht von Euch?«
»Ja, was soll denn aus dem Manne da unten werden, wenn ihr ihn nicht heraufholt?«
»Ein Mann? Wo?«
»Macht es, wie ich: Legt Euch nieder und seht ihn Euch an!«
Er folgte dieser Aufforderung mit sehr bedeutender Vorsicht und fragte dann:
»Ein Chinese, nicht, Charley?«
»Ja.«
»Wie kommt der Kerl in diesen Käfig?«
»Das wird er uns wohl sagen. Zur See können wir nicht zu ihm; das ist wegen der fürchterlichen Barre dort unmöglich; also müssen wir hier hinunter.«
Der Kapitän machte ein ganz verzweifeltes Gesicht.
»Hört, Charley, ich möchte dem Kerl von Herzen gern helfen, aber was kann es ihm nutzen, wenn ich seinetwegen Hals und Bein breche?«
»Das ist richtig. Also werde ich versuchen, hinabzukommen.«
»Wird Euch nicht anders gehen,« meinte er ängstlich.
»Wollen sehen! Ganz hinunter kann ich allerdings unmöglich, aber es ist gut, daß ich mein Lasso bei mir habe. Seht dort den Feyé[20] am Rande stehen! Von da aus lasse ich mich auf den schmalen Vorsprung, den Ihr unter ihm seht, hinab, und ist Eure Aufgabe, den Lasso, welchen ich bei meiner Rückkehr werfen werde, aufzufangen und an den Stamm zu binden. Ihr haltet natürlich mit, wenn ich einporsteige.«
Wir schritten bis zu dem Feyé hin, an welchen ich, tief an der Erde, den Lasso befestigte. Dann warf ich Jacke und Mütze ab und ließ mich auf den erwähnten Vorsprung, welcher vielleicht fünfzehn Fuß unter uns lag, hinab.
»Den Lasso los, Kaptn!«
»Aye, aye! Aber nehmt Euch in acht, Charley; wenn Ihr stürzt, so kann Euch niemand helfen!«
Ich legte mir den Lasso um den Leib und stieg weiter. Die ganze Höhe des Felsens mochte vielleicht zweihundert Fuß betragen. Von dem vier Fuß breiten Absatze, zu welchem ich mich niedergelassen hatte, war es für einen geübten und schwindelfreien Bergsteiger nicht schwer, bergab zu kommen, und nun ungefähr zwanzig und etliche Fuß über der Sohle des Kessels hörte diese Möglichkeit vollständig auf. Ich langte glücklich dort an.
Der Chinese war meinen Bewegungen mit gespanntem Auge gefolgt. Jetzt aber stieß er einen Ruf der Enttäuschung aus. Ich drehte mich ihm zu und fragte im Kuan-hoa[21], da ich vermutete, daß er mich da jedenfalls verstehen werde:
»Wie heißest du?«
»Kong-ni.«
»Wo bist du her?«
»Aus Tien-hia[22], dort im Si[23], über dem Meere.«
»Aus welcher Provinz oder Stadt?«
»Aus Kuang-tscheu-fu[24] in der Provinz Kuang-tong.«
»Wie kommst du hierher?«
»Ich war auf einem Lung-yen[25], welcher gestern im Teifun zu Grunde ging. Die Wogen haben mich hereingeschleudert, und ich muß sterben, wenn du mich nicht rettest.«
»Kannst du gut steigen?«
»Ich war in allen Bergen des Westens; mein Auge ist gut, und mein Fuß zittert nicht. Aber mein Kopf ist an die Felsen geschlagen, so daß mir schwindelt, und mein linker Arm ist verwundet, so daß ich große Schmerzen habe.«
»Wenn du deine Schmerzen beherrschen willst, so kann ich dich retten.«
»Ich werde es!«
Ich schlang den Lasso los und ließ das Schlingende hinab.
»Lege dir diesen Riemen unter den Armen hindurch um den Leib; ich werde dich emporziehen!«
Wegen seiner weiten Kleidung und seines verwundeten Armes dauerte es lange, ehe er damit fertig wurde.
»Wirst du mich nicht fallen lassen?« fragte er empor.
