»Guten Tag, meine Herren! Haben Sie vielleicht vier Ochsenwagen gesehen?«
Alles bisher Gehörte war natürlich englisch gesprochen worden; dieser Damenherr oder diese Herrendame aber bediente sich der deutschen Sprache, deren die Gefragten nicht mächtig waren, weshalb auch keine Antwort erfolgte. Als die Frage in der Tonlage des eingestrichenen d wiederholt wurde, stand Sam Hawkens auf, trat zu dem Pferde hin und antwortete deutsch:
»Sprechen Sie nicht englisch?«
»Nein, nur deutsch.«
»Darf ich erfahren, wer Sie sind?«
Da bekam er eine kleine Terz höher, also im eingestrichenen f, zu hören:
»Ich bin der Herr Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche bei Dresden.«
»Klotzsche bei Dresden? Was der Teufel, da sind Sie wohl ein Sachse?«
»Ja, ein geborener, jetzt aber emeritiert.«
»Und ich auch, obgleich ich mich schon so lange in Amerika befinde, daß ich beinahe vergessen habe, woher ich bin. Sie gehören wohl zu den vier Wagen, Herr Kantor?«
»Ja. Ich bitte aber sehr, recht vollständig zu sein; sagen Sie also lieber, Herr Kantor emeritus! Dann weiß gleich jedermann, daß ich den Orgel- und Kirchendienst quittiert habe, um meine sämtlichen Befähigungen nun ganz allein der harmonischen Göttin der Musik zu widmen, «
Die Aeuglein Sams leuchteten lustig auf, doch meinte er in ernstem Tone:
»Gut, Herr Kantor emeritus, Ihre Wagen sind längst vorüberpassiert, und werden, wie ich vermute, draußen vor dem Dorfe angehalten haben.«
»Wieviel Takte habe ich da noch weiterzureiten?«
»Takte?«
»Hm hm Schritte wollte ich wohl sagen.«
»Das weiß ich ebensowenig, weil ich mich gleichfalls zum erstenmale hier befinde. Erlauben Sie, daß ich Sie führe?«
»Sehr gern, mein werter Herr. Ich bin die Melodie, und Sie machen die Begleitung. Wenn wir unterwegs keine langen Viertelpausen und Fermaten machen, werden wir wohl mit dem Fine bei den Wagen angekommen sein.«
Sam warf seine Liddy über die Schulter, pfiff seiner Mary, welche ihm wie ein folgsamer Hund folgte, nahm das Pferd des seltsamen Emeritus bei dem Zügel und schritt der Richtung nach, welche die Wagen eingehalten hatten. Da erklang die hohe Fistelstimme vom Klepper herab:
»Sie wissen nun, wie ich heiße und wer und was ich bin; darf ich auch Ihren Namen erfahren?«
»Später.«
»Warum nicht jetzt?«
»Weil sich Leute hier befinden, die ihn nicht wissen dürfen; ich werde Ihnen das später erklären.«
»Warum erst später? So eine Ungewißheit ist mir so ziemlich wie eine unaufgelöste Septime oder None. Haben Sie also die Gewogenheit, diesen Dominantseptakkord von A gefälligst nach D-dur oder doch wenigstens nach B-moll herüberzuleiten!«
»Das wäre eine Unvorsichtigkeit, welche nicht nur mich, sondern auch Sie in Schaden bringen kann. Sie befinden sich in Gefahr, Herr Kantor!«
»Bitte, bitte, Kantor emeritus! In Gefahr? Das geht mich nichts an. Für Musensöhne gibt es nur die eine Gefahr, daß ihre Schöpfungen nicht anerkannt werden; ich kann aber hier weder applaudiert noch deploriert werden, weil niemand meine Kompositionen kennt, welche übrigens nur erst in meinem Kopfe, aber noch nicht in Partitur vorhanden sind.«
»Also Sie komponieren?«
»Ja, bei Tag und Nacht.«
»Was?«
»Eine große Oper für drei Theaterabende in zwölf Akten, für jeden Abend vier Akte; wissen Sie, so eine Trilogie wie der Ring der Nibelungen von Richard Wagner, diesesmal aber nicht von ihm sondern von mir, dem Herrn Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche bei Dresden.«
»Können Sie das denn nicht daheim komponieren? Was treibt Sie denn da nach Amerika, noch dazu nach Arizona, dem gefährlichsten Teil des wilden Westens?«
»Wer mich treibt? Der Geist, die Muse, wer denn anders? Der begnadete Musensohn muß den Eingebungen der Göttin folgen.«
»Das verstehe ich nicht. Ich folge keiner Göttin, sondern meinem Verstande.«
»Weil Sie kein Begnadeter sind. Mit Verstand komponiert man keine Oper, sondern mit Generalbaß und Kontrapunkt, wenn nämlich ein passendes Libretto, ein Text vorhanden ist. Und dieser Text, der ist eben die Spannfeder, die mich herübergeschwippst hat nach Amerika.«
»Wieso, Herr Kantor?«
»Bitte wiederholt recht sehr: Kantor emeritus! Es ist wirklich nur der Vollständigkeit halber. Man könnte denken, daß ich noch immer zu Klotzsche bei Dresden die Orgel spielen muß, während ich doch schon seit zwei Jahren einen Nachfolger habe. Meine Oper ist nämlich im Kopfe vollständig fertig; aber es fehlt mir der passende Text dazu. Ich habe mich mit berühmten Dichtern in Verbindung gesetzt, zum Beispiel mit Herrn Zuckerkrach in Wien, der einen sehr schönen Gespensterroman, und mit Herrn von Kuchenbruch in Halle, welcher eine sehr
lebhafte Ode an den Meerbusen von Biscaya geschrieben hat. Sie haben mir unter die Arme gegriffen, aber nicht poetisch genug. Ich will Hexameter komponieren aber keine Jamben. Auch waren sie mir viel zu zart, zu lyrisch, zu butterig weich, denn ich brauche einen kräftigen, einen gigantischen, einen cyklopischen Text, denn meine Oper soll eine Heldenoper werden. Da habe ich mich also selbst nach Helden umsehen müssen, aber leider keine recht geeigneten gefunden. Die Helden von Rottecks Weltgeschichte sind nämlich schon viel zu sehr abgedroschen worden; ich aber will neue, originale Helden, die noch nicht zwischen den Coulissen und Soffitten gestanden haben. Da lebt nun in der Nähe von Dresden zuweilen mein Freund und Gönner Hobblefrank, und der «
»Der Hobblefrank lebt dort? Den kennen Sie?« fiel Sam schnell und überrascht ein.
»Ja. Sie auch?«
»Sehr gut sogar, sehr gut! Weiter, weiter!«
»Und der hat mich auf solche Helden, wie ich sie brauche, aufmerksam gemacht.«
»Wohl auf sich selbst?«
»Auch mit.«
»Auf wen noch, Herr Kantor?«
»Ich ersuche Sie nun schon zum vierten- oder gar zum fünftenmale: Herr Kantor emeritus! Es ist gewiß und wahrhaftig nur der Vollständigkeit wegen. Man könnte sonst denken, ich messe mir ein Amt an, in welchem ich mich nun schon seit zwei Jahren nicht mehr befinde. Also der Hobblefrank, über den wir übrigens noch weiter sprechen werden, hat mich auf solche für mich passende Helden aufmerksam gemacht, zunächst natürlich auf sich selbst und sodann in zweiter Linie auf drei andre Männer, mit denen er früher hier im wilden Westen ganz außerordentliche Thaten verrichtet hat und wahrscheinlich jetzt wieder zusammengetroffen ist.«
»Wer sind diese Leute?«
»Ein Apachenhäuptling, welcher Winnetou heißt und zwei berühmte weiße Prairiejäger, Namens Old Shatterhand und Old Firehand.«
»Good lack! Das sind allerdings die allerberühmtesten Gentlemen, die ich kenne!«
»Wie? Auch Sie kennen dieselben?«
»Und ob! Wer sollte die nicht kennen! Und wer noch nicht das Glück gehabt hat, sie zu sehen, dem ist, mag er sein, wer er will, doch so viel von ihnen erzählt worden, daß er sie beinahe so gut kennt, als ob er mit ihnen beisammengewesen wäre.«
»So könnten auch Sie mir von ihnen erzählen?«
»Will es meinen! Ich, und nichts von ihnen wissen, hihihihi! Ich sage Ihnen, daß Sie von mir so viel über diese Gents hören können, daß Sie zwanzig Opern davon zu komponieren imstande sind. Die Musik dazu müssen Sie sich freilich selber machen.«
»Natürlich, natürlich! Der Hobblefrank hat mir alle Abenteuer erzählt, die er mit den Herren erlebte; kann ich von Ihnen noch Ferneres vernehmen, so ist mir das lieb, weil dadurch mein zu bearbeitender Stoff reicher wird.«
»Sie sollen mehr erfahren, als Sie brauchen. Aber sagten Sie nicht soeben, daß der Hobble jetzt wieder mit ihnen zusammengetroffen sei?«
»Natürlich, natürlich! Der Hobblefrank hat mir alle Abenteuer erzählt, die er mit den Herren erlebte; kann ich von Ihnen noch Ferneres vernehmen, so ist mir das lieb, weil dadurch mein zu bearbeitender Stoff reicher wird.«