»Nein. Halte dich mit dem rechten Arme vom Felsen ab, und hilf mit den Füßen nach!«
Er gehorchte dieser Weisung, und nach wenigen Augenblicken stand er vor mir, bleich und im höchsten Grade angegriffen. Er war noch ein sehr junger Mann von höchstens vierundzwanzig Jahren. Er mußte große Schmerzen haben, denn er hatte sich während meines Emporziehens die Lippen blutig gebissen.
»Gieb mir deinen Arm; ich will sehen, was ihm fehlt.«
»Bist du ein Arzt? Kennst du das »Tschang-schi-yi-thuny«[26] und das »Wan-ping-tsui-tschün«?[27]« fragte er mich.
»Ich kenne beide, und auch den »Yü-tsuan-i-tsung-kinkian«[28],« antwortete ich, um ihm Vertrauen einzuflößen. »Zeige her!«
Er gab mir den Arm. Die Untersuchung mußte ihm höchst schmerzhaft sein, denn ich fand, daß er den Arm oberhalb des Ellbogens gebrochen hatte.
»Dein Arm ist entzwei, aber ich werde ihn heilen, sobald sich die Geschwulst ein wenig gesetzt hat. Kannst du hier emporklettern?«
»Ich könnte es leicht, aber ich bin matt. Stütze mich.«
Ich that dies, mußte aber bald einsehen, daß es in dieser Weise nicht gehen werde. Ich versuchte, sein Gewicht zu taxieren. Er war zwar kräftig, aber nicht zu stark gebaut.
»Wirst du dich mit den Beinen festhalten können, wenn ich dich auf meine Achseln nehme?«
»Wolltest du das wirklich thun?«
»Ja.«
»Aber ich weiß nicht, wer du bist, und ich mag nicht das Gesetz verletzen, welches mir vorschreibt, höflich zu sein.«
»Du wirst dieses Gesetz nicht verletzen, denn ich bin kein Dse-tschung-kuo[29], sondern ein Tao-dse[30], der dir helfen will. Komm, wollen es versuchen!«
Ich nahm ihn empor, daß er wie ein Reiter auf meinen Schultern saß und die Füße auf meinem Rücken ineinander schlang. Während er sich mit der Rechten an meinem Kopfe und ich mit der einen Hand seine Beine festhielt, versuchte ich, mit ihm bergan zu kommen. Es ging, obgleich ich höchst langsam und vorsichtig steigen mußte, um jeden Fehltritt zu vermeiden.
Es verging wohl eine halbe Stunde, ehe wir den obern Vorsprung erreichten. Dieser war, wie bereits erwähnt, nur vier Fuß breit, und daher bereitete uns das Absteigen bedeutende Schwierigkeiten. Wir konnten beide leicht hinabstürzen. Ich befahl ihm daher, die Augen zu schließen, kniete nieder und ließ ihn langsam von mir gleiten. Dann rief ich nach oben:
»Hallo, Master Turnerstick!«
»Hallo, bin schon da!«
»Fangt den Lasso auf!«
Es war nicht leicht, den Riemen empor zu bringen, aber es gelang. Der Kapitän band ihn oben fest, und ich schlang das andere Ende um den Leib des Chinesen.
»Bleib stehen, bis ich oben bin,« mahnte ich diesen. »Ahoi, Kaptn! Ich komme. Ist der Riemen fest?«
»Well! Wenn er nicht reißt, so mag es gehen, denn ich halte fest.«
Ich griff mich empor und kam auch glücklich oben an. Turnerstick drückte mir freudig die Hand und sagte:
»Willkommen, Charley! Das war ein fürchterlicher Kurs, den Ihr gesegelt seid; eine solche Passage, und dabei diesen China-Mann auf dem Halse, das ist keine Kleinigkeit. Wer ist der Kerl, wie heißt er, wo kommt er her, was will er hier, und was hat er Euch berichtet?«
»Das ist ja eine ganze Schiffsladung von Fragen! Werde sie später beantworten, wenn er oben ist. Wir dürfen ihn nicht warten lassen; er hat den Arm gebrochen und leidet große Schmerzen.«