»Sie sollen mehr erfahren, als Sie brauchen. Aber sagten Sie nicht soeben, daß der Hobble jetzt wieder mit ihnen zusammengetroffen sei?«
»Ja, so sagte ich; ich vermute es, wenn ich es auch nicht ganz bestimmt behaupten kann. Ich war nämlich einige Tage lang nicht daheim gewesen; als ich nach Hause kam, fand ich einige Zeilen von ihm vor, in denen er mich aufforderte, schleunigst zu ihm zu kommen, falls es noch meine Absicht sei, mit ihm nach Amerika zu gehen, um die betreffenden Helden für meine Oper persönlich kennen zu lernen. Ich suchte ihn natürlich sofort auf, kam jedoch zu spät, denn die Villa Bärenfett, welche er bewohnt, war verschlossen alles zu, kein Mensch da, und vom Nachbar konnte ich nur erfahren, daß der Hobblefrank für längere Zeit verreist sein müsse. Ich habe als ganz selbstverständlich angenommen, daß er nach Amerika ist, und bin ihm nachgereist.«
»Warum aber grad in dieses wilde Arizona hinein? Haben Sie denn Grund, zu glauben, daß er sich in dieser Gegend befindet?«
»Ja. Er sprach nämlich einmal mit mir über die ungeheuern Gold- und Silberreichtümer von Arizona und Nevada und erwähnte dabei, daß er sofort dorthin aufbrechen werde, sobald er erfahre, daß einer seiner früheren Gefährten sich dorthin wenden wolle. Er steht nämlich mit ihnen im Briefwechsel. Da er nun so plötzlich und ohne auf mich zu warten abgereist ist, vermute ich, daß er von einem Freunde, wahrscheinlich von Old Shatterhand, eine solche Nachricht empfangen hat.«
»Und daraufhin, also nur daraufhin, haben Sie diese weite Reise gemacht?«
»Ja, ich bin sicher, ihn hier zu treffen.«
»Heigh-ho! Für diese Sicherheit gebe ich Ihnen nicht einen Pfennig. Meinen Sie denn, man treffe sich hier hüben so leicht, wie man sich drüben in der Heimat so zwischen Klotzsche und Zitzschewig findet?«
»Warum nicht? Land ist Land, gleichviel, ob es Sachsen oder Arizona heißt. Warum soll man sich in dem einen schwerer begegnen als in dem andern?«
»Welche Frage! Erstens handelt es sich darum, daß Arizona und Nevada je zwanzigmal größer sind als Sachsen und dann kommen auch die Verhältnisse in Betracht. Haben Sie eine Ahnung davon, wie viele und welche Indianerstämme hier wohnen?«
»Die gehen mich doch nichts an!«
»Kennen Sie die Unwegsamkeit des Landes, die wilden Schluchten und Canons, die Oede der Bergregion, die Trostlosigkeit der Wüsten, besonders derjenigen, welche zwischen Kalifornien, Nevada und Arizona liegt?«
»Geht mich auch nichts an!«
»Verstehen Sie die Sprachen der Indianer, der hiesigen Weißen?«
»Brauche ich nicht! Meine Sprache ist die Musik.«
»Aber der wilde Indianer wird ganz und gar nicht musikalisch mit Ihnen sprechen und verfahren! Wie es scheint, wissen Sie gar nicht, welchen Gefahren Sie sich aussetzen, wenn Sie den Hobblefrank aufsuchen wollen.«
»Gefahren? Ich habe Ihnen bereits gesagt, wie ich darüber denke. Ein Jünger der Kunst, ein Sohn der Musen hat keine Gefahren zu fürchten. Er steht so hoch über dem gewöhnlichen Leben wie die Violine über dem Rumpelbasse; er lebt und atmet den Aether himmlischer Akkorde und hat mit irdischen Dissonanzen nichts zu schaffen.«
»Well! So lassen Sie sich einmal von einem Indsman den Skalp über die Ohren ziehen, und sagen Sie mir dann, welche himmlischen Akkorde Sie dabei vernommen haben! Hier zu Lande gibt es nur eine Musik, und das ist diese hier.«
Er schlug bei diesen Worten mit der Hand an sein Gewehr und fuhr dann fort:
»Dieses musikalische Instrument gibt die Töne an, nach denen in Arizona und Nevada getanzt wird, und «
»Getanzt Pfui!« unterbrach ihn der Kantor. »Wer hat vom Tanzen gesprochen, oder wer wird überhaupt davon sprechen! Ein Künstler niemals! Das Tanzen ist eine hastige und immerwährende Veränderung des festen Standpunktes, durch welche man in unästhetischen Schweiß gerät.«
»Dann will ich wünschen, daß Sie hier nicht in die Lage kommen, ganz gegen Ihren künstlerischen Willen den Schwerpunkt und mit ihm noch einiges andre, vielleicht gar das Leben zu verlieren. Leider steht schon jetzt zu befürchten, daß Sie sehr bald gezwungen sein werden, einen Hopser zu tanzen, bei welchem es wohl kaum ohne Schweiß abgehen wird.«
»Ich? Fällt mir nicht ein!«
»Oho! Sie müssen!«
»Wer wollte oder könnte mich zwingen?«
»Die Herren, welche da hinter uns vor der Schnapsschenke saßen.«
»Wieso?«
»Das werde ich Ihnen später erklären.«
»Warum nicht jetzt?«
»Weil ich es andern auch noch sagen muß und ein Ding nicht gern zweimal thue, wenn es nicht nötig ist, und weil wir jetzt da angekommen sind, wohin wir wollten, wenn ich mich nicht irre.«
Sie hatten das Dorf verlassen und befanden sich nun hinter demselben an der Straße, welche nach der Hauptstadt führt. Während dieses ganzen Weges und Gespräches hatte der Kantor seine eigentümlichen Pendelbewegungen auf dem Pferde fortgesetzt. Bald den Oberkörper nach vorn, bald nach hinten biegend, hatte er die Beine und Füße mit den Bügeln in die entgegengesetzte Richtung geschoben, was dem kleinen Sam Hawkens, wie sein lustiges Augenblinzeln zeigte, nicht wenig Spaß zu machen schien. Jetzt sahen sie die vier großen, schweren Auswandererwagen vor sich stehen. Die Insassen derselben waren ausgestiegen und hatten die Ochsen ausgespannt, welche das nicht allzu reich sprossende Gras abweideten.
Die Wagen waren in der Weise aufgefahren, daß sie eng neben einander standen, mit den Deichseln alle nach einer Seite, nach Süden gerichtet, ein großer Fehler in jener Gegend, wo es der Indianer und des herumvagierenden weißen Gesindels wegen stets geraten ist, eine sogenannte Wagenburg zu bilden. Die Insassen waren ausgestiegen und bewegten sich in geschäftiger Weise auf dem Platze umher. Zwei Frauen suchten nach dornigem Akaziengestrüpp, dem einzigen Holze, das es hier zu einem Feuer gab; zwei andre hantierten mit Töpfen, in denen das Essen gekocht werden sollte; einige Kinder halfen dabei. Zwei Männer schafften in Eimern Wasser herbei; ein dritter untersuchte die Wagenräder; diese drei waren noch ziemlich jung. Ein vierter, welcher gewiß die Fünfzig überschritten hatte, aber noch bei vollen Manneskräften und sehr robust und stark gebaut war, stand inmitten dieses Treibens, um dasselbe zu bewachen und von Zeit zu Zeit mit heller Stimme und in kurzen Worten einen Befehl auszusprechen. Er schien also der Anführer dieser Auswanderer zu sein. Als er die beiden Ankömmlinge bemerkte, rief er dem einen derselben entgegen.
»Wo bleiben Sie denn nun wieder einmal, Herr Kantor? Man ist in steter Sorge um Sie und «
»Bitte, bitte, Herr Schmidt,« unterbrach ihn der Angeredete; »Herr Kantor emeritus, wie ich Ihnen schon hundertmal gesagt habe. Es ist wahrhaftig nur der Vollständigkeit wegen und weil ich mir kein Amt anmaßen darf, welches ich nicht mehr bekleide.«
Dabei hielt er sein Pferd an und stieg von demselben herunter, aber wie! Er nahm erst das rechte Bein empor, um links herunter zu kommen; das schien ihm aber zu gefährlich zu sein; darum zog er nun den linken Fuß aus dem Bügel, um zu versuchen, rechts auf die Erde zu kommen, was für ihn aber wahrscheinlich ebenso bedenklich war. Darum stemmte er beide Hände auf den Sattelknopf, lüpfte sich empor und schob sich nach hinten, so daß er auf die Kruppe des Pferdes zu sitzen kam. Von da aus retirierte er langsam immer weiter rückwärts und rutschte endlich beim Schwanze herunter. Das Tier war lammfromm und ermüdet und ließ diese sehr seltsame und lächerliche Prozedur ruhig vor sich gehen. Die Emigranten hatten diesem »Abrutsche« schon sehr oft beigewohnt, weshalb er auf sie keinen Eindruck machte; dem guten Sam Hawkens aber war so etwas noch nicht vorgekommen, und so mußte er sich große Mühe geben, nicht laut aufzulachen.